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Neue Freie Presse
Morgenblatt
Nr. 9480. Wien, Freitag, den 16. Januar 1891

[1]

Concerte.


0002Ed. H. Werthvoll und anziehend war jedes der vier
0003Musikstücke des letzten Gesellschaftsconcertes; zusammen
0004gaben sie aber doch kein zweckmäßiges Programm. Keine
0005dieser vier Nummern — Bach, Mozart, Brahms, Händel 
0006— fand einen natürlichen Uebergang, eine innere Beziehung
0007zur nächstfolgenden, und so mochte es kommen, daß die Zu-
0008hörer nur an der ersten sich wirklich erwärmten. Dieses Er-
0009öffnungs- und Hauptstück war Bach’s Kirchen-Cantate „Ich
0010hatte viel Bekümmerniß“, eine der kostbarsten Perlen aus
0011dem uns nur unvollständig erhaltenen und trotzdem fast un-
0012übersehbaren Schatz von Kirchen-Cantaten, welche der arbeits-
0013frohe und gottesfürchtige Meister im Laufe der Jahre auf-
0014gethürmt hat. Die Anfangsworte: „Ich hatte viel Bekümmer-
0015niß in meinem Herzen, aber deine Tröstungen erquickten
0016meine Seele“, pressen den ganzen Inhalt des Werkes wie
0017in eine Thesis zusammen, welche dann in jeder ihrer beiden
0018Hälften, der betrübten und der getrösteten, mit dem mächtig-
0019sten Herzensantheil ausgeführt wird. Die Cantate besteht aus
0020einer Orchester-Einleitung (Sinfonia) und acht Vocalsätzen.
0021Von den Sologesängen gebührt wol die Palme der von
0022einer Oboë umrankten Sopran-Arie in C-moll. Sie hat
0023(wie auch die zweite Tenor-Arie in F-dur) eine Süße und
0024Jugendlichkeit der Melodie, wie wir sie bei Bach selten an-
0025treffen; wir möchten, so unerheblich sonst die Jahresringe
0026gerade bei Bach sind, der frühen Entstehungszeit (1714)
0027etwas von diesem Reize zuschreiben. Die Tenor-Arie in
0028F-moll, „Bäche von gesalzenen Zähren“, mit ihrem so er-
0029greifenden begleiteten Recitativ ist ein merkwürdiges Bild
0030rastlos wühlenden Schmerzes. Ungleich schwächeren, fast be-
0031fremdenden Eindruck macht das breit ausgesponnene Duett
0032zwischen Sopran und Baß. Die „gläubige Seele“, eine
0033stereotype Erscheinung in der älteren protestantischen Kirchen-
0034musik, tritt hier in unmittelbaren Wechselgesang mit dem
0035Heiland. Die pietistische Süßlichkeit dieses Stückes verstimmt
0036uns und die unersättlich wiederholten Gegenreden: „Komm’
0037mein Jesu und erquicke — Ja, ich komme und erquicke “ —
0038„Nein, ach nein, du hassest mich — Ja, ach ja, ich
0039liebe dich!“ versetzen uns aus der Kirche in die Oper. 
0040Als ich vor etwa dreißig Jahren dieses Bedenken gegen das
0041Duett aussprach, wurde ich von einem der Generalpächter
0042des Bach-Cultus gehörig abgekanzelt. Es erreicht mich jetzt
0043die besondere Genugthuung, daß der gelehrteste und unbe-
0044dingteste Bach-Verehrer, Philipp Spitta, in seiner classi-
0045schen Biographie das Duett „einen geradezu wunden Punkt“
0046der Cantate nennt, „ein Stück, das überall den Eindruck
0047eines reizenden Liebesduettes machen muß“. „Alle Kirchen-
0048musik,“ sagt Spitta, „hört auf, sobald zwei Persönlichkeiten
0049dermaßen sich in Aufforderung und Gewährung, in Wider-
0050spruch und Zustimmung mit einander zu thun machen, wie
0051es hier geschieht. Das Duett ist, was Kirchenmusik niemals
0052sein darf, dramatisch. Bach hat, es muß leider gesagt wer-
0053den, nicht nur nichts gethan, um das Verfehlte der Dichtung
0054zu mildern, sondern es durch seine Behandlung noch gestei-
0055gert.“ Solche Unbefangenheit des Urtheils ist Spitta hoch
0056anzurechnen; sie hat ihn gewiß einige Ueberwindung ge-
0057kostet. Wer mit der ganzen Energie seiner Liebe und Be-
0058wunderung an Einem Tondichter hängt, in aufopfernder, jahre-
0059langer Arbeit dessen Leben erforscht und darstellt, dem ge-
0060schieht es unversehens, daß der Held seines Buches ihm
0061schlechtweg als das Ideal erscheint, ihm das Maß aller
0062Dinge wird. Ich glaube, unsere beiden berühmten Musik-
0063forscher Spitta und Chrysander würden aufrichtige
0064Liebe für Bach und Händel noch viel mehr gefördert und
0065gefestigt haben, wenn sie hin und wieder, wie in vorliegen-
0066dem Fall, wirklich gesagt hätten, „was leider gesagt werden
0067muß“. Unter Anderm auch über die schrecklichen pietistischen
0068Poesien von Salomon Franck und ähnlicher Dichter, die
0069Bach mit Vorliebe „und nicht blos auf höheren Wunsch“
0070in Musik setzte. Die allzu milde Beurtheilung dieser „singen-
0071den evangelischen Schwanen“ macht uns verdrießlich, wie
0072diese Poesien selbst. Von den Chören der Cantate wird
0073man bald diesen, bald jenen als den schönsten bewundern,
0074je nachdem man abwechselnd sich darein vertieft. Auf dem
0075Boden, den der erste Chor schlicht und kräftig vorbereitet,
0076erhebt sich der Chor: „Was betrübst du dich, meine Seele“
0077zu riesiger Höhe, starrend im Reichthum polyphoner Kunst,
0078unerschöpflich in immer neuen Wendungen. Mendelssohn’s
0079Composition derselben Psalmworte steht in ihrer modernen
0080Sanftmuth wie ein Kind daneben. Im zweiten Theil ist der
0081Chor: „Sei nur wieder zufrieden“ (Choral mit Fuge) von
0082überwältigender Kraft und Erhabenheit; die Polyphonie wirkt 
0083hier in ihrem eigensten Element, mit einer nur Bach er-
0084reichbaren Freiheit der Bewegung. Es war eine vortreffliche
0085Idee Gericke’s, die Choral-Melodie („Wer nur den lieben
0086Gott läßt walten“) von zehn oben auf der Orgelgalerie
0087postirten Knaben singen zu lassen, wodurch dieser stimmen-
0088umflochtene Cantus firmus gleichsam für Aug’ und Ohr
0089plastisch hervortrat. Mit einer bei Bach seltenen, desto mehr
0090an Händel mahnenden Sonnenklarheit intonirt der Schluß-
0091chor unter Trompeten-Geschmetter ein auf den Intervallen
0092des C-dur-Dreiklanges machtvoll aufsteigendes Thema, das
0093im Verlauf den Schmuck reichster Figuration siegreich durch-
0094dringt. Die Cantate, welche hier zum erstenmale 1863 von
0095der „Wiener Sing-Akademie“, unter Brahms’ Leitung auf-
0096geführt, aber sehr selten wiederholt worden ist, war für einen
0097großen Theil des Publicums neu. Hoffentlich läßt man sie
0098nicht wieder so lange ruhen; das ist in Wahrheit eine Ton-
0099dichtung „per ogni tempore“, wie Bach auf den Titel
0100schrieb — eine Musik für alle Zeiten!


0101Neben der Bach’schen Cantate nahm sich das liebliche A-dur-
0102Andante aus Mozart’sHaffner-Serenade“ ungefähr aus
0103wie ein kleines Lusthäuschen neben einem gothischen Dom.
0104In Salzburg kann ich nie die „Sigmund Haffner-Gasse“
0105passiren, ohne an diese Mozartisch liebenswürdige Hochzeits-
0106Serenade zu denken, welche da 1776 vor dem Hause des
0107Bürgermeisters Haffner, des Vaters der Braut, gespielt
0108worden ist. Für einen großen Concertsaal war sie niemals
0109bestimmt. Auch das romantische Dämmerlicht der beiden
0110Brahms’schen Frauenchöre mit Harfe und Hörnern
0111(Nr. 1 und 4 aus op. 17) leuchtete fremdartig in diese
0112Umgebung und wirkte schwächer als sonst. War man ein-
0113mal mit Siebenmeilenstiefeln von Bach zu Mozart und
0114zu Brahms vorgeschritten, so hätte es sich empfoh-
0115len, uns für den Schluß des Concertes im neun-
0116zehnten Jahrhundert zu belassen. Statt dessen wurden
0117wir wieder mit einem starken Ruck um anderthalb Jahr-
0118hunderte zurückgeschnellt und mußten unser Ohr neuerdings
0119für eine Hochzeits-Cantate von Händel umstimmen. Es war
0120eigentlich eine Combination aus den beiden „Wedding-
0121Anthems“, die sich im 36. Band der großen Händel-Aus-
0122gabe befinden. Wer die wichtigsten Sachen von Händel 
0123kennt, der wird in diesen beiden Hochzeits-Cantaten nicht viel
0124Neues erlebt haben. Freilich, wenn Händel einen jubelnden
0125Chor in D-dur mit Trompeten und Pauken entfesselt, dann [2]
0126ist die Wirkung jedesmal sicher und stark, mag sie auch noch
0127so sehr an Aehnliches von diesem Meister erinnern. In den
0128drei Arien („Selig ist der Mann, der fand ein treues Weib“,
0129„Ein gut’ Weib ist eine gute Gabe“ und „Kraft und Ehre
0130sind ihre Schützer“) herrscht ein biederer Gratulationston
0131und etwas nüchterne Feststimmung. Wie viel hat doch
0132Händel angenommen vom englischen Volkscharakter! In
0133diesen Hochzeitsmusiken duften die „Wedding-cakes“ und
0134schallen die englischen Toaste-Reden, etwa von der Beredt-
0135samkeit der Tenor-Arie, in welcher die Worte „sie wird
0136sich freu’n, sich freu’n“ achtunddreißigmal wiederholt werden.
0137In den beiden Cantaten von Bach und Händel wirkten zwei
0138namhafte auswärtige Künstler: Fräulein Pia v. Sicherer 
0139und Herr Staudigl. Erstere ist den Lesern von Musik-
0140zeitungen seit Jahren bekannt; es gibt wenig Oratorien-
0141Aufführungen und Musikfeste in Deutschland, in welchen
0142nicht Fräulein v. Sicherer mit gewohntem Erfolge den
0143ersten Sopranpart singt. Ihre, wie es scheint, etwas aus-
0144gesungene Stimme hat nichts Bestechendes; sie entbehrt der
0145Fülle und des Glanzes. Nur in hoher Lage vermochte sie
0146den großen Musikvereinssaal zu beherrschen. Ungetheiltes Lob
0147gebührt hingegen dem verständigen, unaffectirten Vortrage
0148und der vortrefflichen Gesangstechnik dieser Künstlerin, welche
0149die schwierigen Aufgaben der Bach’schen und Händel’schen
0150Arien mühelos überwand. Herrn Staudigl kennen wir
0151bereits als musterhaften Oratorien-Sänger; er hat sich als
0152solcher neuerdings vollständig bewährt. Den größten
0153Erfolg hatte Herr Gustav Walter. Wir hatten es
0154kaum für möglich gehalten, daß heutzutage ein Tenorist
0155mit der absonderlich schwierigen F-moll-Arie von den „gesal-
0156zenen Zähren“ eine vollkommene Wirkung erzielen, mehr
0157als seinen guten Willen zeigen könne. Walter hat nicht blos
0158mit einer meisterhaften Oekonomie des Athems diese krausen
0159Figurationen mühelos und schön bewältigt, er erfüllte sie
0160auch durchaus mit edler, warmer Empfindung. Nach jeder
0161von Walter’s Arien, ja selbst nach einem wundervoll vor-
0162getragenen kleinen Recitativ erhob sich ein Sturm von Bei-
0163fall. Wenn solche Kunst sich doch auf Andere übertragen
0164ließe! Walter will es wenigstens versuchen und das Seinige
0165dazu thun. Verläßlicher Mittheilung zufolge ist er geneigt,
0166die Ausbildung junger Sänger und Sängerinnen zu leiten,
0167deren Stimme und Talent hinreichende Garantie bieten, daß 
0168aus ihnen etwas wird. Die musikalische Jugend kann Herrn
0169Walter für diesen schönen Entschluß nur dankbar sein. Er-
0170wähnen wir noch, daß Frau Gisela Körner im Vortrag
0171der kleineren Alt-Soli sich hervorgethan hat und daß die Chöre
0172unter Gericke’s Leitung ihr Bestes leisteten, so können
0173wir von dem „Gesellschaftsconcert“ zu einigen Virtuosen-
0174Productionen übergehen.


0175Frau Therese Carreño, die schöne Mexicanerin, die
0176nicht einmal zu spielen braucht, um zu gefallen, hat unter
0177großen Beifallsstürmen ein eigenes Concert gegeben. Ihre
0178erstaunliche Kraft und Bravour haben wir bereits im Phil-
0179harmonischen Concert kennen gelernt. Dieselben Vorzüge
0180einer brillanten Technik und eines feurigen Temperamentes
0181bewährte die talentvolle Frau auch im Solospiel. Dagegen
0182gebrach es ihr manchmal an gesundem musikalischem Gefühl
0183und geläutertem Geschmack. Bald gerieth sie in ein Ueber-
0184hetzen des Tempos, wie im Finale der „Sonata appassio-
0185nata“, bald in unschöne Ueberkraft und Gewaltsamkeit,
0186wie in Chopin’s As-dur-Polonaise. Frau Carreño bestritt
0187das ganze Programm, das sie durch viele Zugaben noch er-
0188heblich ausdehnte, ganz allein. Ehemals galt es für selbst-
0189verständlich, daß die Musicirenden musikalisch waren. Heute
0190muß man es lobend hervorheben, wenn es vorkommt. Dies
0191ist der Fall bei Fräulein Marie v. Timoni, einer jungen
0192Pianistin, die mit gediegener Technik einen natürlichen,
0193anmuthig beseelten Vortrag verbindet. Ihr Concert hatte
0194den besten Erfolg, und wir wünschen ihr Glück dazu.
0195Die Pianistin Frau Susanne Rée brauchen wir den Lesern
0196nicht erst vorzustellen; sie hat sich als „Fräulein Pilz“ längst
0197einen geachteten Namen erspielt. Jetzt verleiht sie ihren Con-
0198certen einen neuen Schmuck, indem sie mit ihrem Gatten,
0199dem Componisten Louis Rée, Stücke auf zwei Clavieren
0200vorträgt. Beide spielen sehr musikalisch, warm und unge-
0201zwungen, mit Freude an der Sache. Die Frau ist mehr die
0202Clavierspielerin, der Mann mehr der Musiker. Seine Compo-
0203sitionen sind nicht von hervorragender Originalität, aber von
0204ernster musikalischer Tüchtigkeit; sie flunkern nicht mit hohlem
0205Aufputz. Rée’s Variationen für zwei Claviere enthalten einzelne
0206sehr feine, interessante Züge. Das treffliche Zusammenwirken
0207beider Ehegatten fand den verdienten allgemeinen Beifall.
0208Leider befand sich unter ihren Productionen auf zwei
0209Clavieren auch eine der „Bearbeitungen“, welche E. Grieg 
0210vier Mozart’schen Sonaten angethan hat. Er fügt zu dem
0211unveränderten Original eine „frei hinzucomponirte Beglei-
0212tung“ eines zweiten Claviers. Eine künstlerische Verirrung,
0213denn eine Mozart’sche Sonate bedarf keines zweiten Stock-
0214werkes von fremder Hand, noch verträgt sie eines. Die Sache
0215liegt nicht so plan, wie bei dem C-dur-Präludium von Bach,
0216über welches Gounod eine getragene Melodie wölben konnte,
0217denn gerade dieses Präludium kann ohne Frage aus dem
0218Gesichtspunkte einer Begleitungsfigur betrachtet werden. Wie
0219derb und mozartwidrig aber Grieg verfährt, beweist gleich
0220der Anfang der bekannten herrlichen C-moll-Phantasie, zu
0221deren ersten fünf Tacten unser Norweger einen Orgelpunkt
0222auf C fortwirbeln läßt! Wo so crasse Verdrehungen von
0223Mozart’s Willen nicht angehen, muß sich Grieg mit über-
0224flüssigen Verdopplungen, eingestreuten Imitationen und ähn-
0225lichem wohlfeilen Behelf begnügen. Grieg’s eigene Composi-
0226tionen könnten durch einige Mozart’sche Harmonien häufig
0227gewinnen, aber nicht umgekehrt... Das Concert der Pianistin
0228Fräulein Gisela Gulyas im Saale Ehrbar soll großen
0229Zuspruch und rühmlichsten Erfolg gehabt haben. Ich war
0230leider nicht dabei, kenne aber die ausgezeichneten Leistungen
0231der Gulyas seit lange und weiß, daß sie dazu nicht einmal
0232der neuesten Mode, der „Janko-Claviatur“, bedarf. Mit ihrem
0233Talent spielt man ebenso gut auf der „alten“ Claviatur, die
0234nicht nur wir gewöhnlichen Leute, sondern vorläufig noch
0235alle großen Componisten und Virtuosen benützen.


0236Das G-dur-Quartett (op. 27) von Ed. Grieg, das
0237wir bei Rosé zu hören bekamen, hat sehr ungünstig von
0238seiner im Philharmonischen Concert aufgeführten Orchester-
0239Suite „Peer Gynt“ abgestochen. Bedeutend waren zwar auch
0240die Ideen dieser Suite nicht; wol aber anmuthig, charakte-
0241ristisch und von bezaubernder Klangwirkung. Das G-dur-
0242Quartett gefällt sich dagegen in gierigem Haschen nach
0243melodisch und harmonisch Bizarrem, nach verrenkten Rhythmen
0244und falschen Contrasten. Der Componist verräth ein wahr-
0245haft kindisches Vergnügen an Allem, was häßlich klingt, und
0246hat er einmal einen recht saftigen Mißklang ausgeheckt, so
0247läßt er ihn nicht so bald los. Was aber scheußlich klingt,
0248das wird nicht besser, indem man es uns für „norwegisch“
0249ausgibt. Das gesunde menschliche Ohr ist wol auch in
0250Skandinavien nicht anders organisirt; nur gibt es dort
0251mehr als anderswo Dichter und Tonsetzer, deren Kunst im [3]
0252Krankhaften nistet. Schade um ein Talent wie Grieg. Jeder
0253Satz seines Quartetts ist voll Leben und Bewegung, die im
0254lieblichsten Volkston gehaltene „Romanze“ sogar so reizend,
0255daß wir selbst ihren unförmlich wilden Mittelsatz mit in den
0256Kauf nehmen. Aber das Ganze (überdies ein Muster von
0257unquartettmäßigem Satz) bleibt ein unerfreuliches Werk.
0258Gespielt wurde es mit glänzender Virtuosität. Herr
0259Rosé hatte starke Kürzungen darin vorgenommen, ein
0260Verfahren, das grundsätzlich nicht zu billigen ist. Einen
0261Componisten, der kein Anfänger mehr ist, muß man für
0262das, was er schreibt, selber einstehen lassen, wenn man es
0263überhaupt aufführt. Im vorliegenden Falle mögen freilich
0264die Amputationen dem allgemeinen Eindruck nützlich gewesen
0265sein. Es folgten drei Liedervorträge von Fräulein Pia
0266v. Sicherer. Die Einmischung von Gesangs-Productionen
0267ist eine nicht empfehlenswerthe Neuerung; sie stört den ein-
0268heitlichen Charakter der Quartett-Abende, zerstreut die Zu-
0269hörer und macht sie ungeduldig ob der längeren Dauer des
0270Concerts. Die Stimme des Fräuleins v. Sicherer klang im
0271Bösendorfer-Saal und bei Clavierbegleitung weit stärker, als
0272jüngst im Gesellschaftsconcert; ja beinahe zu stark in den
0273beiden sehr bewegten Liedern von Jensen („Murmelndes
0274Lüftchen“) und von Brahms („Frühlingslied“). Die
0275Sängerin spannte ihr Organ hier zu einer stürmischen Leiden-
0276schaftlichkeit an, die ihr nicht natürlich zu sein scheint und
0277in eine Art monotonen Lamentirens überschlug. Ganz vor-
0278züglich gelang ihr dagegen Brahms’ tiefempfundene „Feld-
0279einsamkeit“, die ihr keinen Anlaß bot, Stimme und Aus-
0280druck zu forciren. Sie sang das Lied fast durchaus mezza
0281voce, ruhig und schön und mußte es auf allgemeinen Wunsch
0282wiederholen. Die sächsische Kammer-Virtuosin Frau Krebs-
0283Brenning
, welche den Clavierpart in Schumann’s Es-dur-
0284Quartett ausführte, hat bereits vor 25 Jahren als Fräulein
0285Mary Krebs erfolgreich in Wien concertirt. Das schlanke
0286fünfzehnjährige Mädchen von damals tritt uns jetzt als eine
0287gereifte blonde Schönheit entgegen, das personificirte Ideal
0288Georg des Vierten: „fair, fat and forthy.“ Ihr Spiel ist
0289heute noch ebenso geläufig, sicher und peinlich gewissenhaft
0290wie vor 25 Jahren; seelenvoller und interessanter ist es
0291nicht geworden. Mary Krebs ist noch immer die richtige
0292Capellmeisters-Tochter. Ihre Vorzüge in Ehren, aber das
0293talentvolle Ungestüm der Carreño mögen wir doch lieber.