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Neue Freie Presse
Morgenblatt
Nr. 8488. Wien, Donnerstag, den 12. April 1888

Musik.

(Philharmonisches Concert. — „Parsifal “. — Ein Buch von H. Ehrlich.)

Ed. H. Das letzte Philharmonische Concert wurde mit Berlioz’ Ouvertüre zu „Benvenuto Cellini “ eröffnet, einem Tonstück, zu dessen Bewunderung unsere Concert-Dirigenten uns seit einem Vierteljahrhundert zu erziehen bemüht sind. Trotzdem scheint das Publicum dem Dinge noch immer mehr verblüfft als erbaut gegenüberzustehen. Was mich betrifft, so hat schon zu einer Zeit, da ich der Musik und der fesselnden Persönlichkeit Hector Berlioz ’ näher gestanden, mir der Bekanntschaft seiner vier Ouvertüren zu „Cellini “, den Vehmrichtern “, „Wawerley “ und dem „Corsar “ eine bittere Enttäuschung bereitet. Und diese Enttäuschung steigert sich fast zum Widerwillen mit jeder neuen Aufführung dieser Werke. Sie sind erquält, styllos, unmusikalisch, in ihren Gesangstellen trivial und abstrus in ihren Durchführungen. Des Componisten der „Fee Mab “ und der „Liebesscene “ scheinen sie mir unwürdig. Die Ouvertüre zu „König Lear “ packt uns doch stellenweise durch ihr starkes Pathos und läßt uns obendrein die Freiheit, ob wir das Verrückte darin auf Rechnung des Königs Lear oder des Tondichters stellen wollen. Die Ouvertüre zum „Römischen Carneval “ wirkt durch ihren festlichen Glanz und eine aufgeregte, aber nicht unnatürliche Fröhlichkeit. Eigenthümlich und pikant, wie Alles von Berlioz , ist auch die Cellini-Ouvertüre , aber es fehlt ihr schlechterdings die musikalische Seele. Wenn man die langsame Einleitung hört mit ihrer kläglichen melodischen Armuth und harmonischen Ungeschicklichkeit und dann den außer Rand und Band fahrenden Schlußspectakel, so möchte man das einem Anfänger zuschreiben. Ja selbst Berlioz ’ glänzendste Specialität, seine Instrumentirung, glaubt man hier noch in den Windeln zu sehen, schmeckten nicht wieder andere Stellen nach der Ueberreizung blasirten Alters. Wenn von manchen Seiten behauptet wird, erst die Zukunft werde dieser und den früher genannten Ouvertüren den verdienten Triumph bringen, so möchte ich eher das Gegentheil vermuthen; ihre Zeit scheint mir bereits vorüber. Zu Ende der Dreißiger- und Anfangs der Vierziger-Jahre hat der jüngere Theil des Publicums und der Kritik sich davon blenden lassen. Heute, wo die von Berlioz erfundenen berückenden Orchester-Effecte so vielfach nachgeahmt, zum Theile auch schon überboten sind, erkennen wir — nicht mehr bestochen von der Farbe — das unsäglich Dürftige und Dilettantische der Zeichnung. Männer von feinster musikalischer Bildung und Empfindung, wie Mendelssohn, haben das freilich schon in jüngeren Jahren auf den ersten Blick erkannt. In einem Brief an einen Freund Ignaz Moscheles schreibt Mendelssohn im Jahre 1834: „Was du von Berlioz ’ Ouvertüre schreibst (Les francs-juges ), ist mir recht aus der Seele gesprochen; es ist ein wüstes, prosaisches Stück, und doch noch eines seiner menschlicheren. Mir kommt es immer vor, als müßte ich aus dem Faust dabei singen: Sie kam vor Angst am lichten Tag der Küche zugelaufen, zernagt, zerkratzt das ganze Haus, wollt’ nichts ihr Wüthen nützen; sie fuhr herum, sie fuhr heraus und soff aus allen Pfützen. Denn seine Instrumentirung ist so entsetzlich schmutzig und durcheinander geschmiert, daß man sich die Finger waschen muß, wenn man mal eine Partitur von ihm in der Hand gehabt hat. Zudem ist es doch schändlich, seine Musik aus lauter Mord, Noth und Jammer zusammenzusetzen; denn selbst wenn’s gut wäre, käme nichts Anderes darin vor, als solche Atrocités. Er hat mich eigentlich zu allererst recht melancholisch gemacht, weil er so klug und kalt und passend über alle Anderen urtheilt, so gänzlich vernünftig ist und so grenzenlos unvernünftiges Zeug bei sich gar nicht bemerkt.“ Und bei einer andern Gelegenheit: „Könnte ich’s nur wenigstens apart finden oder gewagt oder keck das ganze Wesen; ich finde es blos langweilig und gedankenlos.“

Einen überaus wohlthuenden Gegensatz zu der Berlioz ’schen Ouvertüre bot die von Esser instrumentirte F-dur-Toccata von Sebastian Bach. Mit höchster und klarster Kunst aufgebaut, strotzend von Kraft und Gesundheit, wirkte dieses wunderbare Stück neuerdings ganz außerordentlich. Und mit welch großartiger Einfachheit, so völlig im Geiste des Originals ist es von Esser orchestrirt; wie selten treten die Blasinstrumente heraus und wie gewaltig wirken sie dann!

An dritter Stelle stand eine Novität, welcher die stärkste Erwartung entgegenkam: der „Charfreitagszauber“ aus Wagner ’s Parsifal. So aus dem scenischen Zusammenhang gerissen, bedarf dieses Stück einer Erläuterung, und die meisten Hörer dürften eine solche im Programm sehr vermißt haben. Die Scene, wie sie zu Anfang des dritten Actes sich vor uns abspielt, ist folgende: Wir sehen Gurnemanz, als Greis, in einer anmuthigen Frühlingslandschaft. Es ist Charfreitagsmorgen. Gurnemanz  hat einen Klageruf vernommen und entdeckt im Dorngestrüpp die erstarrte Kundry , die er zum Leben erweckt. Bald erscheint Parsifal , in schwarzer Rüstung. Gurnemanz berichtet ihm die trostlose Lage des Grals, wie Titurel gestorben ist und Amfortas des heiligen Amtes nicht mehr waltet. Parsifal , welcher ohnmächtig zusammenzubrechen droht, wird von Gurnemanz zum heiligen See geleitet. Dort wird ihm die Rüstung abgenommen, Gurnemanz netzt sein Haupt und Kundry seine Füße, die sie mit ihren Haaren trocknet. Sodann wird er von Gurnemanz gesalbt, und Parsifal tauft die heftig weinende Kundry . An diesen Weihe-Act schließt sich ein träumerisch sanftes, breites Orchesterstück, das unter dem Namen „Charfreitagszauber“ bekannt, auf dem poetischen Gedanken beruht, daß an diesem Morgen die Natur, gleichsam etnsühnt, besonders reizvoll und duftig erblühe. Der einleitende Satz, welcher zu der Salbung erklingt und von Gralsmotiven durchzogen ist, hat einen ernsteren weihevolleren Charakter. Ueberaus lieblich ist dagegen der sich anschließende Satz, der, mit Bezug auf Parsifal ’s Ausruf: „Wie dünkt mich doch die Aue heut’ so schön!“, auch kurzweg „die Blumenaue“ genannt wird. Wagner hat sich hier ganz als Musiker wohlig ergehen lassen. Dramatisch nothwendig ist weder „die Blumenau“, noch weniger ihre Repetition. Ja die Musik hemmt übermäßig die Handlung, welche gerade in diesem Moment auf Beschleunigung dringt. Denn Parsifal weiß ja, daß jeder Augenblick des Zögerns das Unheil des qualvoll dahinsiechenden Amfortas vermehren und das Verderben der Gralsritter beschleunigen muß. Aber die Zuhörer danken dem Componisten herzlich für diese, wie für manche andere Inconsequenz gegen sein strenges dramatisches Princip. Erquickt von dieser ungehemmt in breitem Bette dahinfließenden zarten Musik, verweilen sie gerne bei der mit solcher Vorliebe ausgesponnenen religiösen Idylle. Wer in Bayreuth  gewesen, gedenkt gerne des friedlich anmuthenden Bildes, wie Parsifal in schneeweißem Christusgewand an der heiligen Quelle sitzt, während die reuige Kundry ihm die Füße wäscht und der greise Gurnemanz ihm das lockige Haupt salbt. Das Ganze gehört zu jenen Wagner ganz eigenthümlichen Scenen, die wie ein stimmungsvolles Gemälde fesseln. Die lyrischen Schönheiten sind vorherrschend in der Parsifal -Musik und unter ihnen wieder eine der glücklichsten der „Charfreitagszauber“. Daß dieser im Concert nicht entfernt die Wirkung macht, wie im Theater, sie nicht machen kann, bedarf keines Beweises. Wir haben es bereits an den Concert-Aufführungen des Parsifal -Vorspiels und der „Gralsfeier“ erlebt, daß mit solchen Fragmenten nur der Neugierde gedient ist. Bruchstücke eines uns fremden unverständlichen Bühnenwerkes treten uns entgegen, wir lernen sie gleichsam unter einer Maske kennen, welche nur die Stimme frei läßt, aber das Gesicht verhüllt. Auf dieses können wir blos rathen. Man thäte wol am besten, mit solchen Spielereien, welche am allerwenigsten zum Vortheile Wagner ’s gedeihen, so lange innezuhalten, bis „Parsifal “ von dem Bayreuth er Monopol erlöst und gleich den (früher ebenfalls für unverpflanzbar ausgegebenen) „Nibelungen “ Gemeingut des musikalischen Europa geworden ist. — Nicht blos als Componist des „Charfreitagszaubers“ ist uns Wagner im letzten Philharmonischen Concerte entgegengetreten, sondern obendrein als Interpret Beethoven ’s. Das Concert schloß nämlich mit Beethoven ’s A-dur-Symphonie , und Herr Hanns Richter hatte die glückliche Idee, auf dem Programm einen geistreichen Einfall R. Wagner ’s über das Finale dieser Symphonie bekanntzugeben. Da derselbe bisher nicht bekannt gewesen und gewiß weitere Kreise interessirt, führen wir ihn hier an. In einem Briefe an die Witwe des bekannten Dresden er Violoncell-Virtuosen F. A. Kummer bemerkt Wagner über den letzten Satz der A-dur-Symphonie : „In Schweden erfährt man von der verlockenden, bezaubernden Weise des „Strömkarl“ (Wassernixe): Der Strömkarl Glag  soll elf Variationen haben, von welchen man aber nur zehn tanzen darf, die elfte gehört dem Nachtgeiste und seinem Heer; wollte man die aufspielen, so fingen Tische und Bänke, Kannen und Becher, Greise und Großmütter, Blinde und Lahme, selbst die Kinder in der Wiege an zu tanzen. Der letzte Satz der A-dur-Symphonie ist diese erste Variation.“

Ist das nicht allerliebst? Und ist es nicht räthselhaft, daß derselbe Mann über dieselbe Symphonie (in seinem Buch e über Beethoven ) folgenden affectirten „Tiefsinn“ schreiben konnte: „Aller Schmerz des Daseins bricht sich an dem ungeheuren Behagen des Spieles mit dem Humor; der Weltenschöpfer Brahma lacht über sich selbst, da er die Täuschung über sich selbst erkennt.“ (!) Ja, an Widersprüchen ist nicht blos Wagner ’s musikalische Theorie und Praxis überreich, sondern ebensosehr sein philosophischer und religiöser Codex. Letzterer geht uns freilich nichts an, er hat für uns ein rein biographisches, nebensächliches Interesse. Geschichtlich existirt Wagner lediglich als epochemachender Musiker und Musikschriftsteller, nicht als Philosoph, als socialer und religiöser Reformator. Wem es um Philosophie, um Religion Ernst ist, der schöpft seine Kenntnisse und Ueberzeugungen gewiß aus anderen Quellen, als aus Wagner ’s Musikdramen und Aufsätzen. Aber das wollen seine fanatischen Anhänger nicht Wort haben und fallen heftig über Jedermann her, der gegen die philosophische oder christliche Autorität Wagner ’s das leiseste Bedenken äußert. So ist denn auch Professor Heinrich Ehrlich in Berlin wegen eines sehr maßvoll gehaltenen Aufsatzes über „Wagner’s religiöse Anschauungen “ scharf angefaßt worden, von den Bayreuthianern, deren Christenthum, wie er sagt, „sich vorzugsweise im Schimpfen kundgibt“. Ehrlich hat darauf aufmerksam gemacht, daß Wagner ’s vielbesprochener Aufsatz: Religion und Kunst “ gerade das Gegentheil des Princips aufstellt, das Wagner in seinen größten Musikdramen, Tristan “ und „Ring der Nibelungen “, zur Ausführung gebracht hat. Hier (sagt Ehrlich ) wollte Wagner den „natürlichen“, den „jugendlich schönen“, den „wahren Menschen überhaupt“ schildern, der seine Gefühle über die conventionellen Moralitäts-Gesetze erhebt; Siegmund und Sieglinde , Tristan und Isolde sind ja auch genugsam als die Urbilder solcher wahrer, schöner Menschen gepriesen worden. Um so verwunderlicher mußte nunmehr eine Schrift Wagner ’s erscheinen, worin die Tonkunst als diejenige Kunst bezeichnet wird, welche „das eigenste Wesen der christlichen Religion mit unvergleichlicher Bestimmtheit offenbart“, die „als reine Form eines gänzlich vom Begriffe losgelösten Gehaltes, als eine welterlösende Geburt des Dogmas von der Nichtigkeit der Erscheinungswelt selbst gilt.“ Diesen verwunderlichen Widerspruch erklärt Ehrlich einfach damit, daß Wagner zu jener Zeit den „Parsifal “ vollendete und daß die Leute darauf vorbereitet werden sollen, in diesem Werke die wahre christliche Kunst zu erblicken. Falsche historische Prämissen und ganz willkürliche Folgerungen Wagner ’s werden mit gleichem Freimuthe demaskirt. „So sehen wir denn,“ klagt Wagner , „die griechisch e Kunst ohne den griechisch en Genius das große römisch e Reich durchleben, ohne eine Thräne der Armen trocknen, ohne dem vertrockneten Herzen des Reichen eine Zähre entlocken zu können!“ Darauf erwidert Ehrlich : „Wir kennen heute eine Kunst, die sich rühmt, sehr christlich zu sein, welche solch’ ein Wunder auch nicht zu Stande gebracht hat! Wem ein Herz für seinen Nächsten in der Brust schlägt, der hilft ihm, ohne je eine Symphonie oder ein Musikdrama gehört zu haben, und wer es nicht hat — der wird auch nach der schönsten christlichen Kunstleistung ein eudämonistischer liebenswürdiger Genußmensch bleiben.“ Bekanntlich war das Princip der ausschließlich vegetabilischen Nahrung Wagner  zur fixen Idee geworden (nicht für ihn selbst, der Fleisch aß, aber für die ganze übrige Welt), und er sieht in der Unmöglichkeit, „diese Verordnung des Erlösers (!)“ bei allen Bekennern durchzuführen, einen Grund des so frühen Verfalls der christlichen Religion und des unaufhaltsamen Verfalls des menschlichen Geschlechtes selbst. Um den Vegetarianismus als eine Verordnung des Erlöser s selbst hinzustellen, sagt Wagner vom Abendmal Christi : „Sein eigenes Fleisch und Blut gab er als letztes, höchstes Sühnopfer für alles sündhaft vergossene Blut und geschlachtete Fleisch dahin und reichte dafür seinen Jüngern Wein und Brot zum täglichen Male: solches allein genießet fortan zu meinem Andenken. Dieses das einzige Heilamt des christlichen Glaubens: mit seiner Pflege ist alle Lehre des Erlöser s erfüllt.“ Ehrlich entgegnet hierauf mit vollem Rechte: „Die Worte: „Solches allein“ hat Christus nicht gesagt. Sie sind weder in Matthäi 26 , noch in Marcus 14 zu finden. Dagegen steht im Evangelium Lucas  ausdrücklich: „Mich hat herzlich verlangt, das Osterlamm mit euch zu essen.“ Wagner ’s Beweisführung mag also für diejenigen maßgebend sein, welche das Evangelium nicht kennen, gerade wie der „Parsifal “ viele Leute kirchlich stimmte — die nie in die Kirche gingen.

Wir haben diese Stellen angeführt, nicht um uns in eine Discussion über Wagner ’s Christenthum einzulassen, das uns so gleichgiltig läßt, wie seine vegetarianische Propaganda, sondern um auf das neue Buch von Professor Ehrlich *) aufmerksam zu machen, in welchem der Aufsatz über „Wagner’s religiöse Anschauungen “ enthalten ist. Der Musiker und Musikfreund findet darin außerdem eine Reihe biographischer Studien über Brahms, Robert Franz, Liszt, Gounod, Rubinstein, Bülow, Niemann u. A., die mit Geist und Sachkenntniß geschrieben sind.

Fußnoten
  • *)Aus allen Tonarten .“ Studien über Musik von Heinrich Ehrlich . (Berlin , bei Brachvogel & Ranft. 1888.)