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Neue Freie Presse
Morgenblatt
No. 963. Wien, Dienstag den 7. Mai 1867

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Musikalische Briefe aus Paris. I.

Die musikalische Jury.


0003Paris, 4. Mai.
0004Ed. H. Es war in den ersten Nachmittagsstunden, den
0005belebtesten und elegantesten der Ausstellung, als jüngst aus
0006einem Seitengang der französischen Bildergalerie ein rasender
0007Trommelwirbel erscholl und die Besucher des Ausstellungs-
0008palastes weithin in Aufregung versetzte. Mit dem Rufe: „Was
0009ist geschehen? Was bedeutet das?“ stürzten die Massen dem
0010Trommelschall entgegen, nach der etwas versteckt liegenden
0011Seitengalerie. Hier sahen sich die erregten Gemüther plötzlich
0012durch zwei ausgespannte Stricke und zwei aufrechte Sergents
0013de Ville von einer kleinen Herrengesellschaft abgetrennt,
0014welche, die Trommler vor sich und die Notizbücher zur Hand,
0015ruhig um ein Tischchen herumsaß. Es war unsere musika-
0016lische Jury, vor welcher Trommel-Erfinder und Trommel-
0017Verbesserer ihre rasselnden Instrumente producirten. Das
0018Publicum aber stand erstaunt dahinter und mochte entnehmen,
0019wie der Kampf um eine Bronce-Medaille den Tambour ge-
0020nau so heftig begeistern kann, wie der Sturmlauf gegen eine
0021Festung. Es war ohne Zweifel der populärste Moment in
0022dem öffentlichen Lebenslauf unserer Jury. Allerdings hatten
0023wir einiges Aufsehen und viele Theilnahme schon an den
0024vorhergehenden Tagen erregt, wo uns jedesmal von 10 bis
00254 Uhr nur Blech-Instrumente vorgeblasen wurden. Man
0026wollte bemerken, daß damals die Jury-Mitglieder noch lange
0027nach Schluß der Sitzung auffallend laut sprachen; die Po-
0028saunen hatten Jedem von uns eine leichte Taubheit als An-
0029denken hinterlassen. Die Tage der Violinen und Guitarren
0030trugen einen milderen, gebildeteren Charakter, welcher in der
0031folgenden Periode der Flöten und Clarinetten sogar einen Zug
0032ländlicher Zufriedenheit und Lebensweisheit annahm. Na-
0033menlose Wehmuth bemächtigte sich hingegen unseres Kreises
0034nach Anhörung von 40 bis 50 Harmoniums; die Gefühlvolle-
0035ren von uns zerdrückten beim Abschied eine Thräne im Auge,
0036die Anderen ballten krampfhaft die Faust in der Tasche. Es
0037war vielleicht der schlimmste Tag.


0038Kehren wir für einen Augenblick an das grüne Tischchen 
0039zurück, zu welchem uns die rebellischen Trommeln gelockt,
0040und betrachten uns die Persönlichkeiten der Jury. Als Präsi-
0041dent fungirt der Senator und General der Nationalgarde,
0042Mellinet. Ein wahrer Charakterkopf, dieser 64jährige Hau-
0043degen mit dem Jugendfeuer in Blick und Bewegung, das der
0044grauen Haare wie der tiefen Narben zu spotten scheint, die
0045sein Gesicht entstellen.


0046Der hitzige General, der bei Magenta sich mit 3000
0047Mann stundenlang gegen den drei- bis vierfach überlegenen
0048Feind behauptete und noch keinen Schritt wich, als ihm be-
0049reits zwei Pferde unter dem Leibe erschossen waren, er ist im
0050Umgang die Herzlichkeit, Güte und Bescheidenheit selbst. Vom
0051Kriegerstand hat er im Frieden nur die Geradheit und Energie
0052beibehalten, nichts von jenem Uniformdünkel, der in anderen
0053Staaten eine so empfindliche Scheidewand zwischen Militär
0054und Civil aufrichtet. „Dites Général!“ unterbrach Mellinet 
0055einige der Aussteller, welche ihn mit dem (ihm gebührenden)
0056Titel „Excellenz“ ansprachen. Was den General, der seinen
0057musikalischen Dilettantismus offen eingesteht, in die Jury
0058brachte, sind seine großen Verdienste um die Organisirung der
0059französischen Militärmusik; seine Wahl zum Vorsitzenden war
0060vom Anfang her mit Rücksicht auf seinen hohen Rang und
0061sein großes persönliches Ansehen beschlossen — wir hatten sie
0062nie zu bereuen.


0063Einen eigenthümlichen Gegensatz zu dem hageren, unge-
0064stümen General bildet die untersetzte, behaglich gerundete Figur
0065und das fröhlich lächelnde Antlitz des Dr. George Kast-
0066ner
, Mitglied des Institutes und zahlloser gelehrter Gesell-
0067schaften. Straßburger von Geburt, hat Kastner in seiner
0068Jugend auf deutschen Universitäten studirt und promovirt.
0069Deutscher von Aussehen, Bildung und Temperament (er
0070schwäbelt das Deutsche ganz reizend), ist Kastner doch in
0071Deutschland viel weniger gekannt und gewürdigt als hier.
0072Riesiger Fleiß, unterstützt durch eine glückliche Unabhängigkeit,
0073haben Kastner in Stand gesetzt, von Jugend auf ganz seinen
0074Studien zu leben und eine große Zahl sehr umfangreicher
0075Werke zu schreiben. Die Seltsamkeit der gewählten Stoffe
0076und der darin aufgethürmte Wust archäologischer und philo-
0077logischer Gelehrsamkeit mögen deren Verbreitung etwas be-
0078einträchtigt haben. In einem starken Quartband z. B. han-
0079delt Kastner von den sagenhaften „Sirenen“, in einem an-
0080deren von den „Aeolsharfen“ und bringt Alles bei, was
0081irgendwann und irgendwo über diese Gegenstände gesagt und ge-
0082schrieben worden. In seinen „Voix de Paris“ notirt er die
0083Ausrufe aller Arten Verkäufer, vom Mittelalter bis auf heute.
0084Ein Werk über die Militärmusik geht bis auf die Egypter,
0085Römer und Griechen zurück, ohne deßhalb irgend eine der
0086modernsten Einrichtungen zu vergessen. Obwol vorzugsweise
0087Polyhistor und musikalischer Archäolog, ist Kastner doch keines-
0088wegs der praktischen Seite der Tonkunst ferngeblieben. Als
0089Componist und ausübender Künstler früher sehr thätig, hat
0090Kastner obendrein für jedes existirende Orchester-Instrument
0091eine Schule (Methode) geschrieben, sogar für die Pauken!
0092Dies allein stempelt den Mann zum gelehrten Original; wer
0093ihn näher kennt, weiß überdies, daß dies Original nebst den
0094erstaunlichsten Kenntnissen auch das redlichste, wohlwollendste,
0095uneigennützigste Herz besitzt.


0096Die Künstlernatur par excellence ist in unserer Jury
0097durch den Componisten Ambroise Thomas vertreten.
0098Eine poetische, nervöse Natur, meist ernst und schweigsam,
0099leicht gereizt, schnell ermüdet, kein Freund der Geselligkeit und
0100Feind der Complimente, ist Thomas keineswegs, was man
0101im Salon einen vorzüglichen Gesellschafter heißt. Mit Un-
0102recht nennen ihn Manche einen Misanthropen, ihn, „der sich
0103ohne Groll vor der Welt verschließt“, nur seiner Kunst und
0104wenigen Freunden lebend. Sein hageres, ausdrucksvolles Ge-
0105sicht, von grauem Haar und Bart kräftig umrahmt, erzählt
0106von überstandenem Leid und Kämpfen, es erzählt auch von
0107einem liebebedürftigen und liebenswerthen Herzen, das nicht
0108geschaffen war, einsam und hagestolz zu vergrämen. Ambroise
0109Thomas
, längst ein Lieblingscomponist seiner Nation, hat eben
0110seinen größten Succeß mit seiner neuesten Oper „Mignon“ er-
0111rungen. Dies höchst anmuthige Werk, von dem ich Ihnen
0112nächstens mehr erzähle, wurde bereits gegen achtzigmal nach-
0113einander gegeben, ohne daß der Andrang des Publicums nach-
0114läßt. Von dieser „Mignon“ hörte ich Thomas während der
0115vier Wochen unseres täglichen Verkehrs ebensowenig die leiseste
0116Erwähnung machen, als von irgend einem anderen seiner
0117Werke. Wie sehr unterscheidet sich diese wahre Bescheidenheit
0118von ihrer Stiefschwester, jener unter Künstlern und Gelehrten
0119zumeist cultivirten eitlen Bescheidenheit!


0120Den größten Einfluß in der Jury hat Fétis, der ge[2]-
0121lehrte Musikhistoriker aus Brüssel. Man kennt die zahlreichen
0122Arbeiten dieses nun 84 Jahre alten Professors; er is da-
0123mit noch nicht am Ende. Eine „Geschichte der Musik“ in
0124sechs Bänden ist unter der Presse, Anderes in Vorbereitung.
0125Das hohe Alter und gelehrte Ansehen des vielerfahrenen,
0126mitunter etwas eigensinnigen Mannes erklären das Ueberge-
0127wicht, das die übrigen Jurors, die französischen namentlich,
0128ihm in den Berathungen zugestehen.


0129Noch zwei Preisrichter, von Würtemberg und von Eng-
0130land gesendet, habe ich zu nennen. Der eine, J. P. Schied-
0131mayer
, der intelligente, vielgereiste Chef einer trefflichen
0132Harmonium-Fabrik in Stuttgart, fühlte sich als Süddeutscher
0133augenblicklich zu Oesterreich hingezogen, wie ja gleicher-
0134maßen der Oesterreicher überall, wo es Cultur-Interessen
0135gilt, und unter Fremden noch mehr als daheim, sich als
0136Deutscher fühlt. So gingen denn Schiedmayer und ich
0137fast in allen Vorschlägen und Abstimmungen Hand in Hand,
0138und im Interesse unserer Industriellen habe ich alle Ursache,
0139der Unterstützung Herrn Schiedmayer’s dankbar zu gedenken.
0140Der englische Juror war Lord Fitzgerald, ein reicher, pas-
0141sionirter Dilettant, dem wir eine bescheidene und friedfertige
0142Passivität nachrühmen müssen. Zum „Associé“ der Jury
0143war anfangs blos Herr August Wolff ernannt, Chef der
0144berühmten Pianofabrik Pleyel, Wolff und Comp. in Paris;
0145später, mitunter sogar ganz am Schlusse der Jury-Arbeiten,
0146erwirkten noch mehrere der ersten Pariser Fabrikanten das
0147Decret als Associés, mehr aus äußerlichen Gründen (um
0148hors du concours zu sein), als in der Absicht, mitzuarbei-
0149ten. August Wolff hingegen, ein Mann von gediegener allge-
0150meiner wie musikalischer Bildung und feinsten Umgangsfor-
0151men, wurde durch seine Fachkenntniß und unermüdliche Thä-
0152tigkeit eine wahre Perle für die Jury. — Eine Revue der
0153ausgestellten Musik-Instrumente muß ich mir für den näch-
0154sten Brief vorbehalten. Wenn ich in der Schilderung meiner
0155Collegen etwas redselig geworden bin, halten Sie mir es
0156zugute! War es ja der künstlerische Verkehr und das tägliche
0157Zusammenarbeiten mit diesen Männern, was mich für alle
0158Leiden meiner gehörmörderischen Mission reich entschädigt hat.


0159Nachschrift. Die Jury der 10. Classe (musikalische
0160Instrumente) hat ihren Vorschlag ausgearbeitet und wird
0161ihn demnächst der zweiten und dritten Instanz (Gruppenjury
0162und Conseil) übergeben, welchen die letzte Entscheidung darüber
0163zusteht.


0164Für österreichische Aussteller ist beantragt:


0165A. Die silberne Medaille:
01661. für Claviere: Streicher, Ehrbar, Bösendor-
0167fer
in Wien;
01682. für Violinen: Lemböck in Wien;
01693. für Blas-Instrumente: Cerveny in Königgrätz,
0170Bock und Ziegler in Wien.


0171B. Die Bronce-Medaille:
01721. für Claviere: Schweighofer*), Promberger,
0176Blümel (Wien) und Beregshazy (Pest);
01772. für Violinen, Zithern und Guitarren: Bittner 
0178(Wien);
01793. für Zithern: Kiendl (Wien);
01804. für Blas-Instrumente: Tomschik (Brünn), Laus-
0181mann
(Linz), Bohland (Graslitz).


0182C. Die ehrenvolle Erwähnung:
01831. für Claviere: Cramer, Simon (Wien);
01842. für Blas-Instrumente: Farsky (Böhmen);
01853. für Orgel: Hesse (Wien);
01864. für Zithern: Weigel (Salzburg).


0187Goldene Medaillen fallen nach dem Reglement auf die
0188ganze (500 Aussteller enthaltende) Classe 10 nur zwei, höch-
0189stens drei Stück. Es war unmöglich, eine davon für Oester-
0190reich zu gewinnen; ein hierauf zielender Antrag wurde mit
0191allen Stimmen gegen Eine abgelehnt. Ueber den Vorschlag
0192für diese wenigen Goldmedaillen hat die Jury sich noch nicht
0193definitiv geeinigt; wahrscheinlich werden die Claviermacher
0194Broadwood in London, Steinway in Newyork und die
0195Orgelbauer Merklin und Schütze in Paris damit be-
0196theilt.

Fußnoten
  • *)Schweighofer, anfangs für die silberne Medaille notirt,
    wurde in Folge einer nothwendigen Reduction nebst mehreren an-
    deren Fabrikanten in die Bronce-Medaillen eingereiht.