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Neue Freie Presse
Morgenblatt
Nr. 9423. Wien, Dienstag, den 18. November 1890

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Concerte.


0002Ed. H. Virtuosen von hohem Rang begegnen wir jetzt
0003auffallend selten auf den Programmen der Philharmonischen
0004und der Gesellschaftsconcerte. Mit Recht verwirft man heut-
0005zutage die ehedem allgemeine Sitte oder Unsitte, den Solo-
0006Productionen einen unverhältnißmäßigen Raum in großen
0007Orchester- und Chorconcerten einzuräumen. Allein diese
0008Strenge scheint neuestens übertrieben zu werden und ins
0009andere Extrem zu führen. Gerade die Philharmonischen Con-
0010certe bilden den geeignetsten Rahmen, in welchem bedeutende
0011Virtuosen sich von ihrer besten, auch dem ernsten Musiker
0012willkommenen Seite zeigen können. Hier wird ihnen der Vor-
0013theil eines trefflichen Orchesters und mit diesem Vortheile
0014zugleich die heilsame Nöthigung, sich in den Dienst groß
0015angelegter bedeutender Tondichtungen zu stellen. Hofcapell-
0016meister Richter hat uns diesmal im ersten seiner „Phil-
0017harmonischen Concerte“ die Bekanntschaft einer Clavier-
0018Virtuosin vermittelt, welche als das jüngste große
0019Renommée dieses Faches allgemeines Interesse erregen
0020mußte. Teresa Carreño, so heißt das Mädchen
0021aus der Fremde, ist die Tochter eines früheren >Finanz-
0022ministers der südamerikanischen Republik Venezuela. Den
0023Einwohnern dieses Landes wird angeborenes Musiktalent
0024nachgerühmt. Eine Menge Leute in Venezuela sollen, ohne
0025eine Note zu kennen, nur geleitet von ihrem Gehör, ihrem
0026Gedächtniß und einer geschickten Hand, sich auf verschiedenen
0027Instrumenten mit einer gewissen Virtuosität tummeln. Schon
0028als achtjähriges Kind spielte Teresa öffentlich. Der in Paris 
0029gebildete amerikanische Pianist Gottschalk und nach ihm
0030Georg Matthias, ein Schüler Chopin’s, waren ihre
0031Lehrer. In Paris, wo sie ihre europäische Laufbahn so er-
0032folgreich begann, heiratete sie den berühmten Geiger Sauret 
0033— für kurze Zeit. Frau Carreño — so nennt sie sich seit
0034ihrer Trennung von Sauret — hat zuletzt in Berlin, Hamburg 
0035und Leipzig großes Aufsehen erregt. Sie ist ohne Frage eine glän-
0036zende Bravourspielerin, eine originelle energische Persönlichkeit,
0037nebenbei ein südländisch schöner Kopf. Mit männlicher Kraft
0038packt sie die Tasten, koppelt sie zu dröhnenden Accorden,
0039jagt sie im Sturm durcheinander. Sie weiß ihnen aber auch
0040die zartesten Töne abzuschmeicheln, die zierlichsten Passagen
0041im Pianissimo verhauchen zu lassen. Ihre hochausgebildete
0042Technik glänzt vornehmlich im rapiden Octavenspiel, in der
0043Egalität der mit beiden Händen auf und nieder gerollten
0044Scalen, endlich in dem langausgesponnenen gleichmäßigen
0045Triller. In Technik und Vortrag erinnert sie an Sophie
0046Menter, nur dunkler, feuriger. Am werthvollsten erscheint
0047uns ihr saftiger, den vollen Ton aus dem Instrumente
0048ziehender Anschlag und ihr starkes rhythmisches Gefühl. Nichts
0049Verschwommenes, Verwaschenes in ihrem Spiel, Alles kräftig
0050in scharfen Umrissen herausgemeißelt. Lassen sich auch tiefere
0051musikalische Empfindung, Treue und Verständniß ihr nach-
0052rühmen? Darüber wäre erst zu urtheilen, wenn die
0053Künstlerin im Solospiel, von keinem Orchester geleitet und
0054gebändigt, ihre Individualität ganz frei entfaltete. Dem
0055Grieg’schen A-moll-Concert wurde sie vollkommen gerecht.
0056Die Composition, in welcher anmuthige und geistreiche Wen-
0057dungen mit leeren, auch mit wüsten Stellen wechseln, im-
0058ponirt nicht durch Reichthum der Erfindung, wahrt aber die
0059Einheit derselben durch den festgehaltenen „nordischen“
0060Charakter. Am reinsten wirkt das Adagio — es steht merk-
0061würdigerweise in Des-dur, zwischen zwei A-moll-Sätzen —
0062hier waltet jener eigenartige, süß verträumte Trübsinn, den
0063Grieg so fein in allerlei Zierrath einzuspinnen versteht, und
0064dem er in seiner Heimat den Beinamen des „norwegischen
0065Chopin“ verdankt. Es folgte als zweite Nummer Weber’s 
0066Es-dur-Polacca in der Liszt’schen Orchester-Bearbeitung.
0067„Mit Keckheit“, wie es Weber vorschreibt, spielte Frau
0068Carreño das brillante Stück, mit einer Keckheit natürlich,
0069welche die Grazie nicht ausschließt. W. Jähns, der pietät-
0070volle Weber-Biograph, tadelt es an Liszt, daß er die kurze
0071langsame Einleitung der Es-dur Polonaise (op. 21) als Intro-
0072duction zu der E-dur-Polacca herübergenommen hat. Der Vorwurf
0073scheint mir kleinlich. Wollte Liszt das Stück für den Concertvortrag 
0074einrichten, so konnte er nicht gut den Pianisten allein gleich
0075mit der Thür ins Haus fallen lassen; das Orchester mußte
0076ihn gleichsam anmelden und einführen. Und das hat Liszt,
0077hier wie in allen ähnlichen Fällen, mit feinem musikalischen
0078Tact und vollendeter Eleganz getroffen. Außer den mit stür-
0079mischem Beifall aufgenommenen Claviervorträgen der Frau
0080Carreño bescheerte uns das erste Philharmonie-Concert noch
0081Wagner’s Meistersinger-Ouvertüre und die C-moll Sym-
0082phonie von Beethoven, Beides in trefflicher Aufführung.


0083Rosé’s Quartett-Gesellschaft brachte gleich in ihrer
0084ersten Production ein neues, noch ungedrucktes Streich-
0085quintett (mit zwei Bratschen) von Johannes Brahms.
0086Man kann nicht besser anfangen. Das neue Werk ist von
0087jener süßen, klaren Reife, welche nur die Vereinigung voll-
0088endeter Meisterschaft und ungeschwächter Erfindung mit einer
0089harmonisch abgeklärten Lebensanschauung hervorbringt. In
0090Stimmung und Gehalt schließt es sich Brahms’ jüngsten
0091Kammermusiken an, denen wir so gern die schöne, warm-
0092herzige Tüchtigkeit des Inhalts, die Continuität
0093der Stimmung und die bewunderungswürdige Knappheit
0094der Form nachrühmen. Immer mehr scheint sich
0095Brahms zu concentriren; immer bewußter findet
0096er seine Stärke im Ausdruck gesunder, verhältnißmäßig ein-
0097facher Gefühle. Ein reiches Seelenleben webt darin, ohne
0098Ueberhebung, ohne Ueberspannung. Da ist nichts von der
0099selbstgefälligen Zerrissenheit, der mysteriösen Tonmalerei und
0100den „dramatischen“ Schilderungen, womit anspruchsvolle
0101Halbgenies uns heute auch in der reinen Instrumental-
0102Musik heimsuchen. Die Schönheit, die sich ja mit dem Herben
0103wie mit dem Leidenschaftlichen verträgt, tritt bei Brahms 
0104immer bewußter, immer reiner in den Vordergrund. Darin
0105bildet er den Gegensatz zu der Liszt-Wagner’schen, sammt
0106der jungrussischen und norwegischen Schule, auf die ein
0107treffendes Wort über die „Impressionisten“ in der Malerei
0108paßt: sie fürchten fortwährend, etwas Schönes zu machen.
0109Brahms’ Kammermusiken aus den letzten zehn bis fünf-
0110zehn Jahren mahnen mich in ihrer Wirkung vielfach an den
0111Beethoven der zweiten Periode; die Aehnlichkeit liegt nicht [2]
0112in Einzelzügen, sondern in dem Gesammt-Charakter, in der
0113ganzen Atmosphäre, welche mit so wohlthuend milder Kraft
0114uns daraus anweht. In diesem Stimmungskreis dürfte
0115Brahms nach aller Voraussicht auch beharren. Er ist den
0116umgekehrten Weg von Beethoven gegangen: vom Sturm
0117zum Frieden, von Nacht zum Licht. Als Beethoven seine
0118letzten Quartette schrieb, diese grandiosen Dramen des
0119Pessimismus und des unversöhnten Humors, war
0120er gerade so alt, wie der Brahms von heute.
0121Welche Gegensätze bei unleugbarer innerer Verwandtschaft!
0122Vielleicht ist es nur individuelle Vorliebe, die auf Allgemein-
0123giltigkeit keinen Anspruch macht, daß mir Brahms stets am
0124vollkommensten erschien in seiner Kammermusik. Immer ab-
0125gesehen vom „Deutschen Requiem“, das ganz obenan und
0126für sich allein steht, finde ich Brahms als erfindende und
0127ausführende Kraft, als innigste Verschmelzung eigenartigen
0128und doch allgemein menschlichen Inhalts mit schöner Form,
0129am glücklichsten in seinem B-dur-Sextett, seinen Streich-
0130quartetten und Clavierquartetten, dem F-dur-Quintett, den
0131Violin-Sonaten. Zu den Werken, in welchen ich nicht den
0132originellsten und kühnsten, aber gleichwol den besten Brahms 
0133erblicke, zählt auch das neue Quintett. Ganz herrlich ist der
0134erste Satz, ein „Allegro con brio“ in G-dur, Neunachtel-
0135tact. Wie siegesfreudig schwingt sich das Thema aus
0136dem Violoncell hervor unter dem rauschenden Tremolo
0137der Geigen! Hierauf die süße Melodie des Seitensatzes, von
0138beiden Bratschen gesungen, und die Antwort der Violinen,
0139dieses anmuthige Neigen und Beugen in die große Septime
0140herab! Wie sind die Motive und Motivchen des ersten
0141Theiles so kunstvoll und doch so zwanglos verwerthet in der
0142Durchführung; fast immer überraschend und doch wieder,
0143als konnte es gar nicht anders kommen! Sanft und innig
0144klagt das Adagio, ein schwermüthiger, etwas slavisch an-
0145gehauchter Gesang in D-moll. Es folgt ein überaus
0146anmuthiges Allegretto in G-moll, mit einem lieblich
0147wiegenden Trio in G-dur; nach Art der meisten Brahms’-
0148schen Scherzos nicht eigentlich scherzend oder lustig, sondern
0149zu behaglichem Humor schlendernd, gleichsam vor sich hin-
0150singend. Das Finale, das aus einem leicht verschleierten
0151H-moll sich rasch zur Haupttonart G-dur emporarbeitet, ist
0152ein scharf rhythmisirter Zweivierteltact von leicht ungarischer
0153Färbung. Es wirkt weniger durch die Bedeutung seiner
0154Themen, als durch sein Temperament, das in fröhlicher, zu-
0155letzt ganz volksthümlich ausklingender Lust Alles mit sich
0156fortreißt. Das Publicum, das jedes Plätzchen des Bösen-
0157dorfer-Saales besetzt hielt, nahm jeden Satz der Novität mit
0158stürmischem Beifalle auf und schien ein da capo des Scherzos
0159durchsetzen zu wollen. Die Herren Rosé, Bachrich,
0160Hummer, Siebert und Jelinek haben sich mit dem
0161gründlich studirten Vortrage des an rhythmischen Schwierig-
0162keiten reichen Werkes ein neues, bedeutendes Verdienst er-
0163worben. Voran gingen dem Brahms’schen Quintett das
0164B-dur-Quartett aus op. 18 von Beethoven und Rubinstein’s
0165bekanntes G-moll-Trio, dessen Clavierpart Herr Rosenthal 
0166mit Bravour ausführte.


0167Es fügte sich schön, daß zwei Tage nach dem Brahms’-
0168schen Streichquintett ein neues Clavier-Quintett (A-dur,
0169op. 81) von Anton Dvořak bei Hellmesberger zur Auf-
0170führung gelangte. Die Instrumental-Musik von heute muß
0171sich oft genug als unproductiv schelten lassen, aber eine Zeit
0172die zwei neue Werke, wie das Quintett von Brahms und
0173jenes von Dvořak, gleichzeitig hervorbringt und alljährlich
0174hervorbringt, ist wahrlich nicht arm zu nennen. Der Jüngere
0175von den Beiden arbeitet nicht so gleichmäßig und scrupulös
0176wie Brahms; er bringt zwischen Gutem und Vorzüglichem
0177gelegentlich auch Geringeres, insbesondere an Liedern und
0178Clavierstücken, gleichsam eine Nachlese „zwischen den Garben“.
0179Das neue Quintett gehört aber zu seinen schönsten Stücken.
0180Es ist echter Dvořak: originell, unmittelbar empfunden und
0181frisch herausgesungen. Von dem wilden Ungestüm und den
0182unvermittelten grellen Contrasten seiner „Slavischen Rhapso-
0183dien“ hat er sich längst losgesagt; ebenso von dem über-
0184triebenen Vorandrängen des slavischen Charakters. Seine
0185neueren Werke, darunter das A-dur-Quintett, zeigen bei aller
0186Freiheit der Phantasie logische Entwicklung der Gedanken, Einheit
0187der Form, schließlich einen echt internationalen Styl, der nur 
0188durch flüchtige, reizende Anklänge an das Heimatland des
0189Componisten mahnt. Dvořak’s Compositionen sind ohne
0190Frage mehr allgemeingiltig, allgemeinmenschlich, als die seiner
0191russischen und norwegischen Collegen. Die deutsche Schule,
0192aus der sie ja Alle hervorgegangen, verleugnet er am
0193wenigsten. Beethoven, Schubert, Brahms sind
0194seine einzigen Vorbilder. Der Geist des Letztgenannten rinnt
0195gleichsam unterirdisch durch Dvořak’s spätere Werke, ohne
0196ihrer Eigenart Abbruch zu thun. Sein Clavier-Quintett be-
0197grüßen wir als eine der duftigsten neuen Blüthen am Baum
0198unserer Kammermusik. Es verliert sich hin und wieder etwas
0199in die Breite, aber die vielen reizenden Einfälle, welche diesen
0200Componisten fast niemals im Stiche lassen, halten unser
0201Interesse stets lebendig. Das erste Allegro (es hätte von
0202Seite der Spieler eine minder weichliche Auffassung verlangt)
0203bringt kräftige, gesangvolle Themen von langem Athem.
0204Das Adagio in Fis-moll, eine wehmüthige Elegie („Dumka“)
0205mit einem köstlich singenden Mittelsatze in D-dur, scheint
0206uns der bedeutendste von den vier Sätzen. Das Scherzo,
0207in welchem eine flüchtige Schubert-Reminiscenz nicht stört,
0208und das Finale wirken mehr durch den rasch hinströmenden
0209Zug ihrer Fröhlichkeit, als durch absolute Neuheit der Erfin-
0210dung. Im Finale zeigt sich Dvořak nebenbei als tapferer
0211Contrapunktist, ohne trocken oder langweilig zu werden. Das
0212ganze Werk trägt den Stempel der Gesundheit und Ur-
0213sprünglichkeit. Es hat außerordentlich gefallen, obgleich die
0214Clavierpartie mit hartem Anschlag, trocken und poesielos ab-
0215gespielt wurde. — Möchten unsere „Philharmoniker“ nicht
0216doch einmal Notiz nehmen von den „Neuen slavischen
0217Tänzen“ Dvořak’s (op. 72), welche in passender Auswahl
0218eine unvergleichliche Carnevalsnummer abgeben würden? Die
0219erste Serie dieser „Slavischen Tänze“ (op. 46) erklärte
0220seinerzeit Ehlert „für ein Werk, das ebenso die Runde
0221durch die Welt machen wird, wie die Ungarischen Tänze von
0222Brahms“. Die zweite Serie, von welcher wir den Phil-
0223harmonikern namentlich Nr. 1, 2 und 8 vorschlagen möchten,
0224ist noch ungleich interessanter, als jene erste, und von glän-
0225zender Orchesterwirkung.