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Neue Freie Presse
Morgenblatt
Nr. 9099. Wien, Sonntag, den 22. December 1889

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Concerte.


0002Ed. H. Unmittelbar nacheinander haben zwei unserer
0003größeren Gesangvereine ihre öffentlichen Productionen be-
0004gonnen: der „Wiener Männergesang-Verein“ und
0005die „Sing-Akademie“. Im Männergesang-Verein kann
0006man nicht blos auf vortreffliche Ausführung, sondern jeder-
0007zeit auch auf einige Novitäten zählen. Es gab deren am letz-
0008ten Mittwoch nicht weniger als sechs. Rubinstein’s 
0009Kriegslied“ (ohne Begleitung) fiel gänzlich ab; es ist schlecht
0010declamirt und erzielt, trotz des dreimaligen „Hurrah!“, die-
0011sem Spirituszusatz zu dem Geibel’schen Wein, nicht die ge-
0012ringste Kampflust. Die berühmte Scene, wie in Paris bei
0013einem Gluck’schen Chor die Officiere in kriegerischem En-
0014thusiasmus an den Degen griffen, wird sich bei Rubinstein 
0015schwerlich wiederholen. Ungleich ansprechender wirkten drei
0016kleinere, volksthümlich gehaltene Chöre: „Scheiden ohne Leiden“
0017von Robert Fuchs, „Amor und Fortuna“ von Reinecke 
0018und „Gretelein“ von unserem talentvollen Landsmanne Albert
0019Hermann
. „Meeresstille und glückliche Fahrt“ gehört nicht zu
0020den hervorragendsten Compositionen Goldmark’s. Der lang-
0021same erste Theil in H-moll findet für die beklemmende Windstille ein
0022gutes Ausdrucksmittel in der festgehaltenen tiefsten Lage der
0023Baßstimmen. Zur „Glücklichen Fahrt“ überleitend, hat Gold-
0024mark den sehr glücklichen Einfall, einzelne Hornrufe erst in
0025langsameren, dann immer kürzeren Intervallen ertönen zu
0026lassen. Nach dem schwermüthigen unbegleiteten Gesang tiefer
0027Männerstimmen fallen diese Hornklänge wie Sonnenstrahlen
0028auf die Landschaft. Sie geben der Situation Farbe; die
0029Zeichnung des bewegten Meeres und des fröhlichen
0030Schiffertreibens können sie nicht liefern. Das vermag nur
0031ein Orchester, und darum verblaßt jede Vocal-Composition
0032des Goethe’schen Gedichtes, wenn wir an Mendelssohn’s hin-
0033reißende Concert-Ouvertüre denken. Ueberdies ist die melo-
0034dische Phrase, mit welcher Goldmark die „Glückliche Fahrt“
0035geleitet, von ziemlich billigem Stoff. Die einzige Nummer,
0036welche das sonst so da capo-durstige Publicum des Männer-
0037gesang-Vereins zur Wiederholung begehrte, war Pache’s 
0038Waldeinsamkeit“, ein Stück, das durch die Klangfülle effect-
0039vollen Chorsatzes wirkt. Wie sinnig, wenn die „Waldeinsam-
0040keit“, in die ein friedensbedürftiges Gemüth sich rettet, von
0041zweihundert Männerstimmen im Fortissimo der höchsten
0042Brusttöne angedonnert wird! Die umfangreichste und
0043bedeutendste Novität des Abends war ein Liedercyklus,
0044Frühlingskränze“, für Tenor- und Sopran-Solo mit
0045Männerchor und Clavierbegleitung von Richard Heuber-
0046ger
. Von allen Liedercyklen; die nicht (wie die „Schöne
0047Müllerin“ und „Winterreise“) schon vom Dichter als Ganzes
0048gestaltet, sondern erst vom Componisten frei zusammengestellt
0049sind, scheinen mir Brahms’Zigeunerlieder“ und En-
0050gelsberg’s
Italienisches Liederspiel“ die einheitlichsten zu
0051sein. Da stimmt jedes Stück zum andern, keines ist unver-
0052ständlich oder überflüssig, und alle zusammen lassen in ihrer
0053Aufeinanderfolge etwas wie eine verschleierte, einfache Hand-
0054lung durchschimmern. Heuberger hat sich im Gegentheile
0055durch seine poetische Auswahl, die Einheit des Stoffes, der
0056Stimmung und der Localfarbe fast unmöglich gemacht.
0057Seine „Frühlingskränze“ sind aus italienischen, illirischen,
0058krainerischen, böhmischen, persischen Volkspoesien und deut-
0059schen Original-Gedichten zusammengeflochten. Zwischen dem
0060slavischen Scherzgedichte „Der Scheintodte“ und dem persischen
0061Derwisch-Chor mit dem unverständlichen Refrain „Allah hu!“,
0062zwischen Allah-hu und dem sich anschließenden Duett aus
0063Rückert’s Liebesfrühling suchen wir vergebens nach einem Zu-
0064sammenhang. Anfang und Ende des Werkes — der Galgen-
0065humor des ersten Chors „Liebestafel“ und der ekstatische
0066Sonnencultus des letzten — wollen sich durchaus zu keinem
0067Ring zusammenschließen. Die Unklarheit über die leitenden
0068Ideen des Componisten und die Anstrengung, sich selber den
0069rettenden Faden zu suchen, werfen den Hörer aus der Stim-
0070mung. So kam es auch, daß das Publicum, von einzelnen 
0071Nummern lebhaft angesprochen, schließlich dem Ganzen doch
0072fremd gegenüberstand. Die mit aufrichtigem Beifall begrüßten
0073Stücke waren durchwegs diejenigen, in welchen der Componist
0074einfach und natürlich bleibt. Vor Allem das reizende Lied
0075„Der Scheintodte“, dann der zärtlich melodiöse Anfang des
0076Duettes „Lehre“, das leider gegen den Schluß hin immer
0077verkünstelter und undurchsichtiger wird. Heuberger liebt es,
0078klar und anmuthig anhebende Melodien alsbald im Rhyth-
0079mus zu verrenken, in der Harmonisirung zu überladen, in
0080ruheloser Modulation zu verwirren. In dem As-dur-Chor
0081„Leuchte Sonne“ hört man die Haupttonart nur zu An-
0082fang und zu Ende des Stückes, dazwischen wogt Alles un-
0083ruhig modulirend hin und her; ebenso in dem Tenor-
0084Solo „Der Liebsten Herz ist aufgewacht“, das dem Publicum
0085nicht einmal durch Walter’s Vortrag einleuchten wollte.
0086Auch scheint der sonst so scharfblickende Componist sich über
0087die Wirkung manches Stückes getäuscht zu haben, das sich
0088auf dem Papier viel besser ausnimmt, wie z. B. der erste
0089Chor, in welchem stellenweise zwei und zwei, häufig auch
0090alle vier Stimmen gleichzeitig ganz andere Textworte
0091singen, woraus ein unverständliches Gebrumme entsteht. Des-
0092gleichen werden die canonischen Verschlingungen in dem
0093Duett „Da ich einmal dich gefunden“ in der Aufführung
0094kraus und undeutlich. Endlich feiert der Schlußchor den Früh-
0095ling in so schwülstigem Pathos, daß leider auch das gehoffte
0096„Ende gut, Alles gut“ nicht eintrifft. Heuberger ist ein
0097talentvoller, gründlich gebildeter Musiker und ein Mann von
0098Geist. Er beweist das auch als musikalischer Kritiker, in
0099welcher Eigenschaft wir ihn neuestens auf einem früher arg
0100vernachlässigten Posten mit Vergnügen schalten sehen. Heu-
0101berger schreibt geistreich, witzig und dabei natürlich. Er com-
0102ponirt geistreich, witzig und am liebsten unnatürlich. Zu viel
0103sinnreich Combinirtes, Unerwartetes, Ungewohntes möchte er dem
0104einfachsten Gedicht einimpfen, und vor lauter Besorgniß, etwas
0105Selbstverständliches zu sagen, muß er am Ende zusehen, wie die
0106gehoffte Wirkung auf das Publicum ausbleibt. Heuberger’s
0107erstes „Liederspiel“ (1884), das gewiß nicht der Pikanterien
0108entbehrte, klang viel frischer, natürlicher und erzielte auch [2]
0109einen ungleich glänzenderen Erfolg. Wir hoffen bald auf einen
0110ähnlichen. Die nichts weniger als leicht auszuführende Novität
0111wurde unter Kremser’s Leitung vortrefflich gesungen. Die
0112Soli waren in den Händen von Fräulein Leonore Bach 
0113und Herrn Gustav Walter, die auch einige Lieder unter
0114stürmischem Applaus vortrugen. Eine willkommene Abwechs-
0115lung bot Fräulein Marie Baumayer mit dem feinen,
0116geschmackvollen Vortrag dreier Clavierstücke von Schubert und
0117Mendelssohn.


0118Die „Wiener Sing-Akademie“, der wir
0119manchen angenehmen Abend verdanken, würde noch viel er-
0120sprießlicher wirken, wenn sie, ihren bescheidenen Mitteln ent-
0121sprechend, sich auch bescheidenere Ziele steckte. Mit einer
0122systematischen, zielbewußten Pflege des Volksliedes könnte
0123sie sich ein dankbares Gebiet und ihren Freunden
0124einen reineren Genuß bereiten. In ihrem letzten
0125Concerte vom 17. December brachte die Sing-Akademie
0126die volksthümlichen Sachen vortrefflich zu Gehör; schade, daß
0127deren nicht mehr waren. Brahms muß auch unserer An-
0128sicht gewesen sein, als er zur Zeit, da er noch Dirigent
0129dieses Vereins war, eine Reihe von Volksliedern für den-
0130selben harmonisirte. Das vergißt ein Verein, der aus einer
0131Hand in die andere geht, leider nur zu leicht. Auch Instru-
0132mental-Nummern, zwischen die Chorstücke eingestreut, müssen
0133mit Vorsicht gewählt sein. Mit der H-moll-Sonate von
0134Liszt kann, wer die nöthige Geduld dazu hat, sich zu
0135Hause am eigenen Clavier vielleicht gut unterhalten. Ein
0136Publicum, das unter dem unmittelbaren Eindrucke frischer
0137naiver Volkslieder steht, dafür erwärmen zu wollen, ist ein
0138Unterfangen, das nicht jedem Löwen gelingt. Die größeren
0139Chornummern dieses Concertes wären schon wegen der
0140Unzulänglichkeit der Solosänger besser unaufgeführt geblieben.
0141Für Glinka’s Mädchenchor und Romanze aus der Oper
0142Das Leben für den Czar“ braucht man einen sehr weichen
0143hohen Sopran und einen Dirigenten, der das „dolcissimo
0144e comodo“ des Componisten beachtet und nicht das Stück
0145durch ein doppelt so schnelles Tempo verunstaltet. Noch
0146schwieriger ist für die Sing-Akademie die Besetzung des
014742. Psalms von Mendelssohn, der auch ein gutes Männer-
0148quartett verlangt. Daß die Sing-Akademie wieder in den
0149kleinen Musikvereinssaal gezogen ist, zeugt von Tact und
0150Geschmack; hoffentlich zeugen das Programm und die Aus-
0151führung des nächsten Concerts auch davon.


0152Das letzte außerordentliche Gesellschaftsconcert bescheerte
0153uns die „Schöpfung“ von Haydn, seit deren erster
0154Aufführung im Schwarzenberg-Palais gerade neunzig Jahre
0155verstrichen sind. Wie jung noch heute! Man sah kein leeres
0156Plätzchen im Saal und auf allen Gesichtern den Ausdruck dank-
0157barer Freude. In früheren Decennien, als man in Wien die bei-
0158den Haydn’schen Oratorien ausschließlich und recht schleuderisch
0159aufführte, ist man ihrer schließlich überdrüssig geworden. Jetzt
0160hören wir die „Schöpfung“ und die „Jahreszeiten“ viel seltener und
0161viel besser; das Publicum hat sich ihnen mit verdoppelter Wärme
0162wieder zugewendet. Die jüngste vortreffliche Aufführung dirigirte
0163Hofcapellmeister Hanns Richter. Man muß es ihm nach-
0164rühmen, daß er keineswegs, wie die jüngeren Wagner-
0165Dirigenten, einen Ruhm darein setzt, Alles, was nicht von
0166Wagner, Liszt, Berlioz herrührt, mit souveräner Nachlässig-
0167keit zu behandeln. Richter nimmt sich jeder Partitur, die
0168einmal auf seinem Pulte liegt, mit gleichem Eifer an, und
0169der älteren classischen Werke ganz besonders. Wie an dem
0170Orchester und dem bewährten Chor des „Singvereins“ konnte
0171man sich diesmal auch an den Leistungen der Solosänger
0172erfreuen. Herr Walter, im Oratoriengesang noch immer
0173der Erste unter seinen Tenor-Collegen, war durchwegs
0174tüchtig und wo er mit seinem Mezzavoce wirken konnte,
0175sogar bezaubernd. Herr v. Reichenberg, welcher nach
0176aufeinanderfolgenden Absagen der Herren Grengg und
0177Weiglein die Baßpartie im letzten Augenblicke über-
0178nommen hatte, verdient nicht blos für diese ent-
0179scheidende Gefälligkeit, sondern auch für seine Leistung
0180aufrichtigen Dank. Mit besonderer Genugthuung be-
0181merkten wir, daß er seiner kraftstrotzenden Stimme auch einige
0182Pianos abzuschmeicheln bemüht war. Die Sopranpartie sang
0183Frau Schuch-Proska, königlich sächsische Kammersängerin,
0184entzückend schön. Die beiden Arien: „Nun beut die Flur“
0185und „Auf starkem Fittige“ haben wir seit der Jenny Lind 
0186nicht besser gehört. Technische Meisterschaft und natürliche 
0187Anmuth — diese beiden Cardinalvorzüge der Frau Schuch-
0188Proska — bewährte sie als Concertgeberin am 16. d. M. auch
0189im Liedervortrag. Ihr Programm enthielt leider kein Stück,
0190worin ihre Hauptstärke, der colorirte Gesang, hätte vortreten
0191können. Eine einzige Nummer gab ihr wenigstens Gelegen-
0192heit, ihre treffliche Methode des bel canto zur Geltung zu
0193bringen: eine „Canzonetta con variazione“ von Guillaume
0194de Fesch, einem niederländischen Componisten, der zu An-
0195fang des achtzehnten Jahrhunderts als Organist in Ant-
0196werpen wirkte. Es folgten deutsche Lieder von Mozart,
0197Beethoven, Schubert, Weber, Schumann u. A. Vortrefflich
0198gelangen ihr alle Lieder heiteren, naiven Charakters; in
0199richtiger Erkenntniß ihrer Mittel hatte die Künstlerin
0200auch meistens solche gewählt. Für den vollen Aus-
0201druck des Leidenschaftlichen oder Erhabenen bietet ihre
0202kleine, flötende Stimme nicht die nöthige Resonanz.
0203Aber Gesänge, in welchen heitere Laune, Gemüthlichkeit und
0204zierliche Anmuth das Wort führen, Lieder wie C. M. Weber’s
0205Unbefangenheit“ und vor Allem „Mein Schatzerl ist hübsch“
0206können reizender kaum vorgetragen werden. Nicht die starke
0207Ursprünglichkeit, die Energie des Tones und des Gefühls, wie
0208bei der Spieß, bilden hier das siegreiche Element; in Frau
0209Schuch entzückt uns die musterhafte Gesangskünstlerin, die
0210ihre kleine Stimme auf das feinste ausgebildet und sich im
0211Ausdruck die volle Natürlichkeit bewahrt hat. Das Ver-
0212gnügen des Publicums, Frau Schuch zu hören, erfuhr eine
0213unverhältnißmäßig lange Unterbrechung durch eine Sonate 
0214für Clavier und Violine, welche der Componist, Herr Emanuel
0215Moor, mit Herrn Concertmeister Rosé vortrug. Herr
0216Moor scheint es für die wichtigste Aufgabe eines Componisten
0217zu erachten, uns so weitschweifig als möglich von seiner
0218Schwermuth und seiner Verzweiflung zu erzählen. Diese
0219betrübenden Gemüthszustände werden bei den näheren
0220Freunden des Tondichters gewiß Theilnahme finden; das
0221Publicum aber erwartet musikalische Gedanken, bedeutende oder
0222reizvolle Gedanken in künstlerisch abgeklärter Form. Eigene
0223Ideen dürften in Moor’s Sonate wol nur mit dem Mikroskop
0224zu entdecken sein; hingegen werden die stellvertretenden Phrasen
0225mit solcher Hartnäckigkeit immer und immer wiederholt, daß [3]
0226schließlich das Ganze ebenso langweilig wird, als es lang ist.
0227Sehr vortheilhaft hebt sich aus diesem Haideland nur der
0228erste Theil des Scherzos heraus, dessen hübsches Thema an
0229allerlei Nordisches von Gade oder Grieg anklingt; leider
0230wird dieser günstige Eindruck durch die redselig verschwom-
0231mene Sentimentalität des Mittelsatzes so gründlich verwischt,
0232daß man an der Repetition des ersten auch kein Vergnügen
0233mehr hat.


0234Unter den Virtuosen-Concerten der letzten Wochen nennen
0235wir zuerst das der brillanten Frau Essipoff, über die
0236kaum etwas Neues mehr zu sagen ist. Ihr dürfte in nicht
0237ferner Zeit eine Nebenbuhlerin in Fräulein Olga Segel 
0238erwachsen, deren Concert einen glänzenden Erfolg hatte. Die
0239hochgesteigerte Technik der jungen Russin wollen wir gar
0240nicht besonders betonen — ist doch „ungewöhnliche Virtuo-
0241sität“ heute schon etwas recht Gewöhnliches geworden — aber
0242der Esprit, die feine nervöse Empfindung und Grazie, die
0243ihr Spiel beseelen, machen sie zu einer interessanten musikali-
0244schen Erscheinung. Wer, wie Fräulein Segel, die Es-dur-
0245Polonaise von Chopin und die davon himmelweit ver-
0246schiedene Toccate in D-moll von Lachner gleich
0247vortrefflich zum Ausdruck bringt, der ist gewiß nicht
0248Pianist von Dressur, sondern Musiker von Beruf. In
0249Fräulein Segel’s Concert hat auch die Sängerin Frau
0250Mathilde Jacobi ausnehmend gefallen. Herr Professor
0251Door hat seinen vielfältigen Verdiensten um das Wiener
0252Musikleben ein neues hinzugefügt durch die drei Abende,
0253welche er der chronologischen Vorführung sämmtlicher
0254Beethoven’schen Sonaten für Clavier und Violine 
0255widmete. Er und sein ausgezeichneter Partner, Concertmeister
0256Hugo Heermann aus Frankfurt, ernteten den dankbaren
0257Beifall eines aufmerksamen, ernsthaften Publicums. Ver-
0258gessen wir über die Künstler „von Fach“ nicht Madame
0259Caroline de Serres, welche mehreren Concertgebern
0260ihre freundliche Mitwirkung gegönnt hat. Sie erfreute ihre
0261Zuhörer nicht minder durch den echt französischen, prickeln-
0262den Geist und die graziöse Lebendigkeit, mit der sie Saint-
0263Saëns
und Delibes spielt, als mit der glänzenden
0264Wiedergabe von Hummel’s effectvollem Septett. Mit dem -
0265selben Stücke hat Madame de Serres vorher in Preßburg 
0266nicht blos Furore, sondern auch eine Einnahme gemacht,
0267welche der Errichtung des von Meister Tilgner so un-
0268übertrefflich modellirten Hummel-Denkmals zu statten kam.
0269Das Wiener Publicum erkennt es dankbar, daß Madame
0270de Serres sich durch ihre gegenwärtige sociale Stellung nicht
0271der Kunst entfremdet fühlt.


0272Längst schulden wir ein Wort der Anerkennung dem
0273Winkler’schen Quartett. Wer den zwei ersten Soiréen
0274beigewohnt hat, dem werden die großen Fortschritte dieses
0275jungen Quartettvereins gegen das vorige Jahr aufgefallen
0276sein. Mit diesen Fortschritten halten der Besuch und der Beifall
0277des Publicums gleiches Tempo. Das Winkler’sche Quar-
0278tett pflegt vornehmlich Haydn, Mozart und den früheren
0279Beethoven; es hat diese Vortragssphäre zu seiner Specia-
0280lität ausgebildet. Das Clavier kam nur am ersten Abend
0281zu Wort, in Beethoven’s D-dur-Trio, dessen Clavierpart
0282Herr Hugo Reinhold mit eindringendem Verständniß
0283und schön abgerundeter Technik spielte. Am zweiten Abend
0284gab der lebensvolle und fein abgestufte Vortrag des
0285Beethoven’schen A-dur-Quartetts (op. 18) und des
0286D-dur-Quartetts von Haydn (op. 20) Zeugniß von sorg-
0287fältigstem Studium. Eine schwierigere Aufgabe hatten die
0288Herren in dem F-dur-Quintett von Brahms zu bewäl-
0289tigen: es wurde mit Feuer und Hingebung gespielt, aber
0290nicht immer mit der nöthigen Reinheit, am wenigsten im
0291Finale. Schönheit des Tons und makellose Reinheit sind
0292die Eigenschaften, welche das Winkler’sche Quartett (vor-
0293nehmlich die zweite Violine) noch zu vervollkommnen bedacht
0294sein sollte. An dem trefflichen Primarius, Herrn Julius
0295Winkler
, fiel uns auf, daß sein Ton, der früher zu sehr
0296vorgeherrscht, diesmal fast allzu bescheiden zurücktrat. Schließ-
0297lich hat die erste Geige doch in jedem Quartett das Wich-
0298tigste zu sagen; sie beherrscht in der Composition das Quar-
0299tett, sie muß es in demselben Maße auch in der Ausführung
0300thun. Das schöne Programm und die Liebe, mit der es aus-
0301geführt wurde, hielten das zahlreich versammelte Publicum
0302an beiden Abenden bis zum Schlusse fest; es gab keine An-
0303wanderung vor dem letzten Ton.