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Neue Freie Presse
Morgenblatt
No. 1179. Wien, Mittwoch den 11. December 1867

[1]

Musik.

(Philharmonisches Concert. — Quartett von Joachim. — Concerte von Rubinstein und Fräulein Joёl. — „Don Juan“. — „Lucia“. — EngelsbergʼsItalieni-sches Liederspiel“.)


0005Ed. H. Volkmannʼs neue B-dur-Symphonie, das
0006Eröffnungsstück des dritten Philharmonie-Concertes, klingt wie
0007eine Art musikalischer Ausgleich zwischen Deutschland und Un-
0008garn. Der in Sachsen geborene Componist verleugnet ebenso-
0009wenig sein deutsches Vaterland (oder gar die engere Lands-
0010mannschaft Schumannʼs), als die magyarische Luft, die er
0011seit einigen Jahren auf seiner steilen Residenz in Ofen ein-
0012athmet. Mit der größeren Verbreitung und Würdigung von
0013Franz Schubertʼs Instrumental-Compositionen hat sich auch
0014dessen Vorliebe für ungarische National-Melodien verbreitet
0015und jüngeren Componisten eingeprägt. Wir besitzen ein gan-
0016zes „Ungarisches Concert“ von Joachim, symphonische und
0017Kammermusiken von Liszt, Volkmann, Brahms, Her-
0018beck
und Anderen, worin magyarische Rhythmen und Melodien
0019mit Entschiedenheit auftreten. Auch Robert Volkmannʼs 
0020B-dur-Symphonie (Nr. II, op. 35) ist von ungarischen Mo-
0021tiven durchzogen. Glücklicherweise hat der Componist von die-
0022sen exotischen Reizen keinen den Symphonie-Styl compromit-
0023tirenden Gebrauch gemacht, er bleibt überall gemäßigt, ernst
0024und deutscher Form getreu. Am meisten verräth das ener-
0025gische Thema des ersten Satzes (fünfactige Periode) ungarisches
0026Blut; mit sanften, deutschen blauen Augen stellt sich das
0027zweite Thema besänftigend dagegen. Es mahnt an Schu-
0028mann
, wie mancher Zug im Verlauf der Symphonie.
0029Was man dem ersteren Satz, ja mehr oder minder
0030der ganzen Symphonie wünschen möchte, ist eine größere
0031rhythmische Abwechslung. Diese ungarischen Synkopen haben die
0032Eigenthümlichkeit, einen mit ihnen anbindenden Componisten
0033nicht so bald wieder loszulassen. Volkmann hat mit vorneh-
0034mer Zurückhaltung in der ganzen Symphonie keine Posaunen
0035verwendet; im ersten Satz vermißt man ihre dröhnende Kraft.
0036Machte der erste Satz auf die Versammlung keinen tieferen
0037Eindruck, so gefiel desto mehr der zweite: ein Allegretto von
0038gleichmäßiger graziöser Bewegung, mit einem Stich ins Pikante.
0039Das folgende Andantino im Sechsachteltact beginnt wieder
0040volksthümlich mit einem ärmlichen, klagenden Gesang der Oboe 
0041über monoton pizzikirten G-moll-Dreiklängen. Das Bild eines
0042auf seinem Schilfrohr blasenden, einsamen Pusztahirten stellt
0043sich hier von selbst ein. Das Motiv wiederholt sich gegen den
0044Schluß immer öfter und schneller, im Unisono aller Streich-
0045instrumente anschwellend, bis es kopfüber in das Finale stürzt.
0046Dieses in punktirten Achtelnoten wie ein lustiges Bergwasser
0047herabrieselnde Allegro könnte „Tarantella“ überschrieben sein,
0048ließe nicht das Seitenmotiv mit seinem an den schlechten Tact-
0049theil sich klammernden Accenten das Magyarenthum so ent-
0050schieden durchleuchten. Der Satz ist effectvoll; für eine Sym-
0051phonie in abstracto mag seine Sprache etwas befremdend
0052klingen, zu dem Styl der Volkmannʼschen paßt sie vortreff-
0053lich. Die Symphonie fand lebhaften Beifall und ver-
0054dient ihn durch ihre anziehende Eigenart, ihren resolu-
0055ten Ton und ihre von erfahrener Meisterschaft zeugende
0056Arbeit. Epigonenwerk ist auch sie, wie so vieles Andere,
0057was unsere Zeit nicht entbehren kann und auch nicht entbeh-
0058ren möchte. Volkmannʼs Novität wurde unter Herrn Des-
0059soffʼs
Leitung sorgfältig und liebevoll ausgeführt, desgleichen
0060die bekannte Haydnʼsche D-dur-Symphonie am Schlusse des
0061Concertes. Zwischen den beiden Symphonien stand ein Not-
0062turno von Käßmayer und Schubertʼs Ouvertüre zu „Al-
0063phons und Estrella“, welche nicht die Frische, wol aber den
0064gewohnten Reichthum des Tondichters vermissen läßt und noch
0065Manches von dem Salieriʼschen Theaterpathos an sich trägt.
0066Käßmayerʼs Composition ist kein „Notturno“ in der älteren
0067Bedeutung dieser Form, welche (eine Nachfolgerin der alten
0068„Cassationen“) sechs bis acht Sätze aneinanderreihte und noch
0069von Spohr und Hummel mit Vorliebe gepflegt war. Unser
0070Componist gibt unter der Bezeichnung „Notturno“ ein sehr
0071stimmungsvolles Andante von gefälliger, wenngleich nicht her-
0072vorragend origineller Erfindung, zu schöner Form abgerundet
0073und mit großer Wirkung instrumentirt. Die Novität wurde
0074durch lebhaften Beifall und wiederholten Hervorruf des Com-
0075ponisten ausgezeichnet. Sollten wir diesen Anlaß ungenützt las-
0076sen, an Käßmayerʼs komische Oper: „Das Landhaus“ zu
0077erinnern? Ihre günstigen Erfolge außerhalb Wiens dürften
0078ihr doch endlich auch den Weg zum Kärntnerthor-Theater ebnen.


0079Vor einem dichtgedrängten und enthusiastischen Publicum
0080gab Herr Anton Rubinstein sein viertes Concert im
0081Musikvereinssaal. Er spielte nicht weniger als 18 Stücke, eine
0082luxuriöse Bewirthung, welche gleichmäßig das Gedächtniß, die 
0083Vielseitigkeit und die von uns so oft gerühmte Bravour des
0084gefeierten Virtuosen bewundern ließ. Künstlerisch vollendet und
0085durchgeistigt erschien uns zumeist sein Vortrag des A-moll-
0086Rondo von Mozart, der beiden „Moments musicales“ von
0087Schubert und der Variationen aus Beethovenʼs E-dur-
0088Sonate (op. 109). Dazwischen unterliefen einige Stücke, deren
0089Tempo Rubinstein in unbegreiflicher Weise übereilte. Kaum
0090vermochte das Ohr dem Prestissimo folgen, in welchem
0091WeberʼsMomento capriccioso“, Mendelssohnʼs 
0092Scherzo und Schubertʼs A-moll-Walzer (aus den „Soirées
0093de Vienne“) vorüberstoben. Fast schien es Rubinstein auf ein
0094Experiment abzusehen, wie man die Hörer schwindlig macht,
0095ohne es selbst zu werden. Ein solcher Vortrag dieser anmuthi-
0096gen Tondichtungen ist nur einer ebenso schonungslosen wie er-
0097staunlichen Virtuosität möglich. Glücklicherweise folgten darauf
0098wieder Productionen, die auch durch edleren Gehalt befriedigten
0099und erfreuten.


0100Eindrücke reinster Schönheit verdanken wir Joachimʼs 
0101zweiter Quartett-Production, in welcher Quartette von Haydn,
0102Schumann und Beethoven zur Aufführung gelangten. Es
0103ist nicht lange her, daß berühmte Violin-Virtuosen ihren Ruhm
0104auch im Quartettspiel suchen. In der höchsten Blüthenzeit der
0105reisenden Virtuosen hielten es diese meistens unter ihrer Würde,
0106im Quartett aufzutreten, dessen unscheinbare Lorbeern man
0107Dilettanten oder Musikern von geringerer Bravour und Be-
0108rühmtheit überließ. Von Paganini weiß man ebensowenig,
0109ob er je ein Quartett gespielt habe, als von seinen großen
0110italienischen Vorgängern. In Wien war der anerkannte Ver-
0111treter des Quartettspieles der als Solospieler mittelmäßige
0112Schuppanzigh, während die als eigentliche Virtuosen ge-
0113feierten Clement, Mayseder etc. öffentlich nicht im Quar-
0114tett auftraten. Böhm, nach beiden Richtungen vorzüglich, bil-
0115dete kurze Zeit hindurch eine Ausnahme. In Deutschland ha-
0116ben wol Spohr und Lipinsky unter den weltberühmten
0117Virtuosen zuerst als Verehrer und Förderer des Quartettspie-
0118les geglänzt und dafür den mächtigsten Anstoß gegeben. Die
0119Ernüchterung nach dem Virtuosenrausch und die sich allmälig
0120ausbreitende Macht der späteren Beethovenʼschen Kammer-
0121musik kam dem Quartettspiele zugute und gewann ihm auch
0122den Ehrgeiz großer, durch ihr Solospiel berühmter Virtuosen.
0123Insbesondere einem Charakter wie Joachim mußte die
0124vollendete Interpretation classischer Quartette werthvoll und [2]
0125lohnend erscheinen. Der treu und tief eindringende Geist, mit
0126welchem Joachim jeden Tondichter in seinem eigenthümlichen
0127Styl wiedergibt, ist bewunderungswerth. Wie liebenswürdig
0128und schalkhaft gemüthlich spielte er Haydnʼs C-dur-Quartett,
0129mit welch großem tragischen Pathos das F-moll-Quartett 
0130von Beethoven! Eine Welt liegt dazwischen. Dabei nichts
0131von jener koketten Schönmacherei und Zimperei, womit
0132Haydnʼsche Quartette so häufig aufgeputzt werden, ebensowenig
0133ein Uebertreiben des Tempos oder virtuoses Vordrängen in
0134den raschen Sätzen von Beethoven. Der künstlerische Ein-
0135fluß eines Primgeigers wie Joachim auf seine Mitspieler
0136ist sehr bedeutend. Die Herren Käßmayer, Hilbert und
0137Röver schienen uns männlicher, wärmer einzugreifen als je
0138zuvor. Dazu kommt noch die schöne Gleichmäßigkeit und Klang-
0139fülle der Instrumente: die beiden Violinen von Straduarius,
0140Viola und Cello von Maggini stimmen köstlich zusammen.


0141Ein Concert der Pianistin Fräulein Gabriele Joёl 
0142konnten wir ob des gleichzeitigen Auftretens von Roger nicht
0143besuchen. Man berichtet uns, daß die bereits sehr beliebte,
0144talentvolle Künstlerin vor einem zahlreichen Publicum und mit
0145schmeichelhaftestem Erfolge concertirte. Auch die Versäumniß
0146der letzten „Don Juan“-Vorstellung im Hofoperntheater
0147macht uns nachträglich recht unglücklich, da, einem hiesigen
0148Blatte zufolge, eine ganz neue, bisher unbekannte Arie Don
0149Ottavioʼs
zum erstenmal vorgekommen sein muß. Der
0150Musikreferent des Blattes beschreibt nämlich, wie Herr Wal-
0151ter
als Don Ottavio „die große Arie des ersten Actes“,
0152dann wie er die „Buchbinder-Arie im zweiten Acte“ gesun-
0153gen habe, und schließt mit dem Bedauern, daß „die B-dur-
0154Arie wie immer ausgeblieben“ sei. Also richtig drei Arien
0155Don Ottavioʼs!


0156Das Theater an der Wien hatte wieder einmal einen
0157ernsthaften Opernanfall: „Lucia von Lammermoor“. Roger,
0158der berühmte französische Tenor, sang den Edgar. Da man
0159vollkommen sicher sein konnte, in dieser plötzlich zusammenge-
0160wehten Aufführung keine Lucia wie Fräulein Murska und
0161keinen Asthon wie Beck zu finden, da die Nebenrollen, die
0162Chöre und das Orchester sehr Geringes versprachen und dies
0163Versprechen auch treulich hielten, so ruhte natürlich das In-
0164teresse und der Erfolg ganz auf den Schultern Rogerʼs.
0165Derlei ungleiche, halb improvisirte Vorstellungen gänzlich ab-
0166gespielter Opern haben stets etwas Mißliches, und die Direc-
0167tion würde dem Publicum einen weit größeren Genuß ver-
0168schafft haben, wenn sie Herrn Roger in einigen französischen
0169Spiel-Opern vorgeführt hätte, wie dies im Harmonie-Theater
0170der Fall war. Man hat von jeher und mit Recht Roger 
0171in der komischen Oper noch höher geschätzt, als in der Tra-
0172gödie. Demungeachtet erinnern wir uns von Rogerʼs erstem
0173Gastspiel her (1858) seines Edgar als eines Meisterstückes in
0174Spiel und Gesang, dessen außerordentlichen Eindruck wir nie
0175vergessen werden. Seither hat die Zeit das Instrument des Sän-
0176gers mit scharfem und geschäftigem Zahn benagt, ein bedauerlicher
0177Unglücksfall verstümmelte überdies das Hauptinstrument des
0178Darstellers, den rechten Arm. Es ist bewunderungswürdig
0179mit welcher Kunst und Geschicklichkeit Roger sich mit beiden
0180behilft, das Publicum noch immer mit einer Gewalt hin-
0181reißend, um die unsere jüngsten und stärksten Tenoristen den
018253jährigen Mann beneiden müssen. Man wird der geistvollen
0183und lebendigen Darstellung Rogerʼs von einem Ende bis
0184zum anderen mit gespanntem Interesse folgen und von ein-
0185zelnen Momenten wahrhaft ergriffen werden. Daß Roger 
0186den eingebüßten Schmelz seiner Stimme durch ein stärkeres
0187Forciren derselben zu ersetzen trachtet, auch Spiel und Decla-
0188mation zu einer größeren, raffinirteren Mithilfe aufbietet, als
0189in früheren Jahren, wird Niemanden überrascht haben. In
0190der Kunst der Darstellung, namentlich im effectvollen Detail
0191dürfte es kaum ein Sänger weiter gebracht haben. Darum
0192wüßten wir für junge Opernsänger (und auch für alte, die
0193noch lernfähig) kein fruchtbareres Studium als Roger; sie
0194sollten keine Vorstellung des berühmten Künstlers versäumen.
0195Ueberhaupt möge, wer Roger etwa noch nicht gehört, diese
0196Gelegenheit wahrnehmen, eine der merkwürdigsten und
0197anziehendsten Bekanntschaften nachzutragen. Ob diejenigen,
0198welche die Erinnerung an den ehemaligen Roger 
0199als ein theures geistiges Besitzthum hegen, dasselbe nicht viel-
0200leicht in Gefahr bringen, wagen wir nicht zu entscheiden. Das
0201ist eine sehr individuelle Sache. Jedenfalls war das Publicum
0202der „Lucia“-Vorstellung von Roger entzückt; wir erinnern
0203uns kaum eines solchen Beifallssturmes und so unersättlichen
0204Hervorrufens. Von den übrigen Mitwirkenden konnte nur
0205Herr Robinson (Asthon) sich neben Roger mit Ehren
0206sehen lassen. Die kräftige, nur allzusehr sich im Fortissimo
0207gefallende Stimme, sowie der effectvolle Vortrag dieses talent-
0208vollen Sängers fanden lebhaften Beifall. An der Darstellerin 
0209der Lucia, Frau Balasz-Bognár, haben wir Alles gelobt,
0210wenn wir ihre kräftige und umfangreiche Stimme loben. Ihre
0211Technik ist durchaus naturalistisch, Spiel und Vortrag geist-
0212los, die Aussprache schauderhaft. Sie wurde übrigens sehr
0213oft applaudirt und gerufen. Das Publicum hatte überhaupt
0214ein solches Beifallsfieber, daß selbst die bedenklichen Leistungen
0215des weisen Erziehers und des unglücklichen Bräutigams nicht
0216leer ausgingen.


0217Einige nachträgliche Worte über die Festliedertafel des
0218Akademischen Gesangvereins sind wir dem Leser,
0219wie dem „Italienischen Liederspiel“ von Engelsberg schuldig,
0220welches den Mittelpunkt und die Krone der Gesangs-Produc-
0221tionen bildete. So groß das Publicum und so groß der Bei-
0222fall war, wir möchten diese Aufführung im Sophiensaale mit
0223unvermeidlicher Begleitung von Gläser- und Tellergeklapper,
0224sammt Frage- und Antwortspiel der Kellner nur für eine
0225Generalprobe zu einer wirklichen Concert-Aufführung ansehen.
0226Wir hören mit Vergnügen, daß der Akademische Gesangverein
0227sich dazu entschlossen hat. Nur die Concert-Aufführung kann
0228einem Werke gerecht werden, das über die knappen Dimensio-
0229nen und den populären Ton gewöhnlicher Liedertafel-Chöre
0230weit hinausgeht. Engelsberg verdankt seine ersten Erfolge
0231allerdings humoristischen Compositionen, welche (wie die
0232Ballscenen“, „Doctor Heine“ „Der Landtag“ und
0233andere) in kurzer Zeit Lieblingsstücke aller Gesang-
0234vereine wurden. Mehrere ernste Chöre, welche der Wiener
0235Männergesang-Verein mit schönem Erfolg aufführte, zeigten
0236jedoch, daß Engelsbergʼs Talent keineswegs auf das komische
0237Fach beschränkt sei. Das „Italienische Liederspiel“, das wir
0238weitaus für die werthvollste Gabe dieses Componisten halten,
0239liefert den besten Beweis dafür. Eigentlich Komisches erscheint
0240gar nicht darin, selbst die Musikstücke heiterer Färbung sind
0241in der Minorität gegen die sentimentalen — bilden ja Liebe,
0242Zärtlichkeit und Sehnsucht den Grund-Accord des Ganzen. Aus
0243diesem Grund-Accord erblühen in dem „Liederspiel“ Melodien
0244von solcher Zartheit und Innigkeit, von so reizender Frische
0245und Abwechslung, daß ihr Nachklingen den Hörer gar nicht
0246losläßt. Einige Kürzungen dürften die Wirkung des Ganzen
0247noch erhöhen. Zu den Erfordernissen einer glücklichen Wieder-
0248holung zählen wir aber jedenfalls auch Fräulein Rabatinsky,
0249die uns niemals liebenswürdiger vorgekommen war, denn als
0250Rosettina“ in dem „Liederspiel“ von Engelsberg.