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Neue Freie Presse
Morgenblatt
Nr. 9162. Wien, Dienstag, den 25. Februar 1890

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Matinée im Hofoperntheater.

(„Der Dorfbarbier“ von Schenk. „Das Pensionat“ von Suppé.)


0003Ed. H. Der Dorfbarbier im Hofoperntheater! Seit
0004etwa sechzig Jahren hat er sich an dieser vornehmen Stätte
0005nicht mehr blicken lassen und sein Rasirzeug nur in den
0006Vorstädten gehandhabt. Aber seine Wiege war doch das Hof-
0007theater nächst dem Kärntnerthor, das kann ihm Niemand
0008nehmen. Die Handlung freilich ist gar nicht aristokratischer
0009Herkunft; noch viel älter als das Schenk’sche Singspiel, hat
0010sie durch mehr als ein Jahrhundert alle möglichen Wand-
0011lungen durchgemacht. Der „Dorfbarbier“ blühte schon zu
0012Zeiten der extemporirten Comödie; jeder neue Lux oder Adam 
0013brachte auch neue Einfälle und Variationen hinein, bis eines
0014Tages — das „regelmäßige Schauspiel“ befohlen wurde. Da
0015sammelte Paul Weidmann (ein Bruder des trefflichen
0016Schauspielers) aus dem Gedächtnisse alles Vorhandene zu
0017einem Lustspiel, und „Der Dorfbarbier“ wurde im Burg-
0018theater ein Tummelplatz fröhlichen Muthwillens. Die besten
0019Schauspieler verschmähten es nicht, darin aufzutreten; einmal
0020ließ sich sogar der berühmte Tragöde Brockmann als einer der
0021„Geschworenen“ im Dorfbarbier zum Jubel des Publicums
0022von Lux einseifen. In dieser Gestalt, als Lustspiel, erschien
0023der Dorfbarbier zum letztenmal im Jahre 1795. Und wie
0024ist er Oper geworden? Joseph Weidmann fand als neu er-
0025nannter Regisseur der Deutschen Oper im Repertoire sehr
0026wenig kleine Singspiele vor und faßte die glückliche Idee,
0027den Stoff des „Dorfbarbier“ zu benützen. Die beiden Brüder
0028Weidmann bearbeiteten das Libretto, ihr gemeinsamer Freund
0029Schenk schrieb die Musik. Wie Friedrich Treitschke erzählt,
0030lag das Singspiel schon seit Monaten fertig, blieb aber wegen
0031„verbreiteter übler Nachrede“ beiseite geschoben, bis eines
0032Tags die gleichzeitige Erkrankung mehrerer Sänger zur Auf-
0033führung des „Dorfbarbier“ nöthigte. Bei der ersten Auf-
0034führung im Kärntnerthor-Theater (30. October 1796) 
0035spielten alle Mitwirkenden so schüchtern, daß das Ganze
0036keine Wirkung machte. Der bescheidene Componist hatte nicht
0037einmal gewagt, sich auf dem Theaterzettel zu nennen.*) 
0043In den folgenden Wiederholungen trat man allmälig kühner
0044auf, und auch der Componist warf sein Incognito ab. Der
0045stetig wachsende Beifall steigerte von Tag zu Tag die gute
0046Laune und den Muthwillen der Darsteller. Im Fasching
00471804 fand man eines Abends die Lebhaftigkeit der Komiker
0048zu groß, und die folgende Vorstellung sollte die letzte sein.
0049Adam rettete das zum Tode verurtheilte Singspiel durch ein
0050heroisches Mittel. Er erschien in Trauerkleidern, mit lan-
0051gem Flor um den Hut, und als Lux mit ihm zu zanken
0052begann, sprach er weinerlich in feierlichem Hochdeutsch: „Herr
0053Lux, heute zum letztenmale werden Sie mir Alles in Güte
0054sagen!“ Die Zuschauer erfuhren schnell die Bedeutung dieser
0055Improvisation und erreichten durch stürmische Demonstration
0056die Zurücknahme des Verbotes. Sogar in aristokratische
0057Kreise drang der „Dorfbarbier“. Er erschien in italienischer
0058Uebersetzung auf dem Schloßtheater des Fürsten Karl Auersperg,
0059für welches Schenk schon mehrere Operetten geschrieben hatte.
0060Der treffliche Baßbuffo Brocchi gab den Lux und der be-
0061rühmte Operncomponist Ferdinand Paër den Adam. Auch
0062getanzt wurde der „Dorfbarbier“ als Ballet. Mit den
0063Jahren nahm das Hoftheater vornehmere Sitten an;
0064man fand die derben Spässe hier nicht mehr am rechten
0065Platz. Als zu Anfang 1807 die beiden Hoftheater eine neue
0066Direction erhielten, begann diese ihr Amt mit einer Sich-
0067tung des Repertoires und strich bei dieser Gelegenheit auch
0068den „Dorfbarbier“. Dieser bewies aber neuerdings sein zähes
0069Leben. Am selben Abende meldeten sich fast alle ersten
0070Sänger und Tänzer krank; es konnte am nächsten Abende
0071nichts Anderes gegeben werden, als ein kleines Ballet-
0072Divertissement und — der „Dorfbarbier“. Man begnadigte 
0073ihn nothgedrungen und ließ den großen Mann fortan un-
0074gestört seine wunderbaren Schinkencuren fortsetzen. Vorzüg-
0075lich blieb er ein Lieblingsstück bei Freitheatern. In einem
0076solchen übermäßig vollgedrängten Freitheater kam Baumann als
0077Adam vor den Vorhang mit einer riesigen Gluthpfanne und
0078räucherte. Jubelnd bedankten sich die gemüthlichen Zuschauer.
0079Dieser Baumann, ein geborener Komiker von sprudeln-
0080der Laune, gab den Adam in mehr als dreihundert Vorstel-
0081lungen. Sein Porträt in diesem Costüm hängt in der
0082Schauspieler-Galerie des Burgtheaters. Mit seltener Aus-
0083nahme standen ihm immer Weinmüller als Lux und
0084Vogel als Rund zur Seite; Beide Opernsänger ersten Ranges.
0085Weinmüller war der Sarastro, der Figaro, der erste Rocco 
0086im Hofoperntheater. Vogel, der große Schubertsänger, galt
0087zugleich für den besten Darsteller des Almaviva in „Figaro’s
0088Hochzeit“, des Orestes in Gluck’s „Iphigenie“ und anderer
0089classischer Partien. Man ersieht aus diesem Beispiel, daß
0090früher zwischen dem ernsten und dem komischen Rollenfach
0091keine so strenge Scheidung bestand; sodann daß selbst für
0092kleine Singspiele am Hofoperntheater eine vollkommen musi-
0093kalische Ausführung verlangt wurde. Mit der zunehmenden
0094Verfeinerung der Hofbühnen mußte der wiederholt gefährdete
0095Dorfbarbier“ doch endlich das Feld räumen. Er flüchtete in
0096die Vorstadttheater, wo er noch in unseren Tagen zeitweilig
0097die alte Heiterkeit erweckt. Wir haben ihn zuletzt in dem
0098kleinen „Strampfer-Theater“ unter den Tuchlauben, mit
0099Schweighofer als Adam, gesehen.


0100Woher nun der außerordentliche Erfolg, die hundert-
0101jährige Lebensdauer dieses kleinen, anspruchslosen Werkes?
0102Die populäre Wirkung komischer Singspiele geht immer
0103zunächst von der Handlung, vom Texte aus. So wenig wir
0104Schenk’s Musik unterschätzen, niemals hätte sie allein einen
0105schwachen Text zum Sieg geführt, geschweige denn bis
0106heute nachgewirkt. Aber welch volksthümlicher Stoff, dieses
0107köstliche Erbstück der alten extemporirten Comödie! Es steckt
0108etwas Unverwüstliches in diesen der Wirklichkeit abgelauschten
0109Figuren: dem aufgeblasenen, albernen Quacksalber und seinem
0110Gesellen, diesem Schlauch voll Mutterwitz und komischer [2]
0111Spruchweisheit. Die schnellgetröstete Witwe des Schmiedes,
0112der salbungsvolle Schullehrer Rund, die auf der Rasierbank
0113zappelnden Geschworenen, endlich das muntere Liebespaar
0114Joseph und Suschen — sie Alle sind individuell, charakteristisch,
0115aus dem Leben gegriffen. Die Handlung, in welcher diese
0116Personen mit und gegen einander arbeiten, entwickelt sich
0117natürlich und in lauter drolligen Situationen. In diesem
0118Textbuch findet der Componist die Wirkung fast fertig vor,
0119er hat dieselbe gleichsam nur zu unterstreichen. Und das hat
0120Schenk meisterlich getroffen. Seine Musik zum Dorf-
0121barbier ist zugleich naiv und charakteristisch, sie fließt
0122leicht und fröhlich dahin, ohne beleidigende Trivialität.
0123Wie ungesucht komisch klingen die Strophenlieder Adam’s
0124und die F-dur-Arie des Lux’: „Eifersucht und Rache!“
0125Das Septett „Gott grüße Euch in Ehren!“ erinnert in
0126seinem melodiösen Fluß und seiner dramatischen Lebendigkeit
0127fast an Mozart, den Abgott unseres Schenk. Um einige ge-
0128fährliche Situationen, wo der Spaß etwas unheimlich zu
0129werden droht, weiß der Componist recht geschickt herum-
0130zukommen. Im „Dorfbarbier“, wie in allen alten Volks-
0131stücken, worin die Doctoren gehechelt werden, spielt auch
0132Gevatter Hain eine Rolle. Wenn gleich zu Anfang die Nach-
0133barin mit der Klage eintritt, ihr Mann sei an der Schinken-
0134cur gestorben, und wenn später der Schullehrer dem ver-
0135meintlich vergifteten Joseph ein Sterbelied singt, so spielen
0136doch recht düstere Vorstellungen in den Scherz hinein. Unsere
0137alten Possendichter faßten auch den Tod nicht senti-
0138mental. Für die Musik, die gewiß affectirt und aberwitzig
0139wird, wo sie zwiespältigen Ausdruck erklügeln will, sind
0140Situationen wie die genannten nicht leicht. Nur Naivetät
0141schreitet, dem Nachtwandler gleich, heil an diesem Ab-
0142grund vorbei. Schenk besaß diese Naivetät: er trifft
0143mühelos das Richtige, indem er Trauriges zwar andeutet,
0144aber Traurigkeit nicht aufkommen läßt. Merkwürdig ist der
0145Effect, den er in dem Todtenlied durch gedämpfte Trom-
0146peten hervorbringt. Die Sordine der Trompete (eine kleine
0147hölzerne Röhre, die in die Stürze eingeschoben wird) ist seit
0148dem vorigen Jahrhundert fast ganz außer Gebrauch ge-
0149kommen. Erst Richard Wagner hat den dünnen, durch-
0150dringenden Ton der gedämpften Trompete, dem eine ganz
0151eigene schauerliche Komik innewohnt, wieder charakteristisch
0152verwendet: in der Scene, wo Mime bei dem Gedanken
0153aufjauchzt, sich Siegfried’s zu entledigen, dann in den
0154Meistersingern“, wenn Beckmesser von dem Geschrei
0155und Hohngelächter der Menge verfolgt wird. Schenk’s
0156melodiöses Talent entbehrte nicht des Fundamentes einer
0157gründlichen musikalischen Bildung. Hat doch Beethoven,
0158der ihm zeitlebens ein warmer Freund geblieben, bei Schenk 
0159ein Jahr lang Contrapunkt studirt. Nach seinen musikalischen
0160Kenntnissen wäre Schenk wol befähigt gewesen, Größeres,
0161Ernsteres als den „Dorfbarbier“ zu schaffen. Nach seinen
0162Kenntnissen, nicht nach seinem Talent. Er hat sich in seinen
0163letzten Lebensjahren damit abgequält, eine große Oper „nach
0164Gluck’s Grundsätzen“ zu componiren, aber sein Geist erlag
0165der aufgebürdeten Last; er verfiel, wie Seyfried erzählt,
0166in Trübsinn und Schwermuth, endlich in ein lebensgefähr-
0167liches Nervenfieber. Als allmälig seine Kräfte zurückkehrten,
0168war sein Selbstvertrauen geschwunden; er verzweifelte an
0169seiner Fähigkeit und ließ die Arbeit unvollendet. Johann
0170Schenk, geboren 1761 in Wiener-Neustadt, ist erst Ende
0171December 1836 gestorben.


0172Es versteht sich, daß die Wirkung des „Dorfbarbier“
0173vor Allem von der komischen Kraft der Darsteller abhängt.
0174Lux und Adam, die beiden Träger des Stückes, müssen
0175eminente Komiker sein; nach Stimme und Gesangskunst
0176fragen wir nur nebenbei. Darum pflegt auch der „Dorf-
0177barbier“ in kleinen Theatern ergötzlicher zu wirken, als auf
0178großen Opernbühnen. Selbst die besseren Darsteller in
0179unserer Spieloper sind doch keine eigentlichen Komiker; und
0180fehlt ihnen nicht das Talent, so fehlt ihnen doch der Muth,
0181so komisch zu sein, wie ihre Ahnherren es ungestraft sein
0182konnten. Mit diesem Vorbehalte müssen wir die Aufführung
0183des „Dorfbarbier“ im Hofoperntheater vortrefflich nennen.
0184Die natürlichste und herzhafteste Komik entwickelte Herr Stoll.
0185Sein Adam leistete in der That, was man nach Herrn
0186Stoll’s dummem Peter in den „Beiden Schützen“ erwarten 
0187durfte. Herr v. Reichenberg (Lux) ist einer der besten
0188Schauspieler unter den Opernsängern; seiner Komik fehlt
0189aber die Ursprünglichkeit und die Laune. Ein Komiker von
0190Geblüt würde auch um keinen Preis den Dorfbarbier oder
0191den van Bett mit einem Schnurrbart geben. Uebrigens war
0192die Rolle gewandt gespielt und gut gesungen, was auch
0193Herrn Schittenhelm’s Joseph nachzurühmen ist. Maß-
0194voll und doch sehr wirksam spielt Herr Mayerhofer den
0195Schulmeister Rund. Fräulein Forster, ein liebenswürdiges
0196Suschen, sang ihre erste Arie sehr hübsch und hatte den
0197guten Geschmack, die zweite „alla Polacca“ wegzulassen. Die
0198ganze Vorstellung war musikalisch vollkommen und erweckte
0199von Anfang bis zu Ende die ungezwungenste Heiterkeit. Man
0200hörte wieder einmal von Herzen lachen — ein Vergnügen,
0201dessen unsere imposanten Operetten uns allmälig ent-
0202wöhnt haben.


0203Es fehlt uns der Raum, wol auch der Anlaß, mit
0204gleicher Ausführlichkeit über das zweite Stück der Hofoper-
0205Matinée vom 23. d. M. zu berichten. „Das Pensionat“,
0206eine der beliebtesten und gelungensten Operetten von Suppé,
0207ist der jetzigen Generation aus zahlreichen Wiederholungen
0208bekannt. Neu war nur die Aufführung im Hofoperntheater.
0209Wenn wir als die Darsteller der beiden Hauptrollen Fräu-
0210lein Renard und Herrn Schrödter nennen, so ist damit
0211schon gesagt, daß jugendliche Frische, Geist und Anmuth die
0212Vorstellung belebten. Gelungene komische Figuren schufen
0213Frau Ida Baier und Herr Felix. Unter den Zöglingen
0214machten die Damen Forster, Kaulich und Standt-
0215hartner
sich vortheilhaft bemerkbar. Es wurde durchwegs
0216lebhaft und natürlich gespielt. Das ganze Mädchen-Pensionat
0217glich einer lebendigen Volière von jungen, zierlichen, über-
0218müthig zwitschernden Singvögeln. Wie flogen sie auseinander,
0219als plötzlich der einzige Herr in der Comödie wie ein heim-
0220tückischer Marder unter sie eindrang! Aber bald haben sie
0221in dem gefährlichen Marder Herrn Schrödter erkannt,
0222und wer könnte Herrn Schrödter gram sein! Fünf Rendez-
0223vous hatte er in drei Minuten beisammen.

Fußnoten
  • *)Der Theaterzettel brachte folgende empfehlende Bemerkung:
    „Das Lustspiel dieses Namens ist bekannt und immer mit Beifall auf-
    genommen worden. Die komischen Auftritte darin gaben Anlaß, daß
    man es zur Oper umschuf. Der Tonsetzer hat die interessantesten Situa-
    tionen genützt und in Musik gesetzt.“