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Neue Freie Presse
Morgenblatt
Nr. 9455. Wien, Sonntag, den 21. December 1890

[1]

Hofoperntheater.

(„Ein Tanzmärchen“, Ballet von F. Gaul und J. Haßreiter. Musik von Joseph Bayer.)


0003Ed. H. Ein Fest, das der französische Unterrichts-
0004minister Bardoux im Juni 1878 den fremden Gästen gab,
0005hatte eine ganz originelle, reizende Production zum Mittel-
0006punkt: ein getanztes historisches Concert. Die Ausführung
0007dieses neuen Gedankens erforderte unter Anderm zwei rare
0008Leute: einen Gelehrten, der sich auf den Tanz versteht, und
0009eine Tänzerin, die ein Gelehrter ist. Den Ersteren fand der
0010Minister in dem musikkundigen Archivar de Lajarte, die
0011Zweite in Mademoiselle Fonta von der Großen Oper. Die
0012Beiden hatten nach alten choreographischen Aufzeichnungen,
0013Bildern und Partituren die ganze Production arrangirt. Auf
0014einer niedlichen Bühne am äußersten Ende des Festsaales
0015wurden zuerst einige der berühmtesten Tänze aus dem
0016sechzehnten und siebzehnten Jahrhundert im französischen
0017Hofcostüm jener Zeit ausgeführt, dann das Blumenballet
0018aus den „Indes galantes“ von Rameau. Mademoiselle
0019Fonta und zwölf andere Tänzerinnen stellten die Blumen
0020vor, welche von zwei Ballettänzern in der Maske des „Boreas“
0021und des „Zephyrs“ umschwirrt wurden. Die alte Tanzmusik
0022wurde blos von einem Clavier und fünf Geigen ausgeführt,
0023um annähernd auch den mageren Orchesterklang jener Zeit
0024wiederzugeben. Diese Idee in großartiger Erweiterung und
0025Ausstattung für ein ganzes Ballet zu verwerthen, das mag
0026den Herren Gaul und Haßreiter vorgeschwebt haben,
0027als sie das „Tanzmärchen“ concipirten. Sie versuchen es
0028darin, die Entwicklung des Tanzes von den ältesten Zeiten
0029bis auf die Gegenwart uns in Bildern vorzuführen. Ein
0030ebenso verlockendes, als schwieriges Unternehmen. Das Publi-
0031cum soll ja in solch einem historischen Ballet fortwährend
0032unterhalten und belehrt werden: zwei Ansprüche, die sich
0033gar häufig gegen einander wehren. Die historische Treue der
0034vorgeführten Tänze, also der eigentlich belehrende Factor, ist
0035für die vorclassische und griechisch-römische Zeit einfach un-
0036möglich; wir wissen nicht, wie damals die Tänze ausgesehen
0037und die Musik dazu geklungen hat. Hier ist der Phantasie
0038des Balletmeisters und des Componisten fast Alles anheim-
0039gegeben. Für die Tanzweisen des späteren Mittelalters
0040und der Renaissance besitzen wir zwar ergiebigere
0041Quellen, allein ein reichliches Ausschöpfen dersel-
0042ben müßte ein modernes Publicum kläglich ermüden.
0043Das langsame Tempo, die abgemessenen steifen Bewegungen,
0044die dünne, blutleere Musik dieser Tänze können wir auf die
0045Dauer nicht ohne Langweile aufnehmen. Wir verlangen heute
0046Feuer und Sinnlichkeit vom Tanz und vollends von der
0047Tanzmusik: das bietet aber nur die moderne. Damit ist
0048wiederum das Historische eines solchen Ballett-Abends beiseite
0049gedrängt. Aber das Schwierigste kommt noch von einer
0050andern Seite. Angenommen, die Vermittlung des historisch
0051Echten und des unmittelbar Ergötzenden sei in jeder einzelnen
0052Tanzscene wirklich geglückt — wie bringt man einen drama-
0053tischen Zusammenhang in dieselben? Ein ganzes großes
0054Ballet braucht doch eine, wenn auch noch so lose zusammen-
0055hängende Handlung, nicht blos eine Reihe chronologisch ge-
0056ordneter Tanzproben. Diese Handlung sind uns die Autoren
0057des „Tanzmärchens“ schuldig geblieben. Sie bieten uns ein
0058buntes Bilderbuch, reich an malerischen Gruppen, reizenden
0059Gewändern und blendenden Decorationen, ein Bilderbuch,
0060dessen einzelne Blätter auch der historischen Farbe nicht er-
0061mangeln, denen aber die verbindende Handlung, der geistige
0062Mittelpunkt fehlt. Um wenigstens den Schein eines solchen
0063herzustellen, erfanden die Herren Gaul und Haßreiter ein
0064Vorspiel auf dem Parnaß, oder „am Parnaß“, wie das
0065Textbuch nach liberalem Wiener Sprachgebrauch sagt.


0066Es gibt ein sehr anmuthiges Bild, wie der Flöten-
0067spieler Audron (Fräulein Pagliero), nachdem er sich aus
0068dem castalischen Quell ein Räuschchen angetrunken, eine
0069allerliebste kleine Oreade und einen alten zottigen Pan durch
0070seine Töne herbeilockt und tanzen macht. Auf seine Bitte
0071commandirt Apollo die Musik, die Plastik und die Poesie 
0072herbei, welche durch ihre Vereinigung die Muse des Tanzes 
0073schaffen. Diese (Frau Abel) läßt sich nun auf die Erde
0074herab, mitten in eine egyptische Landschaft, wo „der Genius
0075der Zeit“ und der „Genius des Heidenthums“ ihr alle mög-
0076lichen Requisiten aufnöthigen, die sie gleich wieder fortwirft,
0077bei welcher Beschäftigung ihr alle zwei Minuten ein Spiegel
0078vor’s Gesicht gehalten wird. In dem „Tanzmärchen“ sind 
0079die meisten Scenen ohne die Informationen des Textbuches
0080völlig unverständlich; die eben geschilderte hat die Specia-
0081lität, daß auch mit dem Textbuch sie kein Mensch versteht.
0082Auf dieses „Vorspiel“ folgen zunächst die religiösen Tänze
0083des Alterthums. Zuerst ein heidnisches Opferfest der alten
0084Germanen im Eichenhain. Ein Gefangener wird herein-
0085geführt, auf den flammenden Opferherd gelegt und von dem
0086Druiden säuberlich abgestochen. Eine peinliche und ganz
0087unnöthig häßliche Scene; ein Schaf hätte denselben Dienst
0088gethan. Auch in dem zweiten Bild, an den Ufern des Nils,
0089geht es recht betrübend zu: der heilige Stier Apis ist um-
0090gestanden und wird in feierlicher Procession herumgetragen.
0091Unter wildem Jammer und Wehklagen, das uns nur mäßig
0092rührt, tanzt die verwaiste Bevölkerung einen Trauerreigen.
0093Vom Nil und dem Apisdienste gerathen wir unmittelbar ins
0094Alte Testament. König David tanzt vor der Bundeslade;
0095eigentlich studirt er nur, fortwährend in großer Aufregung,
0096ob und was er tanzen solle. Wir kommen aus der Religion
0097oder aus den Religionen nicht heraus; ganz nach dem Aus-
0098spruche Atta Troll’s: Tanzen ist ein Gottesdienst, ist ein
0099Beten mit den Beinen. Den getanzten Islam, der im
0100Programm noch durch drehende Derwische vertreten ist, hat
0101man weislich gestrichen. Bei dem „Fest des Mars“ in Pom-
0102peji geht es wenigstens lustig her. Der Anfang blieb uns
0103freilich ein Räthsel. Zwei langbärtige Kerle, die sich aus dem
0104jüdischen Bild nach Pompeji verirrt zu haben scheinen, führen
0105einen sonderbar gesticulirenden alten Herrn auf die Bühne,
0106der sich so lange über Alles verwundert, bis er
0107endlich von seinen ungeduldigen Wärtern abgeführt wird.
0108Das Textbuch gibt gar keine Auskunft über diesen merk-
0109würdigen Jubelgreis, von dem wir nur die Hälfte der
0110Wahrheit auszusagen glauben, wenn wir ihn für einen
0111pompejanischen Halbtrottel halten. Nun folgen mehrere
0112lebensvolle, charakteristische Tänze der Springer, der Gauk-
0113ler, der Gladiatoren, zum Schlusse ein wahrer Farbenrausch
0114von einem Bacchanale. Inmitten dieser Festlichkeiten strahlt
0115goldgerüstet, lanzenschwingend die königliche Erscheinung
0116einer Amazone: Frau Abel. Sie allein vermittelt eigent-
0117lich das Bischen Zusammenhang zwischen den Scenen des
0118Tanzmärchens“, indem sie als „Muse der Tanzkunst“
0119unter verschiedenen Gestalten in allen Epochen, bei allen
0120Völkern immer wieder auftaucht. In dem Trauer-Reigen
0121um den seligen Apis überrascht Frau Abel durch schöne [2]
0122Plastik der Bewegungen und höchst ausdrucksvolle Mimik;
0123die übrigen Abtheilungen ziert und belebt sie wenigstens
0124durch ihre prächtige Erscheinung.


0125In den vier Bildern des ersten Actes haben wir an
0126prachtvollen Costümen, Decorationen und Festaufzügen so viel
0127Blendendes zu schauen bekommen, daß wir dem Folgenden
0128mit einigem Bangen entgegensehen. Aber unser „Tanzmär-
0129chen“ hat sich noch lange nicht ausgegeben. Der zweite Act
0130führt uns ins Mittelalter. In seinem Palast zu Bagdad 
0131faullenzt ein contemplativer Khalif (Herr Price) und läßt
0132sich von einer behenden Odaliske (Fräulein Vergé) den
0133„Bienentanz“ vorgaukeln. Mit einem Zauberschlag fliegen
0134wir von Bagdad nach der Burg Mödling. Es wird uns
0135ganz heimatlich wohl zu Muthe. Eine Scene voll echter Poesie
0136spielt sich ab. Walther von der Vogelweide (Herr Frappart)
0137kommt angeritten, lagert sich vergnügt unter der großen
0138Linde und spielt eines seiner Tanzlieder auf der Geige. Feine
0139Damen und Ritter, durch den jungen Ulrich von Liechten-
0140stein herbeigerufen, lauschen entzückt dem Minnesänger. Dann
0141bemächtigen sich die Dorfbewohner des Platzes unter der Linde
0142und erlustigen sich im Springtanz, zu welchem ein kleiner Chor
0143hinter der Scene das Tanzlied singt. Die Scene verwandelt sich
0144in eine weite Prunkhalle, Schloß und Garten von Versailles 
0145im Hintergrunde. Die richtige Umgebung für eine Reihe
0146alter Ceremonien-Tänze aus der Zeit vom 16. Jahrhundert
0147bis zum Wiener Congreß. Den Anfang macht der
0148„Branle“ (von bransler, sich regen, sich bewegen), der
0149älteste aller französischen Tänze, mit welchem zur Zeit
0150Ludwig’s XIV. alle Bälle anfingen, wie später mit dem
0151Menuett und schließlich mit der Polonaise. Es wurde immer
0152dazu gesungen; leider nicht im Hofoperntheater. Sehr hübsch,
0153wenngleich in stark censurirter Lesart, tanzten Fräulein
0154Allesch mit Herrn v. Hamme die „Volte“, einen der
0155beliebtesten, keineswegs sittsamsten Tänze des 16. Jahr-
0156hunderts. Der Tänzer mußte ein starker Mann sein, „un
0157cavalier gaillard“; er hatte seine Dame mehrmals im
0158Wirbel herumzudrehen und dann hoch in die Luft zu schwin-
0159gen. Und doch tanzte man die Volte auf allen Hofbällen
0160und feierte die Königin Margot als eine berühmte Volteuse.
0161In Deutschland reihte Prätorius diesen Tanz unter die
0162schlimmsten „Blocksberg-Verrichtungen“ und rief dagegen
0163eine „wolbestelte Policey“ zu Hilfe. Im Gegensatz zur Volte
0164bewegte sich die „Pavane“ voll Würde und Feierlichkeit
0165(Fräulein Well mit Herrn Raymund); die Cavaliere 
0166tanzten sie im Mantel und Degen, bedeckten Hauptes. Die
0167Courante“, von sechs Ballett-Tänzerinnen graziös ausgeführt,
0168ist die Mutter des Menuetts, ein „getretener“ Tanz, ein
0169Umgang mit der Dame, unter vielen Verbeugungen, Auf-
0170treten auf die Fußspitzen und anderen künstlichen Pas. Die
0171„Sarabande“ bekommen wir als Scene aus einem mytho-
0172logischen Ballet zu sehen. In diesen Balletten herrschten die
0173strengsten Costümvorschriften, die mit der merkwürdigen
0174Zähigkeit, welche die Franzosen in ästhetischen Dingen kenn-
0175zeichnet, sich unglaublich lange unverändert erhalten haben.
0176Herr Frappart, welcher die Sarabande mit fünf Damen
0177tanzt, erscheint als Sonnengott Apollo ganz costümgetreu
0178mit einer Sonne auf der Brust, Krone und Federn auf
0179der mächtigen Allonge-Perrücke und ungarischen Schnür-
0180stiefeln. Schade, daß man nicht gerade diese mythologische
0181Scene etwas erweitert hat durch Beiziehung des Ballet-
0182corps. Die allegorischen Costüme aus der Zeit Ludwig’s XIV. 
0183hätten gewiß ein heiteres Interesse erregt. Die „Winde“ er-
0184schienen stets mit pausbackigen Larven, Blasbälge und Fächer
0185in der Hand; die „Gärtner“ bedeckt mit Rüben, Kohl und
0186allerhand Gemüse; der „Genius der Musik“, trug auf
0187dem Kopfe eine Guitarre, als Corsett eine Baß-
0188viola mit zwei Lauten als Schößen; „die Welt“
0189steckte in einer Landkarte, das Herz war Frank-
0190reich, der Aermel England, der Stiefel Italien; auf
0191dem Rücken stand: Unbekannte australische Länder. In
0192rascher Folge werden noch eine Gavotte, ein altfränkischer
0193Tanz und zwei Menuetts — der eine aus dem achtzehnten
0194Jahrhundert, der andere aus der Congreßzeit — vorgeführt,
0195worauf diese interessanteste Abtheilung des „Tanzmärchens“
0196mit einem feierlichen „Fackeltanz“ schließt, wie er bekanntlich
0197heute noch bei Vermälungen am Berliner Hof getanzt oder
0198richtiger marschirt wird.


0199Der dritte Act gehört unserem Jahrhundert. Wir er-
0200blicken beim Aufziehen des Vorhangs eine Art Denkmal mit
0201den Porträt-Medaillons von Lanner und Strauß. Ich
0202möchte für die Beseitigung dieses Decorationsstückes stimmen,
0203einmal weil es das einzige mittelmäßige ist, sodann weil es
0204zu dem Folgenden nicht paßt. Weder die Einleitungsmusik
0205— der bekannte von Lully componirte „erste Menuett“ in
0206D-moll — noch die „Chaconne“, deren Beliebtheit ins
0207sechzehnte Jahrhundert fällt, haben mit der Zeit unserer
0208Walzercomponisten etwas zu schaffen; beide Stücke hätten in
0209den zweiten Act gehört. Statt der schlechten Porträts von 
0210Strauß und Lanner hätte uns das „Tanzmärchen“ lieber
0211einige ihrer guten Walzer bringen sollen. Die Scenen in
0212der Tanzschule und der Traum des (von Frappart köstlich
0213gespielten) alten Tanzmeisters sind etwas lang ausgesponnen
0214und von geringerem Interesse. Desto erfrischender wirken
0215darauf die in einem modernen Vergnügungs-Etablissement
0216producirten Nationaltänze. Fräulein Cerale glänzt in der
0217virtuosen Ausführung der Cachucha, Fräulein Lucia Balbo 
0218in der Chaconne, Fräulein Rathner, selbstverständlich, im
0219Cancan.


0220Nachdem wir uns dergestalt von den Druiden bis zum
0221Cancan glücklich durchgetanzt haben, glauben wir logischer-
0222weise am Ende der Weltgeschichte angelangt zu sein. Weit
0223gefehlt! Unsere Ballet-Autoren springen hier plötzlich von
0224ihrem historischen Thema ab und überraschen uns noch mit
0225einem Tanz von Kobolden in der Gnomenhöhle, einem
0226Hexentanz in der Walpurgisnacht und einem Nixenreigen
0227bei Mondschein. Wir verstehen nicht recht, wie man diese
0228Legenden, die jedenfalls besser in der prähistorischen Zeit
0229figurirt hätten, an den Walzer und Cancan als unmittelbare
0230Fortsetzung knüpfen kann. Demungeachtet würde den mond-
0231beglänzten Nixenteich mit seiner herrlichen Walddecoration
0232Niemand gerne missen. Das vierzehnte und letzte Bild nennt
0233sich „Das Reich des Frohsinns“, welches wir uns somit als
0234ein fliegendes Corps von jungen Tänzerinnen in rosa Kleidchen
0235und großen rosa Hüten vorzustellen haben, in deren Mitte
0236Fräulein Cerale sich siebenhundertmal um ihre eigene Achse
0237dreht. Nach dieser „Apotheose“, wie das Ding in der Ballet-
0238sprache heißt, erheben wir uns erfüllt, geblendet, verwirrt
0239und gedemüthigt von all dem Zauber, den wir gesehen, und
0240wünschen nur, es wäre etwas weniger gewesen. Dieses
0241luxuriöse Wandelpanorama beschäftigt so unausgesetzt das
0242Auge, daß man der Musik besondere Aufmerksamkeit gar
0243nicht widmen kann. Sie wirkt hier in der That mehr deco-
0244rativ als selbstständig. Herr Joseph Bayer, der seiner
0245Puppenfee“ einen wohlverdienten Ruf verdankt, hat zu den
0246zahlreichen, so heterogenen Bildern des „Tanzmärchens“ eine
0247recht charakteristische und wohlklingende, wenn auch nicht
0248eigenartige Musik geschrieben. Alle Bilder dieser getanzten
0249Weltgeschichte mit originellen, packenden Melodien auszu-
0250statten, war kaum möglich. So hat sich denn der Componist
0251dahin entschlossen, lieber gar keine von den Zeitepochen und
0252Nationalitäten durch Bevorzugung einer andern zu kränken.