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Neue Freie Presse
Morgenblatt
No. 1474. Wien, Mittwoch den 7. October 1868

[1]

Die Liedertafeln.

(Zum Jubiläum des Wiener Männergesang-Vereins.)


0003Ed. H. Der Wiener Männergesang-Verein begeht in
0004wenig Tagen die Feier seines 25jährigen Bestehens. Diese
0005Feier, drei Tage umfassend, wird sich in dreifacher Eigenschaft
0006manifestiren; als geistliche (Stiftungsmesse in der Augustiner-
0007kirche), als künstlerische (Abendconcert im Redoutensaal) und
0008als gesellige in der Festiedertafel). Sie schließt überdies mit
0009einem schönen Act künstlerischer Pietät, mit der Grundstein-
0010legung zu Schubertʼs Denkmal. Diese vielversprechenden
0011Zurüstungen und die ungemeine Beliebtheit des Vereins wirken
0012zusammen, um jetzt in allen Kreisen Wiens Antheil und Auf-
0013merksamkeit zu erwecken. Fünfundzwanzig Jahre! Ein langer
0014Zeitraum für die Thätigkeit des Einzelnen, ein kaum merk-
0015licher für die der Kunstgeschichte. Manchem dünkt diese Spanne
0016Zeit zu kurz, um ein pomphaftes Jubiläum zu rechtfertigen.
0017Sonst feierte man Jubilien nach 100 Jahren, wie es bald
0018der Tonkünstler Societät „Haydn“ gegönnt sein wird, oder doch
0019nach 50 Jahren, wie 1862 die „Gesellschaft der Musikfreunde“
0020that. Wir sind, offen gestanden, auch nicht eingenommen für
0021die kurzen Jubiläums-Termine; sie haben zur Folge, daß bei
0022der großen Zahl von Kunstvereinen alle Augenblicke ein Jubi-
0023läum stattfindet und die Gewohnheit den weihevollen Ernst
0024der Feststimmung abschwächt und entwerthet. Werth und
0025Würde eines Jubiläums wachsen mit der Zahl seiner Jahres-
0026ringe, und Feste, die man der eigenen Genugthuung gibt,
0027müssen vor Allem selten sein. Nichtsdestoweniger spricht manch
0028gewichtiger Umstand zu Gunsten der schon jetzt, nach 25 Jahren,
0029anberaumten Jubelfeier des Männergesang-Vereins. Lebt unsere
0030Zeit doch rascher, verzehrt sie doch ihre Kräfte schonungsloser,
0031als die gemächlicher arbeitende Vergangenheit. Von den Mit-
0032gliedern, welche den Verein vor einem Vierteljahrhundert aus
0033der Taufe hoben oder seine ersten Schritte leiteten, sind gar
0034manche schon hinübergegangen, und den Ueberlebenden bleicht
0035sich das Haar. Wir wollen nicht weitere 25 Jahre warten,
0036die Zeit hat Eile und — wie Lenau mahnt — „unsere
0037Gräber sind schon ungeduldig“. Eine kunstgeschichtliche Er-
0038wägung tritt obendrein zu dieser rein menschlichen. Die Kunst-
0039gattung, welche der >Wiener Verein so rühmlich repräsentirt, 
0040der mehrstimmige Männergesang, ist selbst noch jungen Datums,
0041ist ein Kind unseres Jahrhunderts, und die Stiftung der
0042Liedertafeln und Männergesang-Vereine reicht nicht weit über
0043ein Menschenalter. Ein Rückblick auf die Entstehung derselben
0044dürfte gerade in diesem Moment unseren Lesern nicht unwill-
0045kommen sein.


0046Wir erwecken dies Stück musikalischer Vergangenheit
0047lediglich unter der Anregung des Moments und ohne den An-
0048spruch, Musikkundigen damit etwas Neues zu bringen.*)


0052Der Männergesang, als selbstständige Kunstgattung, ist
0053rein deutschen Ursprungs, und so sind es auch seine Pflege-
0054stätten, die Liedertafeln. Sie entstanden fast gleichzeitig und
0055doch völlig unabhängig an zwei verschiedenen Punkten: in Ber-
0056lin und in der Schweiz. In Berlin war der Ausgangspunkt
0057die zu Ende des vorigen Jahrhunderts von Fasch gegründete,
0058dann (1800 bis 1832) von Zelter geleitete „Sing-Aka-
0059demie
“, dieser berühmte Verein für großen gemischten Chor-
0060gesang. Die männliche Hälfte der Sing-Akademie besaß einige
0061tüchtige Sänger, die hin und wieder die Gesammt-Productionen
0062durch ein Vocal-Quartett unterbrachen. Es wurde der Wunsch
0063dieser Herren immer lauter, einen kleinen Verein blos für
0064Männergesang, gleichsam eine vierstimmige Filiale der große
0065Sing-Akademie zu bilden. Zelter, der tüchtige Liedercom-
0066ponist und begeisterte Freund Goetheʼs, realisirte diesen Ge-
0067danken durch die Stiftung einer Liedertafel am 24. Januar
00681809
. Das Wort „Liedertafel“ stammt von Zelter, er nahm
0069es von dem Gebrauch seiner Mitglieder, an der Tafel sitzend
0070zu singen, und verband damit zugleich eine poetische Anspielung
0071an König Artusʼ Tafelrunde. Zelterʼs Liedertafel war strenge
0072auf 24 Mitglieder beschränkt, welche abwechselnd Compositionen
0073oder Liedertexte selbst beitragen mußten. Sie trat einmal im
0074Monate zusammen und bewegte sich in ziemlich steifen, schwer-
0075fälligen Formen. Der Andrang, aufgenommen zu werden,
0076war sehr groß, bei der beschränkten Anzahl der Mitglieder
0077mußten aber selbst tüchtige Sänger oft eine Vormerkung von
0078vielen Jahren überstehen. Dieses exclusive Wesen der Zelter-
0079schen Liedertafel veranlaßte bald die Gründung einer zweiten,
0080jüngeren Liedertafel in Berlin durch die Componisten Ludwig  
0081Berger und Bernhard Klein, an deren Seite Gustav
0082Reichardt, Otto Nicolai, die Dichter Rellstab, Th. E.
0083Hoffmann, Streckfuß und Andere mit Begeisterung
0084wirkten. Hier herrschte die Jugend und damit auch eine po-
0085litisch freisinnige Richtung. Diese jüngere (im Jahre 1819)
0086gestiftete Liedertafel brach auch allmälig den Bann der Abge-
0087schlossenheit und Förmlichkeit von Zelterʼs Verein. Nach dem
0088Muster des letzteren, mit demselben eng begrenzten Charakter, stren-
0089gen Prüfungen und dergleichen bildeten sich zunächst die Liedertafeln
0090in Frankfurt an der Oder und Leipzig. Dem Vorbilde der
0091jüngeren Berliner Liedertafel folgten Königsberg, Breslau
0092(durch Mosewius), Dessau (durch Fr. Schneider), Ham-
0093burg (durch Methfessel). Die Gründung der Zelterʼschen
0094Liedertafel fiel in die trübste Zeit Deutschlands, man suchte
0095Trost und Vergessen im Gesange. Goetheʼsche Lieder, gesellige
0096Rundgesänge bildeten den Singstoff. Da brach das majestä-
0097tische Gewitter der Freiheitskriege herein, die Begeisterung der
0098deutschen Jugend, der beherzte Aufschwung des ganzen Landes.
0099Körner, Schenkendorf, Arndt dichteten ihre patrioti-
0100schen Lieder. Diese Lieder wollten gesungen sein und fanden
0101auch bald ihre Melodien. Man sang sie in allen Lagern, das
0102dritte Bataillon der Lützowʼschen Jäger (von Jahn geführt
0103hatte zuerst von allen Truppen einen Sängerchor. Zelter 
0104componirte für denselben Arndtʼs „Deutsches Vaterland“, das
0105mit der späteren (1828 entstandenen Melodie von G. Reichardt 
0106zum deutschen Volkslied wurde, soweit nämlich ein ob seiner
0107Modulationen nur vierstimmig ausführbarer Gesang ein
0108Volkslied heißen kann. Nachdem die Krieger siegreich heimge-
0109kehrt, verpflanzten sich die früher roh und unison gesungenen
0110Freiheitslieder in kunstgeübte Kreise, in die Liedertafeln. Die
0111köstlichste Frucht dieses sich laut aussingenden Freiheitsdran-
0112ges waren C. M. Weberʼs Männerchöre aus Theodor Kör-
0113nerʼs „Leier und Schwert“. Weber hatte sie größtentheils in
0114Prag componirt, wo sie 1814 zum erstenmale öffentlich ge-
0115sungen wurden.


0116Während die Berliner Liedertafel aus den Mitgliedern
0117der Sing-Akademie, also aus den gebildeten, wohlhabenden
0118Kreisen der Gesellschaft hervorgegangen war, entwickelte sich in
0119der Schweiz der Männergesang unmittelbar aus dem Volke.
0120Zuerst in Appenzell. Da war es Sitte, daß jährlich am letz-
0121ten Sonntage im April die Landesgemeinden zusammentrafen [2]
0122und bei der Ankunft sich mit einem alten Schweizer Liede be-
0123grüßten. Gegen Ausgang des Winters bildeten sich kleine
0124Vereine von kaum 20 Mann, um solche Lieder zur Begrü-
0125ßung der Landgemeinden einzuüben; dann lösten sie sich wie-
0126der auf. Der Pfarrer Weishaupt vereinigte zuerst diese
0127kleinen Gesellschaften zum gemeinsamen Singen desselben Lie-
0128des und wurde so einer der ersten Anreger des Chorgesanges
0129in der Schweiz. Der Mann jedoch, der die vorhandenen An-
0130fänge des Chorgesanges (ihre Quelle war das geistliche Lied)
0131mit künstlerischem Bewußtsein sammelte und organisirte, war
0132Johann Georg Nägeli.


0133Als Lehrer, Schriftsteller und Componist hat Nägeli un-
0134ermüdlich für die musikalische Erziehung des Volkes gewirkt
0135rief zunächst in Zürich ein „Sing-Institut“ ins Leben, in
0136welchem große Massen für den Chorgesang herangebildet wur-
0137den, stufenweise vom einfachsten Volksliede bis zur kunstvollen
0138Fuge. In diesem Sing-Institute stiftete Nägeli den vier-
0139stimmigen Männerchor
als selbstständige Gattung des
0140Chorgesangs (1810) und schrieb eine eigene „Gesangbildungs-
0141kehre für Männerchor“. Er darf als der Begründer des
0142Männer-Chorgesanges betrachtet werden, des eigentlichen
0143Männerchors im Gegensatze zum bloßen Vocal-Quartette
0144In der Zelterʼschen Liedertafel wurde letzteres fast ausschließ-
0145lich gepflegt, nebst Rundgesängen, in welchen die Masse nur
0146bei kurzen Chorstellen einfiel, ohne Stimmenvertheilung, wie
0147es eben kam. Nägeliʼs That war ganz unabhängig von
0148jener Zelterʼs, jedenfalls hat die Berliner Liedertafel im Jahre
01491811 noch nicht öffentlich Männerchöre gesungen, wie das
0150Züricher Institut. Nägeli, ein Gegner des Chorals, den er
0151„unbelebend, ermüdend und für schönen Wortausdruck unzu-
0152gänglich“ fand, bevorzugte das gesellige Lied. Sein „Gesell-
0153schafts-Liederbuch für vierstimmigen Männergesang“ war von
0154epochemachender Wirkung und weit verbreitet, am weitesten
0155daraus sein Lied: „Freuet euch des Lebens“. Das Schweizer
0156Volk weiß, was es dem Manne verdankt. Auf der hochgelegenen
0157„Promenade“ in Zürich, welche den herrlichsten Ausblick auf
0158den See und seine belebten Ufer gewährt, erhebt sich ein Denk-
0159mal mit der schlichten Widmung: „Ihrem Vater Nägeli die
0160Schweizer Gesangvereine.“


0161Trug die Zelterʼsche Liedertafel mit ihrer Beschränkung
0162auf 24 Mitglieder, ihren Förmlichkeiten, ihrem Goethe-Cultus, 
0163den Charakter des Aristokratischen, Abgeschlossenen, so war
0164Nägeliʼs Stiftung durchaus demokratisch. Jedermann, wer
0165eine Stimme hatte, war gleichberechtigt, keine Form nahm
0166hemmenden Einfluß. Die Kunst des Einzelnen, so wichtig in
0167der Berliner Liedertafel, verlor hier ihre Bedeutung, ging im
0168Ganzen auf, und dies Ganze strebte unablässig nach Aus-
0169breitung. Allmälig schliffen sich diese ursprünglichen Gegensätze
0170der norddeutschen und der Schweizer Liedertafeln ab, und der
0171Charakter beider näherte sich im Laufe der Zeit. Die Kunst
0172der Berliner stieg bald auch zum Volk herab, und der Schweizer
0173Volksgesang erhob sich immer mehr zur künstlerischen Ausbildung.


0174Nach dem Muster Berlins hatten sich die norddeut-
0175schen
Männergesang-Vereine gebildet, der Einfluß des Schwei-
0176zer Vorbildes wurde maßgebend für die meisten Liederkränze
0177Mittel- und Süddeutschlands. Schwaben, die wahre
0178Heimat deutschen Volksgesangs, ging hier voran und der „Stutt-
0179garter Liederkranz“ (1824) ward bald ein Mittelpunkt aller
0180edleren Geselligkeit. Der Einfluß der schwäbischen Dichterschule
0181Uhland, J. Kerner, Schwab, Hauff — und der Cultus
0182Schillerʼs goß eine eigenthümlich poetische Weihe über diesen
0183Verein, welcher am 9. Mai 1825 das erste Schillerfest 
0184feierte und den Plan eines Schillerdenkmals damit verband.
0185Wir können hier nicht auf die einzelnen Männergesang-Vereine
0186eingehen, welche sich in den Dreißiger- und Vierziger Jahren
0187massenhaft ausbreiteten. Nur die immer stärker hervortretende
0188Tendenz zur Vereinigung der einzelnen Liedertafeln eines Gaues,
0189eines Landes ist hervorzuheben. So hatte man bald fränkische
0190schwäbische, rheinische Männergesang-Feste, zu welchen Hunderte
0191von Liedertafeln sich vereinigten. Das Gefühl der Zusammen-
0192gehörigkeit, der nationalen Einheit entwickelte sich mächtig dabei,
0193und in dem Kampfe um Schleswig-Holstein entfalteten die Ge-
0194sangvereine in den Vierziger Jahren eine begeisterte und auch
0195einflußreiche patriotische Thätigkeit.


0196Während ganz Deutschland und die Schweiz mit Männer-
0197gesang-Vereinen dicht besäet waren und bereits Holland, Belgien 
0198und Elsaß Liedertafeln nach deutschem Muster gebildet hatten
0199besaß Oesterreich noch keinen solchen Verein. Von allen nam-
0200haften Männergesang-Vereinen ist der >Wiener am spätesten
0201entstanden. Die Ursache solch unbegreiflicher Verspätung lag
0202wie wir kaum zu sagen brauchen, in der Bevormundung durch
0203eine Polizei-Regierung, die aus einem Zustand von politischem 
0204Angstschweiß nie herauskam und in dem Vortrag des „Deutschen
0205Vaterland“, eine Gefahr für das System witterte. Den
0206„Gesang“, den hat man jederzeit in Wien geliebt, aber die
0207Verbindung von „Männer“ und „Verein“, war für die
0208hohe Polizei ein unausdenkbarer Gräuel. „Halten Sie
0209mir ja dieses Gift aus Deutschland nieder,“ so soll Fürst
0210Metternich den obersten Polizei-Chef Sedlnitzky 
0211ermahnt haben, als dieser ihm die Entstehung eines
0212Gesangvereins in Wien meldete. Es war im October 1843 
0213— also gerade vor fünfundzwanzig Jahren — als der wackere
0214Redacteur der Wiener Musikzeitung, August Schmidt, in
0215einem Privathause der Vorstadt Landstraße dreißig Freunde
0216versammelte, die sich vornahmen, einmal wöchentlich zur Uebung
0217im vierstimmigen Männergesang zusammenzukommen. Dies
0218war der erste Anfang des Wiener Männergesang-Ver-
0219eins
, dem sich bald Männer aus allen Ständen mit Lust
0220und Eifer anschlossen. Als sich jedoch der Verein als solcher
0221constituiren wollte, stieß er auf die schlimmsten Hindernisse von
0222Seiten der Behörden, welche Männergesang und Revolution
0223mindestens für Geschwisterkinder ansahen. Drei Jahre lang
0224existirte factisch der Verein, ohne die Bewilligung, zu existiren,
0225erlangen zu können. Einige Productionen der Sänger im
0226Jahre 1843 und 1844 fanden enthusiastischen Anklang, und
0227dem Beifalle des Publicums schloß sich sogar der kaiserliche
0228Hof an, vor dem unser junger Verein sich in Schönbrunn 
0229producirte. Noch immer war aber sein Bestehen nicht behörd-
0230lich anerkannt. Endlich drückte die Gewalt der öffentlichen Mei-
0231nung doch so stark auf die Behörden, daß diese ihren officiellen
0232Segen nicht länger vorenthalten konnten. Es war dies inmitten
0233friedlichster Zustände ein bedeutungsvoller, feiner Luftzug von
0234dem Sturm von Achtundvierzig. Das „Gift aus Deutschland“
0235war glücklich eingeschmuggelt und ist seitdem durch ein Viertel-
0236jahrhundert von den Wienern mit dem lebhaftesten Appetit
0237und ohne alle gesundheitsschädlichen Folgen in kleinen, großen
0238und allergrößten Portionen genossen worden. Von Jahr zu
0239Jahr wuchs die Zufriedenheit der Consumenten und die Kunst-
0240fertigkeit der Producenten — ein rühmliches Verhältniß, das
0241in dem bevorstehenden Jubelfeste des Männergesang-Vereins
0242gewiß seiner schönsten Bestätigung entgegensieht.

Fußnoten
  • *)Wem um ausführliches Detail zu thun ist, den verweisen
    wir auf Dr. Elbingʼs reichhaltige Monographie über den deutschen
    Männergesang (1855).