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Neue Freie Presse
Morgenblatt
No. 1494. Wien, Dienstag den 27. October 1868

[1]

Hofoperntheater.

(„Mignon“, von Ambroise Thomas)


0003Ed. H. Die Oper „Mignon“ wurde in Paris am
000419. November 1866 zum erstenmale gegeben und hat sechs
0005Monate später ihre 100. Vorstellung erlebt. Es war einer
0006der entschiedensten und aufrichtigsten Erfolge der Opéra Co-
0007mique, wohlgemerkt, ein Erfolg, der monatlang vor dem Her-
0008einbrechen der Ausstellungs-Invasion feststand. Dieser Frem-
0009benschwarm fügte lediglich die Erfahrung hinzu, daß „Mignon“
0010nicht blos den Franzosen, sondern den Musikfreunden aller
0011Nationen, vor Allen aber den Deutschen gefiel. Die Direction
0012des Hofoperntheaters verdient nur zustimmendes Lob für die
0013Vorführung einer Novität, welche mit all ihren Schwächen
0014doch das Gelungenste ist, was seit einer Reihe von Jahren in
0015dem Fache erschien. Will man überhaupt die Spieloper bei
0016uns berücksichtigen — und wir halten dies für eine künstle-
0017rische Nothwendigkeit — so war „Mignon“ die beste und er-
0018folgreichste Novität, die man wählen konnte. In diesem Falle
0019über „ungerechte Zurücksetzung“ unserer deutschen Zeitgenossen
0020zu klagen, ist ein geradezu kindischer Gedanke. Seit Nico-
0021laiʼs
lustigen Weibern“, und FlotowʼsMartha“
0022seit zwanzig Jahren, hat Deutschland im Fach der komischen
0023Oper nicht nur nichts Hervorragendes, sondern so gut wie
0024gar nichts producirt. Nicht zurückgesetzt sind die deutschen
0025Opern-Componisten, sie sind zurückgeblieben. Die heitere Muse
0026steht bei uns verwaist, gerade wie in Italien. Wenn eine
0027Bühne, wir wiederholen es, nicht Abend für Abend tragische
0028fünfactige Opern spielen will, so muß sie sich zunächst das
0029Beste der französischen Opéra Comique aneignen. Die Fran-
0030zosen besitzen für dieses Genre das ausgesprochenste Talent und
0031die geübteste, geschickteste Hand. Ein deutscher Tondichter,
0032und zwar einer der gebildesten, kenntnißreichsten — Ferdi-
0033nand Hiller — hat es kürzlich rund herausgesagt, es könne
0034kein Musiker von Fach bestreiten, daß Conradin Kreutzer,
0035Lortzing und andere in unserem Vaterlande fortwährend ge-
0036rühmte Componisten gegen einen Meister wie Auber geradezu
0037Dilettanten sind. („Aus dem Tonleben unserer Zeit“, pag. 182.)
0038Nun steht allerdings A. Thomas nicht auf gleicher Höhe
0039mit dem ungleich originelleren und frischeren Auber, noch  
0040viel weniger aber besitzen wir heutzutage in Deutschland Ta-
0041lente, welche Opern wie „Das Nachtlager“ oder „Czaar und
0042Zimmermann“ zu schreiben vermögen. Im Gebiete der gro-
0043ßen Oper sind von jüngeren deutschen Componisten doch ach-
0044tungswerthe Versuche gemacht worden; es liegt wenigstens ma-
0045teriell die Möglichkeit einer Concurrenz mit dem Auslande vor.
0046Bisher hat noch keine dieser deutschen Novitäten uns gehin-
0047dert, Richard Wagner (dessen Werke freilich eine ganz excep-
0048tionelle Stellung zum Theater einnehmen) für den einzigen
0049bedeutenden und eigenthümlichen Opern-Componisten in Deutsch-
0050land zu halten. Daß man auch minder berühmten, redlich stre-
0051benden Tondichtern aus patriotischer Rücksicht die Bühne er-
0052öffnen soll, steht außer Frage; eine ganz andere Frage ist es
0053nur, ob ihre in Leipzig, Stuttgart, Kassel zum Himmel erho-
0054benen, fünf Meilen weiter meist wieder zur Erde herabfallen-
0055den Opern wirkliche Lebenskraft besitzen. Wir können nur
0056wünschen, daß der Erfolg diese Frage mit Ja beantworte. So
0057lange man uns aber keine neue deutsche Spieloper namhaft
0058macht, welcher durch die Aufführung der „Mignon“ ein künst-
0059lerisches Unrecht widerfährt, so lange müssen wir das kritische
0060Klagelied über Zurücksetzung „besserer deutscher Novitäten“ für
0061eine leere Phrase halten.


0062Ueber die Oper „Mignon“ haben wir in diesen Blät-
0063tern bereits von Paris aus berichtet und namentlich das Ver-
0064hältniß des Textbuches zu Goetheʼs „Wilhelm Meister“ ein-
0065gehend dargestellt. Dieses Verhältniß führt starke, den deutschen
0066Zuschauer mitunter verletzende Inconvenienzen mit sich. Be-
0067trachtet man das Textbuch ohne solche kaum gerechtfertigte
0068Parallelisirung an sich, so darf man es eine technisch wohl-
0069gelungene Arbeit nennen, welche die poetischen Hauptfiguren
0070und Situationen aus Goetheʼs Roman sehr vortheilhaft ver-
0071wendet und zwischen den Extremen einer allzu verwickelten
0072Intriguenhandlung (wie sie in Auberʼs späteren Opern herrscht)
0073und einer stofflichen Dürre à la „Stradella“ die glückliche
0074Mitte einhält. Sehen wir zu, wie die Oper sich vor unseren
0075Augen abspielt. Nach der Ouvertüre, die nichts weiter ist, als
0076ein effectvoll instrumentirtes Potpourri aus den Hauptmotiven
0077der Oper, breitet sich ein behaglich fröhliches Genrebild vor
0078uns aus. Schwäbische Bürger und Bauern sitzen vor dem
0079stattlichen Wirthshause, die Sonntagsruhe bei Bier und Tabak
0080genießend; ihr Chor klingt frisch und wohlgemuth. Unter den
0081Klängen einer charakteristischen Marschmusik kommt eine Zi-
0082geuner-Gesellschaft heran, die Gäste mit Tänzen und Produc-
0083tionen zu unterhalten. In das kleine Ballet mischt sich sehr
0084hübsch der Chor der Gäste und der Gesang Philinens 
0085welche das Walzerthema aufnimmt. Mignon, die im Leiter-
0086wagen eingeschlafen ist, wird von dem Anführer mit rauher
0087Hand geweckt und aufgefordert, den Eiertanz zu produciren.
0088Sie weigert sich, der Hauptmann droht mit der Peitsche —
0089da drängt sich Wilhelm Meister heran, schützt das Kind
0090und kauft es dem Peiniger ab. Das Ensemble: „Wer kennt
0091jenen fremden Herrn?“ fesselt durch Wohlklang, feine und
0092maßvolle Haltung. Wilhelm macht sich mit Laertes, dem
0093gutmüthig leichtsinnigen Schauspieler, und mit der koketten
0094Philine bekannt, welche ihre Netze leise über ihn zu breiten
0095beginnt. Wilhelmʼs Arie: „Froh und frei“, in echt französi-
0096schem Chansonstyl, klingt anspruchslos, aber nicht vornehm ge-
0097nug; Wilhelm Meister ist Reisender, aber kein Handlungs-
0098reisender. Desto graziöser entfaltet das folgende Terzett:
0099„Welche Anmuth“ die zierlichste musikalische Filigran-Arbeit.
0100Die ersten Fragen Wilhelmʼs an Mignon und ihre Antworten
0101werden melodramatisch schlicht und rührend wiedergegeben.
0102Sind die Worte des Goetheʼschen Originals hier zwanglos ein-
0103geführt, so fällt der Versuch des Uebersetzers um so plumper
0104aus, der darauffolgenden Romanze Mignonʼs das Goetheʼsche
0105Gedicht: „Kennst du das Land“ wörtlich anzupassen. Der
0106französische Text ist keineswegs eine bloße Uebersetzung, die
0107nur rückübersetzt zu werden brauchte; er ist vielmehr eine freie
0108Umschreibung des Goetheʼschen Gedichtes, mit theilweise ganz
0109anderen Sätzen, anderem Refrain und vor Allem ganz ver-
0110schiedenem Metrum. Eine Melodie, componirt auf die Worte:
0111„Connais-tu le pays /
0112Où fleurit lʼoranger /
0113Le pays des fruits dʼor, /
0114Des roses vermeilles etc. /
0115kann man unmöglich ohne äußerste Gewalt den Versen un-
0116terlegen:
0117„Kennst du das Land, wo die Citronen blühen, /
0118Im dunklen Laub die Goldorangen glühen?“ /


0119Es ergeben sich aus einer solchen Zwangsehe zwischen
0120Wort und Melodie Declamations-Fehler crassester Art, von
0121abgeschmackten Dehnungen und Wiederholungen nicht zu spre-
0122chen. (Eine der schlimmsten Wortwiederholungen: „Kennst du
0123das Land, das Land“ — „das Haus, das Haus“ hat Fräu[2]-
0124lein Ehnn auf eigene Faust glücklich beseitigt.) Wessen Ohr
0125sich von diesem declamatorischen Attentate auf Goethe verletzt
0126fühlt, der möge weder den französischen Librettisten noch den
0127Compositeur anklagen, sondern lediglich den deutschen Bearbei-
0128ter, der durch solch pietätlose Pietät Goethe ehren zu müssen
0129glaubte.*)


0147Die Musik zu Mignonʼs Romanze, nicht von hervorra-
0148gender Erfindung, aber von sinnigem, warmem Ausdrucke, hebt
0149sich im Refrain wirksam zu leidenschaftlicherer Höhe. Musika-
0150lisch zieht uns das folgende Duett: „Ihr Schwalben in der
0151Höhe“ mehr an, eine sanfte Empfindung durchweht die an-
0152muthige Melodie des schön durchgeführten Musikstückes. Nach
0153dem kurzen Terzett mit dem herzlich klingenden Thema
0154Mignonʼs: „Ach gerne zahlt ich dir die Schuld der Dankbar-
0155keit“ füllt sich die Bühne mit geschäftigen, lebhaft erregten
0156Leutchen. Es sind die Schauspieler, welche eingeladen sind, auf
0157dem nahen Schlosse des Fürsten zu spielen. Das lustige Völk-
0158chen macht sich reisefertig, Wilhelm schließt sich der Truppe
0159als Theaterdichter an und nimmt Mignon, die sich zuvor von
0160den Zigeunern liebevoll verabschiedet, mit sich. Das ganze Fi-
0161nale, in Einem fröhlichen Zuge dahinströmend, ist mit meister-
0162hafter Geschicklichkeit angelegt und durchgeführt, wie denn über-
0163haupt der erste Act musikalisch die lebendigste und anmuthigste
0164Partie der Oper ist.


0165Der zweite Act leidet an einem empfindlichen Stocken
0166der Handlung, hat aber manche anziehende Einzelheit aufzu-
0167weisen. Er spielt in der fürstlichen Sommer-Residenz. Philine 
0168schmückt sich zur Vorstellung des „Sommernachtstraumes“ als
0169Titania, Wilhelm, an den Toilettetisch gelehnt, schwelgt in
0170ihrem Anblicke und bemerkt kaum seinen am Kamin sich wär-
0171menden Pagen (Mignon in Knabentracht), welchen Liebe und
0172Eifersucht verzehren. Das Terzett dieser drei Personen (dem
0173ein ziemlich saftloses Rococco-Madrigal des Laertes vorangeht)
0174ist theils in anmuthigem Conversationstone, theils concert-
0175mäßig gehalten, es würde durch eine gedrängter Fassung ge-
0176winnen. Die folgende Scene Mignonʼs ist nun ganz franzö-
0177sisch. Mignon putzt sich vor dem Spiegel, um es Philinen
0178gleichzuthun, dazu singt sie ein Lied mit etwas angejodel-
0179tem Refrain, das der Componist seltsam genug mit
0180„Styrienne“ bezeichnet. Wenn Mignon sich vor dem
0181Spiegel fragt: Bin ich noch Mignon?“ so antwortet jeder
0182deutsche Zuschauer: Nein, nicht mehr. Mit dieser Scene fällt
0183der Charakter aus der bis dahin bewahrten Einheit des Styls.
0184Das Lied erfreute sich übrigens hier wie in Paris eines ganz
0185besonderen Beifalls. Wilhelm eröffnet Mignon die Nothwen-
0186digkeit der Trennung und nimmt Abschied von ihr in einem
0187weich und herzlich klingenden Liede: „O weine nicht!“ Die
0188Decoration wechselt, wir befinden uns in dem fürstlichen
0189Park auf freiem Platze vor dem erleuchteten Schloßtheater.
0190Mignon, von Wilhelm verabschiedet, von Philinen gekränkt,
0191will sich ins Wasser stürzen, der alte Harfner hält sie zurück
0192und überredet sie, mit ihm in die Ferne zu ziehen. Ein kleines
0193Duett: „Drück Kummer dich“, trifft die Stimmung mit
0194richtigem und gewähltem Ausdruck, aber etwas knappen musi-
0195kalischen Gedanken. Da öffnen sich die Flügelthüren des Gar-
0196tensalons, reichgekleidete Diener mit Armleuchtern und Lam-
0197pions stellen sich auf und die vornehme Gesellschaft schreitet
0198aus dem Theater die Stufen hinab ins Freie. Philine jubelt
0199ihren Siegesrausch in einer brillanten, pikant rhythmisirte
0200Arie à la Polacca aus. Da unterbricht Feuerlärm den
0201applaus der entzückten Hörer, das Theater, von dem Harfner 
0202in Brand gesteckt, steht in Flammen. Mignon wird vermißt,
0203Wilhelm stürzt in das brennende Schloß und trägt die an-
0204scheinend Leblose auf seinen Armen aus den Flammen. Die
0205Musik wirkt in dem Finale nur decorativ.


0206Der dritte Act steht musikalisch hinter den beiden ersten
0207entschieden zurück, die Musik ist hier geradezu unbedeutend und
0208erhebt sich nur in einzelnen kurzen Lichtpunkten über das
0209Niveau einer gewanden, innerlich fühlen und dürftigen Mache.
0210Für die tiefen, heftigen Seelenkämpfe, die leidenschaftlichen
0211Situationen dieses Actes fehlen dem Componisten die entspre-
0212chenden Klänge. Der Act beginnt mit einer von ferne
0213herüberklingenden Chor-Barcarole, welcher der alte Harfner,
0214am Fenster sitzend, lauscht. Wir sind in Italien, wohin der
0215Alte und Wilhelm mit Mignon gezogen sind, um für das
0216kranke Gemüth des Mädchens Heilung zu suchen. Durch einen
0217kühnen Griff des französischen Librettisten wird hier der alte
0218Marchese, der bei Goethe als Mignonʼs Oheim auftritt, mit
0219ihrem Vater (dem Harfner nämlich) in Eine Person verschmol-
0220zen. Er erkennt sein Schloß wieder, das er vor Jahren ver-
0221lassen, um seine verlorene Tochter in der weiten Welt zu
0222suchen. Die in Mignon mächtig erwachenden Erinnerungen
0223an ihre Kindheit lassen ihn nicht länger zweifeln, daß er seine
0224todtgeglaubte Sperata wiedergefunden. Das große Wieder-
0225erkennungs-Terzett übt unstreitig eine spannende Wirkung auf
0226die Zuschauer; das Interesse ist aber weit mehr ein dramati-
0227sches als musikalisches. Eine noch schwächere Composition ist
0228das Liebes-Duett zwischen Wilhelm und Mignon, das, in un-
0229verblümt italienischen Opernstyl beginnend, in ein mattes
0230Andante übergeht und erst mit dem geschickt eingeflochtenen Ge-
0231sang Philinens hinter der Scene und dem leidenschaftlicheren
0232Schluß-Allegro sich zu lebendiger Wirkung steigert. Eine
0233fröhliche Schlußscene an den reizenden Ufern des Gardasees,
0234belebt durch Gesang und Tanz der Landleute, bringt die
0235Handlung zu vergnügtem Ende. Der alte Marquis Cypriani 
0236wird vom Volke erkannt und begrüßt, Mignon und Wilhelm 
0237ein glückliches Brautpaar, versöhnen sich mit Philinen, welche
0238nunmehr ihrem unverwüstlichen Anbeter Friedrich die lang-
0239ersehnte Hand reicht.


0240So endet hier die Oper, so ist sie ursprünglich compo-
0241nirt und in Paris gegeben. Als der große Erfolg derselben
0242die Aufmerksamkeit des Auslandes erregte, redeten einige ge-
0243sinnungseifrige Teutonen dem Componisten ein, daß der glück-
0244liche Ausgang des Stückes für Deutschland eine Unmöglichkeit
0245sei und Mignon jedenfalls im dritten Acte sterben müsse. Und
0246so componierte denn Thomas nachträglich einen anderen
0247Schluß („dénouement allemand“), welcher darin besteht, daß
0248Mignon, als sie Philinens Gesang vernimmt, leblos nieder-
0249sinkt. Trotz seiner größeren Uebereinstimmung mit dem
0250Goetheʼschen Roman scheint uns dieser tragische Schluß un-
0251passend und im Widersprache zu der ganzen Anlage und dem [3]
0252Charakter der Thomasʼschen Oper. Mignonʼs Tod zugegeben
0253hätte das Ganze als förmliche Tragödie angelegt und in einem
0254anderen Styl componirt werden müssen. Wollte der Compo-
0255nist den heiteren, behaglichen Grundton retten, der die ersten
02567 Bücher von Goetheʼs „Wilhelm Meister“ und auf Grund-
0257lage derselben die beiden ersten Acte seiner Oper beherrscht,
0258so mußte er die tragische Episode, welche in der Oper zur
0259tragischen Katastrophe geworden wäre, nothwendig opfern.
0260Entsprechend jenem Verlangen nach einem tragischen
0261Schlusse sollte für Deutschland auch der gesprochene Dialog
0262verbannt und in gesungene Recitative umgeformt werden. Die
0263deutsche Ausgabe von „Mignon“ enthält diese von Thomas 
0264nachcomponirten Recitative, welche dem leichten Conversations-
0265ton der Oper eine ungehörige Breite und Nachdrücklichkeit auf-
0266bürden. Unseres Erachtens hat die Direction des Hofopern-
0267theaters mit richtigstem Verständniß gehandelt, indem sie
0268Mignon“ in der ursprünglichen Form, ohne Recitative und
0269ohne tragischen Ausgang vorführte. Die Integrität des Goethe’-
0270schen Romans ist nun einmal für Opernzwecke nicht zu retten,
0271wozu also aus mißverstandener Pietät auch noch die Vergewal-
0272tigung des musikalischen Dramas hinzufügen, das durch seinen
0273feinen, liebenswürdigen Charakter die Theilnahme des Hörers
0274gewinnt? Mächtig ergreifend wirkt diese Oper an keiner Stelle;
0275sie ist nicht das Werk eines erfindungsreichen, originellen
0276Genies. Wol aber erscheint sie uns als die gewissenhafte Ar-
0277beit eines fein empfindenden, geistreichen und geschmackvollen
0278Künstlers, der überdies in allen praktischen Dingen eine erfah-
0279rene Meisterhand bewährt. Manchmal etwas knapp und nüch-
0280tern, flüchtig und zum Vaudeville-Styl neigend, ist die Musik
0281zu „Mignon“ doch zum größten Theile dramatisch, fein und
0282graziös, nicht von tiefer, aber von richtiger, wahrhafter, an
0283vielen Stellen auch warmer Empfindung. Ihre Vorzüge und
0284Schwächen sind echt französisch, deßhalb treten weit mehr die
0285ersteren auf der französischen, die letzteren auf der deutschen
0286Bühne hervor. Das Publicum nahm die Novität entschieden
0287günstig auf und wird sich ohne Zweifel noch mehr damit be-
0288freunden, wenn einige Kürzungen dem Total-Effecte zu Hilfe
0289kommen.


0290Die Aufführung der „Mignon“ im Hofoperntheater be-
0291zeichnet einen erfreulichen großen Fortschritt in der nur allzu
0292lange hier vernachlässigten Spieloper. Es war alle erdenkliche
0293Mühe und Sorgfalt darauf verwendet, sowol von Seite der  
0294Direction als der einzelnen Künstler. Fräulein Ehnn sang
0295und spielte die Titelrolle ganz ausgezeichnet. Wie rührend wirkte
0296der unbeschreiblich warme Ton ihrer Stimme in der ersten
0297Romanze Mignonʼs und in dem Duett mit Lothario! Wie er-
0298greifend schwang sich ihr Vortrag bei dem Monolog im Park
0299zu wahrhaft tragischer Größe empor! Das gesprochene Wort
0300behandelt Fräulein Ehnn correct und deutlich, nur etwas mo-
0301noton; sie muß trachten, ihrem Sprachorgane mehr Ausdeh-
0302nung nach Oben zu geben, auch höhere und kräftigere Töne
0303anzuschlagen. Jede Scene war gut gespielt, aber einige ließen
0304sich durch ein ausgearbeiteteres Spiel wol noch zu höherer Wir-
0305kung steigern. So schien uns die Eifersucht gegen Philine im
0306zweiten Acte nicht hinreichend scharf markirt; die Scene am
0307Kamin und der Abschied von Wilhelm, wo Mignon aus einem er-
0308zwungenen Lachen plötzlich in krampfhaftes Weinen fällt, könn-
0309ten schauspielerisch noch kräftigere Schatten und Lichter vertra-
0310gen. Wir erlauben uns diese Andeutungen in der Ueberzeu-
0311gung, Fräulein Ehnn werde sie mit Erfolg nützen und ihre
0312eminente Leistung auch auf den wenigen schwächeren Punkten
0313zur Vollkommenheit steigern. Fräulein Ehnn hat als Mignon 
0314eine der schönsten Proben ihres ungewöhnlichen Talentes ab-
0315gelegt, und der stürmische Beifall des Publicums wird ihr
0316deutlich genug gesagt haben, wie sehr man ihre Leistung ver-
0317stand und würdigte. Die trefflichste Unterstützung fand Fräu-
0318lein Ehnn durch die Herren Walter und Beck. Der
0319Charakter Wilhelm Meisterʼs mit seiner liebenswürdigen
0320Mischung von gutmüthiger Lebenslust und Sentimentalität
0321paßt ganz vorzüglich für Herrn Walter, den wir noch in
0322keiner Conversations-Oper so gut singen und sprechen hörten.
0323Sollten wir Einzelnes hervorheben, so sind es vor Allem die
0324beiden Romanzen im zweiten und dritten Acte, welche Herr
0325Walter ganz reizend vortrug. Die Rolle des Harfners (Lo-
0326thario) ist keineswegs glänzend, dabei so schwierig, namentlich
0327im schauspielerischen Theile, daß sie einen Künstler ersten Ran-
0328ges erfordert, um nicht mitunter befremdend zu wirken. Wenn
0329Herrn Beckʼs Erfolg in dieser Rolle vielleicht nicht so hand-
0330greiflich wie sonst war, so schlagen wir sein Verdienst dennoch
0331sehr hoch an. Er erwies sich als echter Künstler und brachte
0332die Rolle in Spiel und Gesang zu weit größerer Wirkung,
0333als der Pariser Darsteller des Harfners, Bataille. Phi-
0334line war Fräulein v. Rabatinsky. Im Coloratur-Gesang
0335brillant, hat diese Sängerin auch im Spiele mehr Sicherheit  
0336und Leichtigkeit entwickelt, als man von ihr in einem so un-
0337gewohnten Genre erwarten durfte. Sie hat das emsigste
0338Studium auf die Rolle verwendet. Trotzdem konnte man sich
0339nicht verhehlen, daß der Erfolg nicht überall auf der Höh-
0340des guten Willens stand und die Leistung noch merklich den
0341Charakter des An- und Eingelernten trug. In der Prosa
0342dieser anmuthigen Magyarin schlagen transleithanische Heimats-
0343klänge noch vernehmlich durch; ihre Redeweise hat etwas Ge-
0344zwungenes, Maskenartiges. Ohne Zweifel wird Fräulein
0345Rabatinsky, welche nach ihrer Bravour-Arie nach Verdienst
0346den lebhaftesten Beifall erntete, sich immer mehr in die Rolle
0347hineinleben und mit der Zeit die erwähnten Mängel abstreifen.
0348Laertes ist eine Spielpartie; der gewandte Mayerhofer zeichnete
0349sie mit wirksamen Buffostrichen. Die kleinen, aber für das
0350Ganze einflußreichen Partien des Zigeunerhauptmannes
0351und des verliebten Friedrich wurden von den Herren Hra-
0352banek
und Regenspurger sehr lobenswerth gegeben.


0353Die Ausstattung der Oper darf glänzend genannt wer-
0354den. Von den neuen Decorationen ist vorzüglich Herrn Brioschiʼs 
0355reizender „Gardasee“ zu rühmen, bei dessen Anblick das Publi-
0356cum in lauten Applaus ausbrach.


0357Herr Franz Gaul, der geistvolle Zeichner, hat eine Fülle
0358charakteristischer Costüme geliefert, von denen insbesondere die
0359der Zigeuner und der Schauspieler trefflich aussehen. Weniger
0360einverstanden sind wir mit den Costümen der beiden weiblichen
0361Hauptrollen. Philine sieht in Paris im ersten Acte nicht
0362weniger charakteristisch, aber viel weniger bunt aus; als Tita-
0363nia muß sie ein glänzenderes, ein eigentliches Theatercostüm
0364tragen und mit gepudertem Haar erscheinen, wie alle übrigen
0365Mitglieder der Hofcomödie. Geradezu unglücklich gewählt er-
0366scheint uns Mignonʼs Knabenkleid, eine geckenhafte, buntscheckige
0367Livree, welche zu dem phantastischen Wesen Mignonʼs schlech-
0368terdings nicht paßt und auch in Goetheʼs Roman nicht die
0369entfernteste Entschuldigung findet. (Mignon trägt da einen
0370Knabenanzug von grauem und blauem Taffet“, somit zwei-
0371färbig, dazu „Schifferhosen“, also keine gelben Gamaschen und
0372Jockey-Beinkleider.) Schließlich sei noch der hübschen Tänze, der
0373tüchtigen, eingreifenden Chöre und der trefflichen Mitwirkung
0374des Orchesters unter Herrn Esserʼs Leitung mit gebührendem
0375Lobe gedacht.

Fußnoten
  • *)Eine schöne Pietät, welche bei den Worten: „Ein sanfter
    Wind“ der Sylbe ein den Hauptaccent gibt und ebenso viele Noten,
    ebenso lange Zeitdauer (3 Noten in einem Tacte), wie den drei fol-
    genden Sylben zusammen! Im Allgemeinen gehört die deutsche Ueber-
    setzung der „Mignon“ nicht zu den schlechtesten, deshalb ist sie noch
    keineswegs gut. Für feinere Nuancen fehlt Herrn Gumbert offen-
    bar das Ohr. Wenn in dem Refrain des ersten Chores: „Cʼest
    aujourʼhui dimanche, dimanche“ der ganze musikalische Nachdruck
    auf das letzte Wort fällt, so muss man nicht übersetzen: „Wir haben
    Sonntag heute, ja heute“. Wie leicht fließt im Französischen
    die zarte Melodie: „Plus des soucis, Mignon“, holpricht in der
    deutschen Uebertragung: „Sei nicht von Sorgen schwer!“ — Wilhelm 
    sagt von der eitlen Philine: „Que de grâce et des charmes, quel
    regard plein de feu!" Ist dies etwa gleichbedeutend mit: "Welche
    Anmuth, welches Sehnen spricht der Blick voll Gefühl?“ —
    Auch sagt man im Deutschen nicht: „ein Buch zum Beten“, sondern:
    ein Gebetbuch. Und was dergleichen mehr ist.