Neue Freie Presse
Morgenblatt
Nr. 2394. Wien, Mittwoch, den 26. April 1871
[1]Aus dem Leben und der Correspondenz von Franz Hauser.
II.
(Briefe von Seydelmann , Jenny Lind und Otto Jahn.)
0004Ed. H. Der berühmte Schauspieler Seydelmann , am
0005Prag er Theater zugleich mit Hauser engagirt, blieb diesem
0006zeitlebens in warmer Freundschaft zugethan. Mit Schmerz
0007sieht er ihn von Prag nach Kassel übersiedeln und sendet ihm
0008eine Reihe von Briefen, deren gleichmäßige feinste Perlschrift
0009manchmal von dem etwas derben Schauspieler-Humor des
0010Inhalts absticht. „Wenn dieser Brief an Sie kommt,“ be-
0011ginnt Seydelmann ’s erster Prag er Brief vom Mai 1822, „so
0012weiß ich nichts davon, denn ich gab’ ihn gar nicht auf die
0013Post — Sie Grobian!“ Trotz dieser forcirten Lustigkeit
0014macht sich jetzt schon das misanthropische Wesen bemerkbar,
0015das später in Seydelmann überhandnahm. Obgleich er seinen
0016Director Franz v. Holbein hochschätzt, geht er nicht zu dessen
0017Soireen, „was selbst Bayer fleißig thut, Polawsky und
0018Wilhelmi “. „Ich hofire nicht,“ fährt er fort, „mich juckt es
0019nicht, gleich den Leuten so zu vertrauen, eine Art Fremdheit
0020find’ ich viel ersprießlicher; auf freundlich-süß ins Werk
0021gesetzte Schurkereien bin ich stets gefaßt, auf Dienste, die nur
0022mir allein von Nutzen, rechne ich nicht.“ Im Jahre 1825
0023finden wir Seydelmann in Kassel engagirt, von wo jedoch
0024Hauser bereits nach Dresden abgegangen war. Seydelmann
0025kann dem Freunde jetzt aus Kassel , wie früher aus Prag , be-
0026richten, daß keiner von Hauser ’s Nachfolgern in dessen Rollen
0027zu gefallen vermöge. Seydelmann fühlt sich bald unglücklich
0028in Kassel , wo Alles Convenienz ist, nichts Kräftiges, nichts
0029Gefühltes, nur Mißtrauen und Kälte. Er fragt wiederholt,
0030ob er nicht beim Dresden er Theater ankommen könnte — „ich
0031beneide Sie um Tieck’s Nähe!“ Im Jahre 1828 war
0032Börne acht Tage lang in Kassel . „Es hat ihm so
0033gefallen,“ schreibt Seydelmann , „daß er mich auf-
0034munterte, lieber heut’ als morgen davonzugehen.“ Persön-
0035liches und eine Menge Theatergeschichtchen füllen zumeist
0036Seydelmann ’s Briefe;*)
wo Kunsturtheile vorkommen, sind
0040sie ernst und strenge. So sagt er von dem berühmten Teno-
0041risten Franz Wild (1825): „Wild ist kein Künstler, ein
0042seltener Sänger, ja, aber doch ein Comödiant. Sein Don
0043Juan berechtigt zu dem Ausspruch.“ Seydelmann tadelt nun
0044das „schmähliche Verfahren“ Wild ’s, die Melodien zu ändern,
0045zu verunglimpfen, obendrein in der Försterscene ein Ariettchen
0046einzulegen. Nur als Othello findet er Wild hinreißend.
0047Noch strenger erscheint uns Seydelmann ’s Urtheil über die
0048große Schauspielerin Sophie Schröder — ein Urtheil, das
0049jedoch zu viel Treffendes enthält und zu ehrenvolles Zeugniß
0050gibt für den seltenen Ernst von Seydelmann ’s Kunstanschauung,
0051als daß es der Vergessenheit anheimzufallen verdiente. Er
0052schreibt an Hauser über die im Jahre 1825 in Kassel gasti-
0053rende Wien er Hofschauspielerin: „Auch Madame Schröder
0054ist keine Künstlerin. Das klingt nun freilich ganz entsetzlich,
0055wenn man von dieser weltbekannten Dame spricht. Mich kön-
0056nen aber Anderer Meinungen nicht gut verblüffen. Eigenschaf-
0057ten, Künstlerin zu sein, sind beiweitem nicht die Sache selbst,
0058und Madame Schröder hat’s versäumt, seltene Gaben künst-
0059lerisch zu bilden und zu einen. Daß sie in der Reihe deutsch er
0060Schauspielerinnen, die mit ihr in Einem Fache wirken, als
0061die bessere, als die beste meinetwegen dasteht, kann ihr doch
0062unmöglich schon das Prädicat der Künstlerin erwerben; in
0063diesem Fall wär’ ja der Einäugige unter den Blinden ein
0064völlig Gesunder. Madame Schröder ist nichts als eine glück-
0065liche, eine seltene Naturalistin. Seltenes Organ, seltene Kraft
0066und Dauer, heißes Blut (und nicht Gemüth!), Geschick im
0067Auffinden und Hinstellen sogenannter Knall-Effecte, ein unge-
0068fähres Fassen ihrer Aufgabe, hin und wieder auch ein
0069feiner Zug: das ist’s, was ich aus ihrem Spiele
0070erkannt. Ideal sind ihre Leistungen mir keineswegs
0071erschienen; es belebt sie eine Kraft (die übrigens weit mehr
0072vom Teufel als von Oben stammt!), sich über die Alltäglich-
0073keit zu heben; doch gilt dies nur von Augenblicken — diese
0074Augenblicke nun verblüffen und — futsch! sind die Kenner (!)
0075wie die Laien. Mir aber gelten derlei Augenblicke nichts,
0076gar nichts, wenn sie sich zum Uebrigen verhalten, wie der
0077Bettelsack zur kurfürstlich hessisch en Schatzkammer. Ein
0078mittelmäßiges Ganzes — muß es uns nicht lieber sein, als
0079ein Rafael ’scher Kopf auf einem miserablen Rumpf? An
0080einem schönen Kunstgebilde darf nichts unschön sein, und wenn
0081ich nun ein angepriesenes Kunstwerk jener hochgepriesenen
0082Frau gesehen hatte, so konnte ich mit ihr nur grollen,
0083daß so schöne Gaben gleichwol verschwendet sind.“
0084Seydelmann schien es nicht beschieden zu sein, irgendwo
0085dauernde Befriedigung zu finden; in seinen späteren Briefen
0086klagt er über Mannheim und Stuttgart , wie früher über
0087Kassel . Als Grund, warum er 1832 schon zum zweitenmal
0088um seine Entlassung vom Stuttgart er Hoftheater gebeten,
0089nennt er „die überhandnehmende Schürzenherrschaft“ einer
0090damals berühmten, dem verstorbenen König sehr nahestehenden
0091Künstlerin. „Nimmermehr kann ich dieser Wirthschaft hul-
0092digen. Und das Schlimmste von diesem öffentlichen Geheimniß
0093ist: man darf’s nicht wissen!“ Wien hieß von jetzt an
0094die Sehnsucht Seydelmann ’s, wie vordem Dresden. Seinem
0095Freunde Hauser war es vergönnt, wonach Seydelmann so
0096lange vergeblich strebte, eine würdige Stätte seiner Thätigkeit
0097zuerst in Dresden , dann in Wien zu finden.
0098Sehr interessant, charakteristisch für die Schreiberin wie
0099für den Empfänger, sind die Briefe Jenny Lind’s an
0100Hauser . Es spricht daraus jenes tiefe Freundschaftsgefühl,
0101jene bis zum Herben strenge Wahrhaftigkeit und Moralität,
0102welche wir an dieser Künstlerin kennen. Wir begreifen, wie
0103treu ihr Jeder anhing, den sie einmal in ihr Herz geschlossen,
0104während kaum Jemand, dem nur oberflächlicher Verkehr mit
0105Jenny Lind vergönnt war, sie „liebenswürdig“ gefunden hat.
0106Unser Hauser erfreute sich ganz besonderer Bevorzugung von
0107Seite dieser Künstlerin; als Mensch und Künstler stand er
0108ihr überaus hoch. Jenny Lind brachte Hauser bei ihrer ersten
0109Kunstreise nach Wien einen Empfehlungsbrief von Mendels-
0110sohn und verkehrte viel und gern mit Hauser . Bald nach
0111ihrer Abreise von Wien beginnen ihre Briefe, deren große [2]
0112ungefüge Lateinschrift in nicht allzu leserlichen Zügen und nicht
0113allzu correctem Deutsch eigenthümlich zu uns spricht. „Ich
0114habe oft, seitdem ich von Wien fort bin, an Sie gedacht,“
0115schreibt sie aus Bremen im Juni 1845 an Hauser , „und oft
0116im Gedanken an Sie geschrieben — aber nun kommt es auf
0117einmal wieder so mit Gewalt über mich, daß muß Ihnen
0118sprechen mit ein schlechten Feder, schlimmes Papier und in
0119deutsch en Sprache! Aber was schadet das Alles, wenn man
0120an einen Mensch schreibt. Ich habe was auf’s Herz, und das will
0121ich Ihnen ordentlich erzählen, aber zu allererst: ich danke
0122Ihnen für die Zeit, die ich in Wien war! ich danke Ihnen
0123dann aus vollstem Herzen für die Freundschaft, die Sie mir
0124gegeben und bewiesen. Ich danke Ihnen, daß Sie mir er-
0125kannt, ich meine, daß sie gleich auf der Stelle bemerkt, daß
0126auch mir der liebe Gott ein Herz gegeben! und nun kommt
0127meine Erzählung: ich habe Sie innig herzlich lieb gewonnen
0128und fühle mit Bestimmtheit, daß ich Sie nie in meinem
0129Leben werde vergessen können, und daß Sie zu denen (ge)hören,
0130für die ich wol ein großes Opfer machen könnte, wenn es
0131darauf käme! Dies ist allerdings ein Geheimniß, was die
0132ganze Welt wissen darf, das was unter uns Viere (ich
0133meine nicht vier Augen) doch am hübschesten bleibt. So,
0134nun bin ich gleich leichter zu Muthe. Glauben Sie nur
0135nicht, daß ich irgend ein Brief oder Antwort verlange, oder
0136daß Sie eine Correspondenze auf dem Halse bekommen haben.
0137Nein, das ist ja nicht nöthig, aber doch möchte ich doch ein-
0138mal hören, wie es Ihnen alle geht! Sie sind doch wohl in
0139Wien nächsten Winter? Denn wie soll es denn gehen, wenn
0140ich nicht Ihr freundliches Gesicht auf der Bühne zuweilen zu
0141sehen kriege, oder Ihren väterlichen Rath oder dergleichen?
0142Am Rhein war es schön! Die Zeit ist sehr sehr schnell vor-
0143über gegangen, aber sie lebt doch in frischen Farben in mein
0144dankbares Herz. Denn das größte Glück bleibt doch: Reine,
0145Edle Menschenherzen zu finden. Sie zweifeln gewiß
0146nicht, daß dies Bezug auf meine Reisegefährten hat! Ach!
0147Das Leben ist schön, das Leben ist reich. Das Andere
0148muß aber etwas ruhiger und länger werden, sonst bleib’ ich
0149glaub’ ich lieber hier! Aber — Scherz bei Seite — mögen
0150wir uns doch am liebsten bald da wiedersehen, wo
0151keine Trennung mehr vorkommt (aber wieder kein
0152Wiedersehen, und das ist schade!) Gott beschütze Sie!
0153Für immer Ihre treu ergebene Jenny Lind.“
0154Die nächsten Briefe sind schon nach München gerichtet, wo
0155Hauser Director des Conservatoriums geworden war. „Sind
0156Sie noch krank?“ fragt Jenny Lind . „Ja, ja — das ist
0157eine böse Krankheit, wenn man sich nach irgend etwas sehnt,
0158besonders nach dem Vaterlande! Ach warum sind die meisten
0159Menschen entweder dumm, boshaft, neidisch oder ohne
0160die geringste Auffassung? Warum haben alle nicht so ein
0161Gebirgsgemüth wie z. B. Gasser, für dessen Gefühle
0162und Aeußerungen ich niederknien könnte, so rein und himmels-
0163blau kommen sie alle heraus!**)
Wie neugierig bin ich, zu
0165sehen, wie der liebe Gott die Menschen classiren werde ein-
0166mal. Da gibt’s eine schöne Geschichte. O Friede! O stille zu-
0167rückgezogene Häuslichkeit! Wann werd’ ich in deine Thüre ein-
0168gelassen!“
0169Der herzliche, freundschaftliche Ton bleibt sich immer
0170gleich, auch in folgenden Briefen, die Jenny Lind zu Anfang
0171des Jahres 1847 aus Wien an Hauser schreibt. „Nun schrei-
0172ben wir also 1847! Ja, alles geht in der Welt — und
0173Sieben und vierzig wird wol auch gehen. Mögen Sie froh, ge-
0174sund und glücklich bleiben, und mögen Sie überhaupt es so
0175haben, wie ich’s Ihnen wünsche. Aber Sie wissen ja, man
0176kann nur das Beste für seine Freunde hoffen und wünschen,
0177das Leiden kann man dennoch nicht immer vorbeugen! Ich
0178werde Sie immer mit der aufrichtigsten Freundschaft gedenken,
0179und zwischen uns wird’s immer beim alten bleiben, d. h. wir
0180werden uns gewiß immer gut verstehen und vertragen können
0181und fürchte nie, daß eine veränderte Stimmung zwischen uns
0182je eintreffen wird. Dafür bürge ich und ich weiß — Sie
0183auch.“ „Wohin werden aber die Wiener zuletzt kommen, bester
0184Hauser ? Es ist zu toll. Ich war gestern im Kärnthnerthor
0185(oder wie schreibt man das Wort) und hörte Robert und
0186es ging so schändlich, daß ich weiß keine Worte dafür.
0187Die Hasselt-Barth sang Alice ! und die Zerr die Prin-
0188zessin , o du mein Himmel! und das Publicum hat gerast!
0189Ich zittere noch heute, wenn ich an dies Tremulando von
0190diesen beiden Damen denke. Das ist uns’re jetzige Kunst! Es
0191ist viel besser in München , und sogar bei Pokorny ist es
0192viel besser. Gott sei Dank, ich bleibe nicht lange. Die Regi-
0193mentstochter wird wol übermorgen sein, Staudigl macht den
0194Sergeanten.“
0195Am 20. Februar 1847 schreibt Jenny Lind sehr aufgeregt
0196über die durch Lola Montez heraufbeschworenen Unruhen in
0197München , von welchen Hauser ihr eben Nachricht gegeben:
0198„Ich kann Ihnen nicht beschreiben,“ ruft sie aus, „wie mich
0199die Sachen aufgeregt! Ist denn alle Vernunft ausgestorben?
0200und kann man denn so eine ganze Nation wegwerfen? Es ist
0201traurig. Gebe Gott , daß da bald was geschieht — aber
0202bald — und daß Sie in voller Ruhe dort bleiben können,
0203und daß irgend eine Veränderung eintreffe und Sie wieder
0204vielleicht nach Wien kämen — so passen Sie mal auf (wie
0205der Dessauer immer sagt) dann heirathe ich hier in Wien ,
0206damit wir zusammen bleiben. Sonderbar, wie es nur in der
0207letzten Zeit sonderbar geht! So viel Spectakel in London ,
0208daß ich lieber ich weiß nicht was thue, als hinzugehen, und
0209nach München zu gehen wird jetzt bedenklich. Gott behüte
0210Euch vor Revolution; die Sache ist zu scabrös und fordert
0211große Opfer, ehe es wieder gut gehen kann. Ist denn so un-
0212möglich, dies verlorene Wesen wegzubringen, todt oder lebendig
0213— einerlei? Nein, das ist wahr, etwas Aehnliches hat man
0214nie erlebt; keine Zeit, schlecht sie auch war, vermag etwas
0215Aehnliches aufzuweisen!“ Von der Politik geht die Brief-
0216stellerin nun zur Kunst über und berichtet von der ersten Auf-
0217führung der „Vielka “ im Wiedener Theater. „Die Oper ist
0218sehr gut aufgenommen worden und Meyerbeer stürmisch
0219empfangen. Ich hatte eine solche Angst, daß ich stockheiser
0220war, und begreife nicht, daß man mich nicht ausgepfiffen hat.
0221Die Oper enthält viel Schönes, etwas lang — aber je mehr
0222man sie hört, desto mehr versöhnt man sich damit. Sag’ ich,
0223daß die Oper für die Wiener so eigentlich paßt, so lüge ich,
0224aber sie sind Alle in solcher Aufregung, daß sie noch nicht [3]
0225wissen, wie es zusammenhängt. Von halb 11 Uhr an war
0226der Schauplatz beinahe gefüllt, und also beinah dreizehn Stun-
0227den sind die Menschen dagesessen! Oh Dieu !! Ich sehne
0228mich so nach dem Frühling und von der Bühne! Nach
0229jeder Vorstellung nimmt dieser Wunsch bei mir zu. Die
0230Intriguen in London will ich nicht mitmachen; in dieses
0231Elend hinzugehen, fällt mir nicht ein, denn es ward gewiß
0232um mich geschehen, dies Alles kann mein Talent nicht tragen!
0233Heute ist wieder die „Vielka “ — Gott stehe uns Allen bei!“
0234Diese Abneigung gegen London verkehrte sich bald in das
0235Gegentheil, denn noch im selben Jahre (August 1847) schreibt
0236Jenny Lind von dort an Hauser : „Ich habe eine schöne Zeit
0237erlebt und es ist mir gelungen das ganze Theater auf meinen
0238Schultern zu tragen und das ist meine einzige Entschuldigung
0239warum ich nicht geschrieben. Ich habe sehr viel gearbeitet und
0240bin auch reichlich belohnt, denn das hiesige Publicum behandelt
0241mich wie ihr Kind! und ich finde die Engländer das
0242dankbarste Publicum das existirt. Mit der Nachtwandlerin
0243hab’ ich besonders Glück gemacht und wir hätten diese Oper
0244allein geben (können) die ganze Saison. Die Königin ist sehr
0245gnädig und lieb gegen mich gewesen, die Mutter Grisi
0246aber — sie mag mir gar nicht leiden.“
0247Eine lebhafte Correspondenz von durchaus ernstem, meist
0248musikwissenschaftlichem Inhalte verband Hauser mit dem
0249trefflichen Mozart -Biographen Professor Otto Jahn. Ein
0250Päckchen Briefe von Letzterem liegt uns vor, sie reichen vom
0251Jahre 1853 bis 1868 — immer dieselben unverändert festen,
0252sauberen Züge, die engste, kleinste, aufrechtstehendste aller
0253Rabenfederschriften! Sebastian Bach und die Ausgabe
0254seiner Werke durch die „Bach-Gesellschaft“ bilden den Stoff
0255der ersten, noch aus Jahn ’s Leipzig er Aufenthalt stammenden
0256Briefe. Hauser war im Besitze zahlreicher sehr werthvoller
0257und seltener „Bachica“; es wird von Seite Jahn’s um
0258Mittheilung derselben für die Bach-Gesellschaft gebeten, über
0259Thätigkeit und Methode der letzteren berichtet, endlich der Rath
0260Hauser ’s in Betreff einzelner Bach -Editionen und Autographe an-
0261gesucht. Jahn ’s Briefe bleiben meistens streng bei der Sache, doch
0262enthalten einige davon auch manche willkommene Abschweifung und
0263feine selbstständige Bemerkung: „Wenn Sie nicht ein so lebens-
0264erfahrener Mann wären,“ apostrophirt er einmal seinen Freund
0265Hauser , „würde ich Ihnen eine schöne Entschuldigung her-
0266setzen, warum ich erst jetzt schreibe: so aber zweifle ich nicht
0267im mindesten, daß Sie genau wissen, wie es zugeht, daß man
0268zu Zeiten alle seine Briefe in Gedanken, aber keinen mit der
0269Feder schreibt. Warum hat man noch keinen Gedanken-Tele-
0270graphen erfunden? Man wird es gewiß, aber hoffentlich er-
0271leben wir es nicht mehr, wo sollte man vor lauter Gedanken
0272hin?“ Während Jahn noch an seinem „Mozart “ arbeitete, beschäf-
0273tigte ihn bekanntlich schon der Plan einer später zu verfassen-
0274den Beethoven-Biographie . Darauf bezieht sich folgende Stelle
0275aus einem Briefe Jahn ’s vom 19. Juni 1858: „Was Sie
0276über das Verhältniß Mozart ’s und Beethoven ’s andeuten, in-
0277teressirt mich lebhaft und hat mich, wie Sie denken können,
0278lange und lebhaft beschäftigt. In Mozart kann ich Sie fast
0279ganz umgehen und thue es absichtlich, weil ich so weitgrei-
0280fende Fragen nicht gern abstract, sondern vom Concreten aus
0281und in ihrem ganzen lebendigen Zusammenhange behandle;
0282bei Beethoven liegt die Frage nothwendig vor, und mir graut
0283davor, nicht weil ich mich fürchte, offen herauszureden, sondern
0284weil so etwas nicht blos Schweiß, sondern Herzblut kostet.
0285Ihre Gegensätze: Italienisch — deutsch , akademisch — nicht aka-
0286demisch sind gewiß treffend, aber ich meine, man muß noch
0287weiter hineingehen, und ich weiß nicht, wie weit Sie mitgehen.
0288Mir scheint, der alte nie endende Kampf um die Freiheit des
0289Individuums, den der Humanismus, die Reformation, die
0290Revolution u. s. w. an anderen Stellen der geistigen Exi-
0291stenz begonnen haben, den hat Beethoven in der Musik auf-
0292genommen. Mit Ernst und Wahrheit unternehmen das nur
0293große Naturen, und noch hat es Keiner gethan, ohne die Ge-
0294fahren aufzudecken, die es ihm und seinen Nachfahren bringt.
0295Ich glaube, seine Größe und seine Schwächen liegen in diesem
0296Keime nothwendig beschlossen, darum zeugen auch seine
0297Schwächen für seine Größe. Natürlich trauen Sie mir nicht
0298zu, daß ich ihn für einen Radicalen in Religion, Politik,
0299Philosophie, nebenbei auch in Musik halte, wie man jetzt zu
0300schwatzen liebt, ich spreche von seiner innersten künstlerischen
0301Natur. Aber, bester Freund, das ist ein Meer auszutrinken
0302und nichts für einen Brief.“
0303Zehn Jahre später (1868) correspondiren die beiden
0304Freunde über die Herausgabe einer Auswahl von M. Haupt-
0305mann’s Briefen. Nach dem Tode dieses berühmten Musik-
0306Theoretikers und geistvollen Schriftstellers hatte Jahn sich
0307entschlossen, eine Auswahl von Hauptmann ’s Briefen zu ver-
0308öffentlichen. „Ich denke, das kann und soll ein Buch werden,
0309wie es nicht viele gibt!“ Hauptmann hat mitunter seine
0310treffendsten Urtheile, seine geistreichsten Ausführungen in
0311freundschaftlichen Briefen niedergelegt, und wer je einige
0312davon gelesen, wird obigem Ausrufe Jahn ’s beistimmen und
0313mit uns bedauern, daß jenes Unternehmen noch immer nicht
0314ausgeführt ist. Vielleicht die kostbarsten Briefe Hauptmann ’s
0315waren an Hauser gerichtet, der, in langjährigem freundschaft-
0316lichsten Verkehr mit ihm stehend, drei Bände solcher Briefe
0317von Hauptmann besaß und an Jahn einschickte. Letzterer starb
0318über der Redaction dieser Briefsammlung, welche sich wahr-
0319scheinlich in Händen der Herren Breitkopf und Härtel in
0320Leipzig befindet. Möchten diese Zeilen dazu beitragen, die
0321hochverdienten Verleger zur baldigen Herausgabe dieses Brief-
0322schatzes anzueifern! Jahn’s letzter kurzer Brief an Hauser
0323(aus Bonn , den 15. Juni 1869) macht einen tiefwehmüthigen
0324Eindruck. „Sie machen sich,“ beginnt er, „eine falsche Vor-
0325stellung von meiner Gesundheit, lieber Freund, wenn Sie
0326mich auf einem Musikfest vermuthen. Seit mehreren Jahren
0327habe ich mich von allem socialen und wissenschaftlichen Um-
0328gang und Verkehr ganz zurückgezogen und lebe ganz isolirt.
0329Musik habe ich seit drei Jahren keinen Ton gehört und werde
0330keinen wieder hören. Besonders in diesem Jahre ist mein
0331Befinden so gesunken, daß ich mit Mühe den Pflichten des
0332Amtes nachkomme. Da sieht es nicht gut mit Hauptmann ’s
0333Briefen aus, die Frische und Freiheit und Kraft verlangen;
0334vielleicht hilft der Sommer noch etwas nach.“ Der Sommer
0335hat leider nicht nachgeholfen: der unvergeßliche und unersetz-
0336liche Mann starb wenige Wochen nach jenem Briefe.
0337(Ein dritter und letzter Artikel folgt.)