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Neue Freie Presse
Morgenblatt
No. 1309. Wien, Mittwoch den 22. April 1868

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Oper und Singspiel.


0002Ed. H. Aufmerksame Beobachter werden überall finden,
0003daß der erste Erfolg und die nachhaltige Kraft einer neuen
0004Oper stark davon beeinflußt sind, welche Novitäten unmittelbar
0005vor und nach ihr auf derselben Bühne gebracht wurden. Noch
0006augenscheinlicher wirkt dieser Einfluß von Vor- und Nachläu-
0007fern auf das Schicksal neuer Sänger bei dem Publicum. Herr
0008Georg Müller, Tenorist aus Kassel, konnte das hier er-
0009fahren. Seine erste Gastrolle, der Troubadour, brachte ihm
0010einen geradezu enthusiastischen Beifall. Das Publicum war
0011durch die vorhergehenden epidemischen Tenor-Durchfälle so ver-
0012zagt und bußfertig geworden, daß der Erste, der mit frischer
0013Stimme ein hohes B und C in die Luft zu schleudern wußte,
0014gewonnenes Spiel hatte. Als wenige Tage später Herr Müller
0015als Vasco de Gama in der „Afrikanerin“ auftrat, war
0016das Thermometer der allgemeinen Anerkennung schon merklich
0017gesunken. Die Leistung war schwächer, das ist gewiß; ebenso
0018gewiß aber hat der inzwischen liegende Erfolg Sontheimʼs 
0019auf die Schätzung des Herrn Müller zurückgewirkt. Der Sän-
0020ger des Manrico braucht wenig andere Gaben als die der
0021Natur, und Herrn Müllerʼs Stimme ist ein jugendfrischer,
0022gesunder Tenor von ungemein leichter Ansprache und großer
0023Egalität. Der Klang hat nicht die volle Resonanz des Brust-
0024tones, sondern die etwas gezwängte sogenannter Halsstimmen,
0025die aber in jungen Jahren und bei hinreichender Kraft durch
0026eine gewisse herbe Frische und Deutlichkeit anziehen. Technische
0027Durchbildung oder eigenthümliche Gestaltungskraft kann man
0028Herrn Müller nicht zuerkennen; Spiel und Vortrag fallen
0029unter die Bezeichnung „anständig“. Vasco de Gama in der
0030Afrikanerin“ stellt weit höhere Forderungen als Manrico an
0031die musikalische und dramatische Bildung des Sängers, ohne  
0032in gleichem Maße dankbar zu sein. Die Rolle steht auf der
0033Schattenseite des Gedichtes sowol als der Partitur und wird
0034durch Selica wie durch Nelusco verdunkelt. Der Darsteller
0035muß vielseitigere und feinere Eigenschaften erproben, andere
0036Eigenschaften als im Troubadour; davon bemerkten wir aber
0037nichts an Herrn Müller, welcher überdies den bedenklichen
0038Seehelden als habituellen Distonirer auffaßte und dadurch in
0039der allgemeinen Achtung noch mehr drückte. Herr Müller 
0040besitzt nebst seiner hübschen Stimme eine stattliche Figur und
0041ein reichliches Maß von Eifer und gutem Willen — hoffen
0042wir das Beste von seiner weiteren Ausbildung. Ueber das
0043Engagement dieses Sängers haben wir nicht mehr zu discutiren,
0044es ist bereits abgeschlossen. Daß wir durch den Eintausch Herrn
0045Müllerʼs gegen Herrn Zottmayr nichts einbüßen, dürfte
0046wol allgemein zugestanden werden. Lieber noch hätten wir viel
0047gewonnen. Noch ein zweiter, kleinerer Tenoristenstuhl ist er-
0048ledigt, und zwar nach Herrn Prott, der hinter Zottmayr 
0049um einige Nasenlängen zurückstand. Die Tenoristen Telek 
0050und Wachtel junior werden um sein Erbe kämpfen. Mitten
0051unter diesen Tenorgestirnen zweiten Ranges ist Herr Sont-
0052heim
aufgegangen, lebenslänglicher Fixstern am Stuttgarter
0053Hoftheater, also außer dem Bereiche unserer eigennützigen
0054Speculationen. Sontheim zählt seit langer Zeit zu unsen
0055namhaftesten Sängern und bildet mit Tichatschek und Rie-
0056mann
die eigentliche Heldentrias unter den deutschen Tenoren.
0057„Seit langer Zeit“, das ist gut für den Ruhm, aber weniger
0058für die Stimme. Ist es nicht jammerschade, daß Sontheim,
0059der im Jahre 1838 seine Carrière in Karlsruhe begann, nicht
0060früher nach Wien gekommen ist? Gewiß; aber danken wir
0061ihm, daß er überhaupt kam. Denn es ist keineswegs eine
0062künstlich gestützte und verkleidete Ruine, der wir hier achtungs-
0063volle Anerkennung zu votiren haben, sondern eine merkwürdig
0064frisch erhaltene Kraft, die uns unwiderstehlich mit fortreißt.
0065Ein echter Heldentenor! ruft man unwillkürlich bei den ersten  
0066schmetternden Klängen, die dieser breitgewölbten Brust ent-
0067quellen. Sontheimʼs Tenor, gesund, voll und markig, weist
0068in seiner ganzen Ausdehnung keine schadhafte Stelle auf. Je
0069höher hinauf, desto freier und wohler ist ihm zu Muthe, dabei
0070hat diese mächtige Höhe selbst im Forte nichts Schrilles. In
0071diesem Austönen gesunder Kraft wirkt Sontheim am glücklich-
0072sten, doch ist er keineswegs darauf beschränkt. Sein mezza voce
0073klingt ungemein weich und bleibt tonvoll bis ins leiseste Pia-
0074nissimo. Mit einer tüchtigen Gesangstechnik beherrscht Sont-
0075heim diese schönen Mittel, und eine wohlthuende Sicherheit
0076des Instincts, verbunden mit vollendeter Bühnenroutine, läßt
0077ihn überall das Richtige treffen. Den einzigen empfindlichen
0078Streich hat die Zeit Herrn Sontheim gespielt, indem sie ihn
0079zu einem Doppelgänger Hamletʼs bildete, den Shakespeare als
0080„fett und kurzatmig“ schildert. Sontheim ist dadurch genöthigt,
0081zusammenhängende Cantilenen in zwei bis drei Theile zu zer-
0082pflücken — ein Uebelstand ohne Frage, aber mit so viel Kunst
0083verdeckt, mitunter sogar anscheinend motivirt, daß er den Ge-
0084nuß des Hörers nur wenig beeinträchtigt.


0085Herr Sontheim hat bisher zwei Rollen gesungen: den
0086Eleazar in Halevyʼs „Jüdin“ und den Robert in Meyer-
0087beerʼs gleichnamiger Oper. Sein Eleazar ist eine sehr be-
0088deutende Leistung, seine beste ohne Zweifel, und der Künstler
0089that wohl, sich damit zuerst den Wienern vorzustellen. Die
0090Rolle, für Sontheim wie geschaffen, ist schon an sich ein
0091Unicum. Warum müssen auch alle Tenorpartien über den
0092Einen Leisten der Jugend und Schlankheit geschlagen sein?
0093Warum componirt man so wenig alte Juden, jetzt,
0094wo unter den jungen Christen die Heldentenore täg-
0095lich mehr schwinden?*)Sontheim gestaltet den Eleazar [2]
0110zu einem scharfen, einheitlichen Charakterbild, das nationale
0111Element stark betonend, aber die ohnehin verzerrte Figur nicht
0112weiter durch Uebertreibung carrikirend. Die trotzige Ver-
0113bitterung, welche diesen Charakter durchdringt, bildete den
0114festen, dunklen Grund der Leistung, aus welchem sich später im
0115vierten Act die rührenden Accente eines aus tiefem Versteck
0116hervorgescheuchten Gefühls mit überzeugender Beredsamkeit er-
0117hoben. Der Gesangstheil der Rolle ist sehr ungleich vertheilt
0118und drängt sich unverhältnißmäßig in zwei Acte, den zweiten
0119und vierten, zusammen. Sei es ein Fehler der Anordnung: er
0120gewährt wenigstens den Vortheil, daß der Sänger seine Kraft
0121beisammenhält und diese Acte einzeln zu großer Wirkung ab-
0122runden kann. Dies that Herr Sontheim in vollem Maße.
0123In den kurzen Stellen des ersten Actes hatte er übrigens das
0124Publicum durch die Kraft seiner hohen Brusttöne und seiner
0125musterhaft deutlichen Aussprache schon gewonnen. Das Gebet
0126im zweiten Act hätte breiter und größer vorgetragen werden
0127können, aber der Fluch in dem Schlußterzett wirkte mit stür-
0128mischer Gewalt. Den größten Erfolg erzielte Sontheim mit der
0129Arie im vierten Acte, die er mit warmer Empfindung und
0130wirksamen Contrasten vortrug. Ein einziger kleiner Flecken
0131störte uns in dieser Nummer: die affectirt-italienische Manier,
0132welche gebundene Gesangstellen in einzeln stakkirte Noten
0133trennt und, einer Schlußcadenz plötzlich zueilend, auf der vor-
0134letzten Note derselben ebenso plötzlich Halt macht. Diese Ma-
0135nier, welche wir an Sontheim nur dies Einemal bemerkten
0136(ebenso ein einzigesmal im „Robert“), stimmt überdies so wenig
0137zu seiner übrigen gesunden Vortragsweise, daß wir sie nur als
0138eine seltsame und wahrlich unnöthige Concession ansehen können.
0139Der Erfolg Herrn Sontheimʼs als Eleazar war ein ganz un-
0140gewöhnlicher. Als Robert hatte der Künstler schon einen
0141etwas schwierigeren Stand, da die Rolle einen jugendlichen
0142Darsteller verlangt und dramatisch wenig ausgeprägt ist.
0143Viele Stellen des ersten und vierten Actes, vor Allem jedoch
0144das Terzett im fünften, sang Herr Sontheim mit sieg-
0145reicher Wirkung. Beide Rollen charakterisirte ein gesunder
0146Realismus und jene überlegene Zuversicht, die, ihres Gelingens ge-
0147wiß, die ganze Aufgabe überschaut und beherrscht. Hierin er-
0148innert Sontheim an Tichatschek, soweit wir nach einer etwas
0149verblaßten Erinnerung urtheilen dürfen. Der Grundzug des
0150künstlerischen Wesens beider Sänger ist freie, kräftige Natür-
0151lichkeit. Sontheim faßt nicht tief, aber klar auf, er stellt frisch
0152und entschieden dar, er singt mit fröhlicher Unbefangenheit auf
0153den momentanen Ausdruck eingehend. Jener feine Duft des
0154Gesanges, den man als dessen Poesie bezeichnen möchte, fehlt
0155ihm; aber was seinen Leistungen an idealen Schwung abgehen
0156mag, ersetzt die Kernhaftigkeit einer realen, unverwüstlich ge-
0157sunden Natur.


0158Die Unterstützung, welche der geschätzte Gast fand, war
0159in den Hauptrollen vorzüglich. In der „Jüdin“ sang Fräu-
0160lein Ehnn die Recha. Wir stellen diese leidenschaftliche, durch
0161Wahrheit und Kraft des dramatischen Ausdruckes hinreißende
0162Leistung neben die Favorite und über die Selica dieser
0163Künstlerin. Daß die Gefangstechnik nicht fleckenlos war,
0164namentlich das Tremoliren manchmal störte, dürfen wir nicht
0165verschweigen; in einzelnen Nummern, wie die Romanze
0166„Il reviendra“, konnte man deutlich die Ueberlegenheit des
0167Spieles über den Gesang wahrnehmen. Als Ganzes wirkte 
0168jedoch die Leistung Fräulein Ehnnʼs mit unmittelbarer, über-
0169zeugender Kraft. Ihre Recha ist eine Gestalt voll liebender
0170Hingebung und glühender Leidenschaft. Sollen wir Einzelhei-
0171ten hervorheben, so stellen wir die Scene der Anklage im drit-
0172ten Acte, diesen erschütternden Racheruf eines stolzen, ver-
0173rathenen Herzens, zuhöchst. In der Kerkerscene mit dem Car-
0174dinal waren es wieder die rührenden Accente einer hoffnungs-
0175losen Resignation, durch welche Fräulein Ehnn den Hörer
0176tief bewegte. Wie ernst Fräulein Ehnn ihre Aufgabe faßt,
0177zeigt vor Allem ihr stummes Spiel. Man kann sie lange
0178Scenen hindurch, in welchen sie nicht zu singen hat, unver-
0179wandt beobachten und wird keinen Moment ertappen, wo
0180Fräulein Ehnn nicht ganz bei der Sache wäre oder gar auf
0181das Publicum blickte, statt auf die Mitspielenden. Ihr stum-
0182mes Spiel im dritten Act der „Jüdin“, in der Kerkerscene
0183der „Afrikanerin“ u. dergl. sind Seelengemälde, die manche
0184Arie aufwiegen. Wir erstaunten, wie diese zartgebaute Sän-
0185gerin die großen physischen Anstrengungen der Halevyʼschen
0186Partie bewältigte, möchten sie aber doch bitten, ihrer Stimme in
0187den höchsten Lagen nicht allzu viel zuzumuthen. Das siegreiche Ueber-
0188tönen von Chor, Orchester und Blechmusik auf der Bühne dünkt
0189uns lange nicht so werthvoll, als daß Fräulein Ehnn ihre Stimme
0190recht lange erhalte. Der Prinz Leopold war keine günstige
0191Antrittsrolle für Herrn Telek. Dieser vom Carltheater her
0192beliebte und im kleineren Genre recht verdienstvolle Tenorist
0193hat für den kaiserlichen Prinzen und hussitenbesiegenden
0194Helden**) schon äußerlich nicht die wünschenswerthe Eleganz [3]
0202und Stattlichkeit der Erscheinung. Seine Stimme hat einen
0203frischen, aber nichts weniger als edlen Klang, sein Vortrag
0204wie sein Spiel waren (in der „Jüdin“ wenigstens) nicht so-
0205wol natürlich als naturalistisch. Hoffentlich begegnen wir
0206Herrn Telek noch in günstigeren Aufgaben. Fräulein Raba-
0207tinsky
singt die Prinzessin, besonders im zweiten Acte, sehr
0208hübsch; wäre der brillante Bolero hier nicht aus der Rolle
0209gestrichen, so stände sie mehr Gelegenheit, sich auszuzeichnen.
0210Wir haben Fräulein Rabatinsky kürzlich als Ines in der
0211Afrikanerin“ und als Isabella im „Robert“ mit einer
0212Reinheit und Leichtigkeit singen gehört, welche sie den besten
0213deutschen Coloratur-Sängerinnen an die Seite stellt. Herr
0214Schmid sieht als Cardinal prachtvoll aus (nur etwas zu alt)
0215und singt die Rolle mit Kraft und Würde. In der Sceni-
0216rung der Oper bemerkten wir mit Vergnügen einige wesent-
0217liche Verbesserungen und Verschönerungen.


0218Robert dem Teufel standen als böses und als gutes Prin-
0219cip Herr Schmid und Fräulein Benza zur Seite. Herr
0220Schmid singt den Bertram mit großer Wirkung, in Maske
0221und Spiel vernachlässigt er aber zu sehr das dämonische Ele-
0222ment. Die Prinzessin Isabella haben wir von Fräulein
0223Murska schon besser gehört, als an diesem Abende. Einen
0224überraschend glänzenden Erfolg hatte Fräulein Benza als
0225Alice. Diese fleißige und begabte Sängerin hatte die Rolle vor
0226wenigen Wochen zum erstenmal gesungen, der Fortschritt war
0227auffallend. Sie hat die an sie ergangenen Mahnungen zur
0228Mäßigung redlich beachtet und an vielen Stellen zartere Schat-
0229tirungen verwendet. Je mehr Fräulein Benza beobachten
0230wird, daß sie mit ihren Mezza-voce-Stellen am meisten
0231reussirt, und daß erst auf dieser Folie die Effecte ihrer Stimm-
0232kraft sich wahrhaft verwerthen, desto eifriger wird sie hoffent-
0233lich auf dem jetzt eingeschlagenen Wege fortschreiten. Fräulein
0234Benza fang ihre erste Arie sehr gut, desgleichen das Duett
0235mit Bertram; der großen Aufgabe des Schlußterzettes im
0236fünften Acte ist sie noch nicht ganz gewachsen. Ihr  
0237entschiedenes (allerdings mehr instinctives als künstlerisch be-
0238wußtes) Spieltalent äußerte sich auf das erfreulichste an mehr
0239als Einer Stelle, z. B. bei dem allmäligen, zitternden Nieder-
0240sinken Aliceʼs vor Bertram im dritten Act. Ein Bedauern
0241können wir nicht verschweigen: daß sich Fräulein Benza ver-
0242leiten ließ, die naiv einfachen Couplets im dritten Act mit
0243geschmacklosen Bravour-Cadenzen aufzuputzen, welche mit dem
0244Charakter des Gesangstückes und vollends mit den also „ge-
0245schmückten“ Worten: „Nun stehe ich verlassen“ in grellen
0246Widerspruch stehen. Möglich, daß Meyerbeer dieses Pfauen-
0247rad für eine ästhetisch unzurechnungsfähige Sängerin nachträg-
0248lich verfertigte; in der französischen Partitur wie in den deut-
0249schen Clavierauszügen ist kein Federchen davon zu finden.


0250Wir sind einer im Carltheater gegebenen musikalischen
0251Novität einige Worte schuldig. Sie stammt aus dem Jahre
02521783, heißt „Die Gans von Kairo“ und ist von niemand
0253Geringerem als von Mozart. Unmittelbar nach der „Ent-
0254führung aus dem Serail“ begann Mozart den ihm vom Abbé
0255Varesco verfertigten schauderhaften Text dieser Opera buffa
0256zu componiren, schrieb sieben Nummern (also nicht einmal den
0257completen ersten Act) und legte dann die Arbeit beiseite, deren
0258allzu naives Libretto ihm selbst schwere Bedenken zu erwecken
0259schien. Herr Victor Wilder in Paris hat diesen (bei André 
0260gedruckten) Torso durch eine Ouverture und drei Gesangstücke
0261aus anderen verschollenen Opern Mozartʼs („La Villanella
0262rapita“ „Lo Sposo deluso“) ergänzt, die Handlung auf
0263zwei Acte vertheilt, die größtentheils fehlende Instrumentirung
0264hinzugefügt und das Ganze im verflossenen Sommer in Paris 
0265aufführen lassen. Wir haben diese „Oie du Caire“ in dem
0266kläglichen Theater der Fantaisies parisiennes mit achtungsvol-
0267ler Langweile gehört und uns über ihre Lebensunfähigkeit nicht die
0268mindeste Illusion gemacht. Wir waren auch nicht bekehrt, als wir den
0269schön aufgelegten Pariser Clavierauszug mit Text durchgingen
0270im Vorwort die Versicherung Mr. Wilderʼs lasen:
0271„Lʼocca del Cairo peut marcher de pair avec les chefs-
0272dʼoeuvres du maître.“ Die Partitur enthält allerdings
0273neben veralteten und unbedeutenden Nummern drei sehr graciöse
0274Stücke echt Mozartʼschen Gepräges, allein wenn sie deren auch
0275sechs enthielte, sie vermöchte die witzlose Albernheit des Text-
0276buches nicht genießbar zu machen. Nachdem anderthalb Acte
0277lang ein dummer Vormund von seiner Nichte und deren Lieb-
0278haber gehäuselt wird, ohne daß die Handlung vom Fleck
0279kommt, erscheint am Schlusse des zweiten Actes eine riesige
0280Gans von Pappendeckel auf der Scene, öffnet sich nach Art
0281des trojanischen Pferdes und speit die todtgeglaubte Frau des
0282Vormundes sammt zwei Kindern aus. Da das Fantaisies-
0283Theater sehr klein ist und das Ausstellungs-Publicum sehr
0284groß war, so erlebte die Novität in Paris eine ansehnliche
0285Reihe von Wiederholungen.


0286Die Deutschen machten einigen Lärm darüber, daß uns
0287Paris mit diesem Acte Mozart-Cultus in beschämender Weise
0288zuvorgekommen und daß es nun Pflicht der deutschen Büh-
0289nen sei, die Gans von Pappendeckel schleunigst gegen diesen
0290Esel von Vormund auffahren zu lassen. Director Ascher
0291konnte natürlich keinen Augenblick die „Gans von Kairo“ für
0292ein lucratives Thier ansehen, allein er faßte den einmal an-
0293geregten Ehrenpunkt auf und wollte zu Ehren Mozartʼs we-
0294nigstens das Gleiche thun, was ein Pariser Theater-Director
0295gethan hatte. Er brachte, der Erste in Deutschland, die Wil-
0296derʼsche Bearbeitung der „Gans von Kairo“ — sie aber
0297brachte es nur zu einer einzigen Wiederholung! Das ist, offen
0298gestanden, weniger Erfolg, als wir gefürchtet, und weniger
0299Mozart-Pietät, als wir in Wien erwartet hatten. Zugegeben,
0300daß Niemand sich das Stück zum zweitenmale verlangt hätte,
0301so viel Neugierde wenigstens war doch unter den Wiener
0302Musikfreunden vorauszusetzen, daß keiner eine bisher unbe-
0303kannte Mozartʼsche Oper sich würde entgehen lassen. Zu spät
0304— Herr Ascher hat die Gans bereits zerlegt, verbrannt und
0305aus ihrer Asche mit einem Zauberwort die „Pfarrerköchin“
0306aufsteigen lassen.

Fußnoten
  • *)Halevy hatte den Eleazar ursprünglich für den Bassisten
    Levasseur gedacht. Adolphe Nourrit, der Rechaʼs Liebhaber sin-
    gen sollte, bewog jedoch den Componisten zu dem Wagstück, die Rolle
    des Juden als Tenorparie für ihn zu schreiben. Auf den Rath
    Nourritʼs schloß man auch den vierten Act mit der Arie Eleazarʼs
    zu der er selbst die Worte gedichtet, während früher ein großes Chor-
    finale beabsichtigt war. Nourritʼs Verdienst ist es gleicherweise, daß
    Meyerbeer, welcher den vierten Act der „Hugenotten“ mit der
    Massenweihe schließen sollte, kurz vor den letzten Proben das große
    Liebesduett hinzucomponierte, die Perle der ganzen Oper, Nourritʼs 
    geitsiger Einfluss war sehr groß; die namhaftesten Componisten suchten
    und befolgten gerne seinen Rath, der fast immer richtig war, freilich
    auch immer darauf beacht, die volle Strömung des Effektes auf seine
    eigene Mühle zu leiten.
  • **)Historische und geographische Schnitzer sind bekanntlich bei
    französischen Autoren etwas ganz gewöhnliches, fast Unausweichliches.
    Aber es bleibt doch komisch, dass Scribe seine „Jüdin“ ausdrücklich
    in die Zeit des Kostnitzer Concils verlegt und im Jahre 1414 (ein
    Jahr vor der Verbrennung des Johannes Huß) einen „Sieg über
    die Hussen“ feiern lässt, die noch gar nicht existirten. Auch gab es
    auf diesem Concil keinen Herzog Leopold, „prince de lʼEmpire“