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Neue Freie Presse
Morgenblatt
Nr. 9803. Wien, Donnerstag, den 10. December 1891

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Concerte.


0002Ed. H. Ueber den Musiken der letzten Woche leuchtete
0003noch immer das Sternbild Mozart’s. Ein Mozart-Abend des
0004Quartetts Rosé wurde mit einem Prolog von Richard
0005Specht eingeleitet, den Fräulein Pospischil vom Burg-
0006theater mit herausfordernd falschem Pathos, also recht un-
0007mozartisch, declamirte. Auch das Festconcert der Gesellschaft
0008der Musikfreunde hatte seinen eigenen Prolog, gedichtet und
0009gesprochen, ein bischen auch gesungen von Herrn Fritz
0010Krastel. Bei aller Werthschätzung ihrer edlen Gesinnung
0011und schmucken Form kann ich doch nicht verhehlen, daß
0012dergleichen poetische Festvorreiter mich mehr ernüchtern als
0013begeistern. Hört man nicht aus solchen Gelegenheitsversen
0014häufig eine Art Aechzen und Krachen, wie von der An-
0015strengung, etwas Neues aus einem längst ausgeschöpften
0016Thema herauszuholen? „Es ist mehr Glück in der Welt, seit
0017Mozart in ihr gelebt und geschaffen hat.“ Dieses einfach
0018schöne und tiefe Wort, mit welchem Berger’s kurze Prosa-
0019rede anhebt, wiegt Dutzende von zierlich gereimten Prologen
0020auf. Köstlicheres hätte Herr Rosé uns nicht bescheeren können,
0021als Mozart’s G-moll-Quintett. Welche Genialität in dieser so
0022natürlich und gesangvoll hinfließenden Musik! Wie trägt uns
0023jede Welle so leicht und glücklich weiter! Jeder Tact des Quintetts
0024ist echter Mozart — und dennoch glauben wir darin eine unter-
0025irdische verhüllte Strömung rauschen zu hören, die auf Kom-
0026mendes hinweist: auf Beethoven und Spohr. Dieses
0027Quintett, welches Franz Schubert in einem Tagebuchblatt
0028voll schwärmender Seligkeit preist, wurde von Herrn Rosé 
0029und seinen Genossen fein und sorgfältig gespielt. Die tiefe
0030Empfindung und Poesie, mit welcher vordem der ältere
0031Joseph Hellmesberger das Andante verklärt hat, ist
0032freilich von keinem seiner Nachfolger erreicht worden. Neben
0033dem G-moll-Quintett machte Mozart’s Clavierquintett in
0034Es natürlich eine bescheidenere Figur. Dergleichen war seiner-
0035zeit nicht für öffentlichen Concertvortrag berechnet, sondern
0036für häusliche Kreise und eine mäßige Fertigkeit. Und doch
0037fand der Leipziger Verleger Hofmeister die Mozart’schen
0038Clavierquartette „zu schwer“ und wollte sie nicht drucken.
0039Wie riesig haben seither die Ansprüche an die Claviertechnik, 
0040selbst der Dilettanten, sich gesteigert! Fräulein Lilli v. Weil,
0041welche den Clavierpart spielte, zeigte sich ihrer Aufgabe voll-
0042kommen gewachsen. Es war hübsch, zu beobachten, wie der
0043schwere Ernst, den das Lampenfieber auf ihr anmuthiges
0044Gesicht gedrückt hatte, bei dem Schlußapplaus des Publicums
0045endlich löste und sein verlorenes Lächeln wiederfand.


0046Von den beiden durch die Gesellschaft der
0047Musikfreunde
veranstalteten Mozart-Festconcerten war
0048das erste geistlicher Musik gewidmet, das zweite weltlicher.
0049Das „Ave verum“ gehört zu jenen Wunderwerken reinster
0050Schönheit, wie sie kaum in Einem Jahrhundert einmal er-
0051scheinen. Es ist wie das Requiem in Mozart’s Todesjahr
0052componirt, und zwar in Baden, wo Mozart auf Besuch bei
0053seiner kranken Frau verweilte. Auf das „Ave verum“ folgte
0054das Requiem, um dessen gelungene Aufführung sich der
0055Dirigent Herr W. Gericke und der Wiener Singverein,
0056dann die Damen Ehrenstein und Körner, die Herren
0057Walter und Grengg als Solosänger verdient gemacht
0058haben. Der tragische Fall, daß ein Sterbender eine Todten-
0059messe schreibt und mitten in der Arbeit hinüberschlummert,
0060hat sich bei einem anderen Salzburger Meister und Freunde
0061der Mozart’schen Familie wiederholt. Michael Haydn 
0062(der jüngere Bruder Joseph Haydn’s) componirte ein Requiem 
0063in demselben bestimmten Vorgefühle wie Mozart, er schreibe
0064es zu seiner eigenen Leichenfeier. Haydn († in Salzburg am
006510. August 1806) kam aber nur bis zur Stelle „Liber
0066scriptus proferetur“ im Tuba mirum, während Mozart 
0067seine Partitur-Anlage bis zum letzten Vers des „Hostias“
0068eigenhändig noch zu schreiben vermochte. Die jüngste Auf-
0069führung hat ohne Zweifel bei vielen Zuhörern die Erinne-
0070rung an den einst so heftig geführten Streit über die „Echt-
0071heit“ des Mozart’schen Requiems wachgerufen. Die Schriften
0072und Gegenschriften in diesem musikalischen Proceß bilden
0073einen ansehnlichen Actenstoß, durch welchen sich durchzu-
0074arbeiten nicht Jedermanns Sache ist. In der großen Breit-
0075kopf’schen Gesammt-Ausgabe ist durch die Anfangsbuchstaben
0076M. und S. deutlich ersichtlich gemacht, was in dem Requiem 
0077von Mozart und was von Süßmeyer’s Hand ge-
0078schrieben vorliegt. Nach dem von Brahms ver-
0079faßten Revisions-Berichte steht fest, daß Mozart den
0080ganzen ersten Satz und die Partitur-Anlage der
0081Sätze 2 bis 9 eigenhändig niedergeschrieben hat. Diese 
0082Anlage hat sein Schüler und musikalischer Amanuensis
0083Süßmeyer „mit ebenso viel Fleiß wie Pietät ergänzt“.
0084Gegen die Annahme, daß die drei letzten Sätze (Sanctus,
0085Benedictus und Agnus Dei) vollständig von Süßmeyer’s
0086Erfindung sind, bestehen zwar Vermuthungen, aber kein
0087strenger Gegenbeweis. Aus inneren Gründen wird es uns
0088allerdings sehr schwer, zu glauben, das herrliche „Agnus
0089Dei“ sei nicht von Mozart. A. B. Marx, dem gewiß
0090ein feiner kritischer Spürsinn eignete, urtheilte über diesen
0091Satz: „Hat das Mozart nicht geschrieben, nun wolan! so
0092ist der, der es geschrieben, Mozart.“ In neuester Zeit hat
0093G. Pressel behauptet, Süßmeyer habe auch die letzten
0094Sätze des Requiems keineswegs selbstständig erfunden, son-
0095dern auf Grundlage von Skizzen, die Mozart auf kleine
0096Blättchen geschrieben hatte, ausgearbeitet. So lange für diese
0097Annahme nicht positive Beweise erbracht sind, stehen wir
0098bezüglich der drei letzten Sätze durchaus noch auf dem Bo-
0099den der Vermuthung, was uns nicht hindern kann, mit
0100Otto Jahn, Marx und den besten von Mozart’s Zeitgenossen
0101das Requiem der Hauptsache nach als eine echt Mozart’sche
0102und Mozart’s würdige Schöpfung anzusehen.*)


0111Mit seinen letzten Werken, der Zauberflöte und dem
0112Requiem, stand Mozart in der Vollkraft seines Schaffens,
0113auf der Höhe seiner Meisterschaft. Wer kann sagen, daß
0114Mozart bei längerem Leben nicht ebenso Schönes oder
0115Schöneres, vielleicht ungeahnt Neues noch geschaffen hätte?
0116Wer vermöchte, Mozart’s und Schubert’s gedenkend, den
0117bequemen, falschen Trostspruch nachzubeten, daß jeder Mensch
0118zur rechten Zeit sterbe, sobald er seine Mission erfüllt hat?
0119Was ist denn die „Mission“ eines Künstlers? Das, was
0120er noch schaffen will und schaffen kann. Etwa von einem
0121Reitknecht, der zusammenstürzt, nachdem er die ihm anver-
0122traute Depesche übergeben, ließe sich sagen, er habe seine
0123Mission erfüllt. Kann man sich wirklich vorstellen, daß
0124Mozart und Schubert, wenn ihnen die Jahre Händel’s, [2]
0125Bach’s, Haydn’s vergönnt gewesen wären, etwa die zweite
0126Hälfte ihres Lebens nach der angeblich „vollendeten Mission“
0127thatlos und talentlos verträumt hätten? Nein, mit ihnen
0128sind ungeborene Wunderwerke zu Grabe gegangen, und die-
0129sem Verluste kommt kein Brand von Alexandrien gleich.
0130Die Natur ist völlig gleichgiltig gegen einzelnes Menschen-
0131schicksal; sie ist weder gnädig, noch grausam. Am allerwenig-
0132sten ist sie so wachsam und weise, daß sie jeden Menschen
0133„zur rechten Zeit“ niederstreckt, genau wann er „seine Mis-
0134sion vollendet hat“.


0135In dem zweiten Festconcert bildete die Ouvertüre zur
0136Zauberflöte“ das stolze, königliche Portal, durch das wir
0137zu anderen Mozart’schen Schöpfungen verschiedenartigen
0138Styls und Umfangs eingingen. Zuerst eines der schönsten,
0139zugleich das bekannteste der Mozart’schen Clavierconcerte
0140(D-moll), das ein talentvoller junger Pianist, Herr
0141Guido Peters, mit großem Beifall spielte. Wir hätten
0142aus seinem technisch wie musikalisch sehr tüchtigen Vortrag
0143nur einige sentimentale Drucker und schmachtende Verzöge-
0144rungen weggewünscht, die zu der klaren, heiteren Anmuth
0145Mozart’s nicht recht stimmten. Der aus Leipzig herüber-
0146gekommene Künstler ist ein Oesterreicher, der Sohn des zu-
0147letzt an der Grazer Universität thätig gewesenen verdienst-
0148vollen Professors Peters. In dem überaus schönen ersten
0149Satz des Concertes für Violine und Viola vereinigten sich
0150die Herren Hellmesberger jun. und Schwendt zu
0151feinstem Zusammenspiel. Herr Gustav Walter — wie
0152hätte er bei einer Mozart-Feier fehlen dürfen! — wurde mit
0153besonderer Herzlichkeit begrüßt und entzückte die Hörer mit
0154dem seelenvollen Vortrag der A-dur-Arie Fernando’s aus
0155Così fan tutte“. Der Wiener Männergesang-Verein sang
0156ein angeblich Mozart’sches Abendlied („Wie herrlich sind
0157die Abendstunden“), das nicht von Mozart ist, sondern eine
0158unterschobene Composition. Zu Mozart’s Zeit waren Com-
0159positionen für vierstimmigen Männerchor noch nicht im
0160Schwang; nur die Priesterchöre in der „Zauberflöte“ und
0161einige Gelegenheitsstücke Mozart’s für die Freimaurerloge
0162beschränken sich auf Männerstimmen, weil hier wie dort die
0163Anwesenheit von Frauen selbstverständlich entfiel. Zum
0164Schlusse gab es sogar eine Novität: die „Symphonie in
0165Einem Satz“ (G-dur), worin nach Art der älteren Ouver-
0166türen das erste Allegro in einen Andantsatz übergeht, worauf 
0167jenes wieder aufgenommen und durchgeführt wird. In
0168kleinerem Maßstabe weist die Ouvertüre zur „Entführung“
0169eine ähnliche Form auf. Die hier zum erstenmale aufgeführte
0170Symphonie (aus dem Jahre 1779) gehört nicht zu den be-
0171deutenderen, wirkt aber durch echte Mozart’sche Anmuth und
0172Lebensfrische.


0173So hätten wir denn im Laufe weniger Tage mehr
0174Mozart’sche Musik gehört, als uns sonst in drei Jahren ge-
0175boten wird. Es ist uns nicht zu viel geworden; Ohr und
0176Herz haben sich aufrichtig daran erlabt. Gewiß hat die Musik
0177seit Mozart große Evolutionen durchgemacht und mit hoch-
0178gesteigerten Mitteln neue Gebiete erobert. Der Umschwung
0179des Lebens hat uns andere, früher ungekannte Bedürfnisse
0180eingeimpft, zu deren Befriedigung der klare Quell Mozart’-
0181schen Gesanges nicht ausreicht. Wir können die Meister, die
0182auf Mozart folgten, nicht entbehren; sie sind — vielleicht
0183nicht zu unserm Heil — unser musikalisches tägliches Brot.
0184Mozart erscheint fast nur noch als Feiertagsgericht. Dagegen
0185mag eifern, wer das Naturgesetz, das auch in der Entwicklung
0186der Künste waltet, nicht begreift. Beklagen, als einen Ver-
0187armten beklagen müssen wir aber Jeden, den zeitweise Rück-
0188kehr zu Mozart nicht beglückt, wie ein Gruß aus dem ver-
0189lorenen Paradies, und der nicht beim Anhören der G-moll-
0190Symphonie, des G-moll-Quintetts, des „Don Juan“ oder
0191der „Zauberflöte“ Alles zu vergessen vermag, was eine neue,
0192leidenschaftlichere Zeit Bestrickendes geschaffen.


0193Drei Künstler haben inmitten der großen Mozart-
0194Bewegung und trotz derselben die allgemeine Aufmerksamkeit
0195zu fesseln gewußt: Alice Barbi, Eugen d’Albert und
0196Emil Sauer. Sie brauchen nicht, wie neue Erscheinungen,
0197beschrieben und gewürdigt zu werden. Das Wiener Publicum
0198zählt sie zu seinen Lieblingen, und wir selbst waren nicht
0199lässig in der Pflicht, sie zu besprechen, noch in dem Eifer,
0200sie so oft wie möglich zu hören. An fertigen Meistern wie
0201die Barbi und d’Albert sehen wir uns nicht versucht, etwa
0202neuen „Fortschritten“ derselben nachzuspüren; auch in Hinkunft
0203dürften schwerlich eingreifende Wandlungen ihrer Auffassung
0204oder Technik zu gewärtigen sein. Am ehesten noch bei
0205Sauer, weil er, als der jüngste und unruhigste von ihnen,
0206ebensowol eine Abklärung und Vertiefung seines Spiels, als
0207eine Bereicherung seines Repertoires nach der classischen Seite
0208erwarten läßt. Alice Barbi sah bei ihrem Auftreten alle 
0209Räume des großen Musikvereinssales, sogar das Podium,
0210dicht besetzt. Um der Sängerin willen freute uns dieser
0211materielle Erfolg; in unserem Interesse hätte sie lieber
0212einen kleineren Saal wählen müssen. Der Zauber ihres
0213Gesangs ist durchaus intimer Art; man muß ihr auch
0214räumlich nahe stehen, um den Eindruck ihrer Kunst voll-
0215ständig aufzunehmen und zu genießen. Die Stimme der
0216Barbi, welche niemals durch Fülle imponirt hat, klang über-
0217dies etwas angegriffen; es ist nicht gut, wenn die tonver-
0218zehrende Akustik eines zu großen Locals noch abschwächend
0219hinzutritt. Trotzdem ist unsere Freude an ihrem Gesang die-
0220selbe geblieben, wie ehedem. Wir hören die Barbi stets mit
0221einer Art von Andacht; der ideale Hauch, der ihre ganze Per-
0222sönlichkeit umweht, durchdringt auch jeden ihrer Töne. Auch
0223fühlen wir uns so wohlig sicher, daß kein unschöner Klang,
0224kein falscher Accent, kein gleichgiltig behandelter Tact uns je
0225aus der poetischen Stimmung aufschrecken werde. Aus ihrer
0226Art zu singen spricht eine vollendete Kunst und eine reine,
0227adelige Seele. In jedem Gesangsstück, das nicht besondere
0228Fülle und Kraft des Tones erheischt, ist sie meisterhaft,
0229ob es sich nun um eine anmuthige Neckerei wie Brahms’
0230Vergebliches Ständchen“ handelt oder um ein einfach herz-
0231liches Stimmungsbild, wie Schumann’s „Weit, weit!“, oder
0232um pathetische Klagen, wie in den Arien von Marcello 
0233und Buononcini. Daß sie das Brahms’sche: „Nicht
0234mehr zu dir zu gehen beschloß ich“ wiederholen mußte, eine
0235trüb dahinschleichende Meditation ohne jeden sinnlichen Reiz,
0236ist ein merkwürdiger Beweis für die mächtig angewachsene
0237Popularität des Componisten. Alice Barbi wurde von einer
0238englischen Pianistin, Namens Mary Wurm, sehr gut
0239begleitet.


0240Herrn Eugen d’Albert haben wir in zwei Concerten
0241gehört. Das erste gewährte den seltenen Genuß, einen großen
0242Virtuosen den ganzen Abend hindurch mit Orchesterbegleitung
0243spielen zu hören. Eine starke Aufgabe, Beethoven’s G-dur-
0244Concert, das in E-moll von Chopin und das Liszt’sche
0245in Es-dur hinter einander vorzutragen. d’Albert ist ein so
0246großes Talent, daß es sich beinahe nicht schickt, ihn zu loben.
0247Genug, daß er in den drei von einander so grundverschie-
0248denen Concerten sich gleicherweise als Meister gezeigt hat.
0249Auch seiner im Bösendorfer-Saal gegebenen Soirée verdanken
0250wir einen ungewöhnlichen Genuß, wenngleich das Programm [3]
0251uns nur theilweise befriedigen konnte. Mit Recht standen
0252Bach und Beethoven am Eingang. Eine großartigere tech-
0253nische Leistung wird man kaum zu hören bekommen, als
0254d’Albert’s Vortrag der Bach’schen Orgelfuge sammt Prä-
0255ludium (D-dur); welch bewunderungswürdige Deutlichkeit
0256des Details bei so großer, herrlicher Klangfülle! Auch
0257Beethoven’s „Waldstein-Sonate“ (deren Rondo d’Albert nicht
0258so rasch nimmt, wie die meisten Concertspieler) wirkte
0259mächtig durch die unvergleichliche Plastik und den männlichen
0260Ernst des Vortrages. Die zwei Sätze aus J. Raff’s 
0261Suite op. 91“ hätten wir dem Concertgeber gern
0262geschenkt; unerquickliche, zerfahrene Musik, ohne eigene
0263Gedanken, aber von großer Länge und großer Prätension.
0264Wie beglückend klang unmittelbar danach das G-dur-
0265Impromptu von Schubert, welches d’Albert zu singen 
0266weiß wie kein Zweiter! Am stärksten eingeschlagen hat ein
0267Strauß’scher Walzer, zu einem der schwierigsten modernen
0268Bravourstücke von Tausig umgestaltet. Als Seitenstück dazu
0269hätten wir uns die „Soirées de Vienne“ gewünscht — eine
0270musikalisch noch weit geistvollere Bearbeitung Schubert’scher
0271Ländler von Liszt. Allein d’Albert hatte aus seinem um-
0272fangreichen Liszt-Repertoire eine andere, weniger glückliche
0273Wahl getroffen. Wenn wir noch die „Irrlichter-Etude“ als
0274eine glänzende Virtuositäts-Probe d’Albert’s mit in den
0275Kauf nehmen, das „Sonetto di Petrarca“ (in welcher Liszt 
0276die gedrängteste und geschlossenste aller Dichtungsformen durch
0277ein haltloses Herumvagiren wiederzugeben vermeint) und die
0278haarsträubende „Spanische Rhapsodie“ sind kein würdiger
0279Beschluß eines d’Albert’schen Musikabends. ... Emil
0280Sauer reicht mit seiner glänzenden Technik nahe an
0281d’Albert heran, dessen vollendete Selbstbeherrschung und ab-
0282geklärte Ruhe er allerdings noch nicht erlangt hat. Hingegen
0283besitzt er wieder individuelle Vorzüge, welche ihn manchem
0284Hörer sympathischer machen; sein Ton ist weicher, wärmer,
0285sein Vortrag temperamentvoller. Wie übermäßige, also krank-
0286hafte Nervosität jede Kunst ruinirt, so erscheint sie in be-
0287scheidenem Maße heutzutage fast nothwendig, um das
0288Fluidum musikalischer Erregung in den Hörer überströmen
0289zu machen. Diese Nervosität durchzittert Sauer’s Spiel,
0290macht es zeitweilig ungleich, unruhig, oft aber hinreißend.
0291Wer Sauer öfter gehört hat, kann ihn unmöglich zu den 
0292lärmenden Kraftvirtuosen zählen; er gehört vielmehr zu den
0293zarten poetischen Spielern, die in der Lyrik Chopin’s,
0294Schubert’s, Schumann’s ihr Bestes leisten. Nur ausnahms-
0295weise, wo brutale Effectstücke wie Liszt’s „Tannhäuser“-
0296Ouvertüre und „Lucrezia Borgia“-Phantasie den Spieler
0297erbarmungslos zur äußersten Kraftentfaltung nöthigen, be-
0298kommt auch Sauer die Tobsucht. Von seinem Beethoven-
0299Spiel waren wir nicht durchwegs befriedigt. Hat er denn,
0300so höre ich fragen, die Sonate pathétique nicht schön ge-
0301spielt? Gewiß, nur zu schön. Das heißt, er hat auf Neben-
0302dinge, Passagen, Verzierungen eine auffallende Zierlichkeit
0303und virtuose Glätte verwendet, welche zu dem pathetischen
0304Charakter des Ganzen nicht recht stimmen wollten. Ein
0305ernster, von großen Gedanken erfüllter Mann wird nicht
0306daran denken, mit seinen Ringen oder Brillantknöpfchen be-
0307sonders glänzen zu wollen. Wenn ein Virtuose Einzelheiten,
0308insbesondere schmückende, bei Beethoven durch üppigen An-
0309schlag, perlendes Staccato, raffinirt ausgeklügeltes Cres-
0310cendo oder Diminuendo in eine zu helle Beleuchtung
0311rückt, so werden wir sagen, daß er diese Nebendinge zu 
0312schön macht und dadurch den einheitlichen großen Zug des
0313Ganzen verstört. In der zu langsam genommenen Einleitung
0314will Sauer das „Pathetische“ der Sonate noch pathetischer
0315machen, als nothwendig; das aufstürmende Thema des Allegro
0316bringt er nicht nachdrücklich gehämmert, wie es dem Cha-
0317rakter des Stückes entspricht, sondern in zierlich hüpfenden
0318Staccato — von anderen Einzelheiten zu schweigen. Gewiß
0319wird Sauer, ein ebenso begabter wie ernster Künstler, sich
0320noch tiefer in solche Aufgaben einleben und Beethoven so dar-
0321stellen, daß wir gar nicht merken, wie schön er spielen kann.
0322Bei Hellmesberger hat Sauer zum erstenmale in seinem
0323Leben Brahms gespielt (das Trio op. 8), und zwar mit
0324so zündender Wirkung, daß wir die Hoffnung daran knüpfen,
0325er werde sich fortan mehr mit Brahms’ Compositionen be-
0326schäftigen. ... Unter den hiesigen jungen Pianisten und
0327Pianistinnen, die jetzt in bedenklich großer Zahl zu concertiren
0328beginnen, ist Fräulein Marie v. Timoni mit besonderer
0329Auszeichnung zu nennen. Wir haben sie bereits im vorigen
0330Jahre als ein echtes bedeutendes Talent begrüßt, dem die
0331Musik nicht blos in den Fingern, sondern im Kopf und
0332Herzen sitzt.

Fußnoten
  • *)Während wir dies niederschreiben, erhalten wir den soeben
    erschienenen zweiten Band der classischen Mozart-Biographie von
    Otto Jahn in der von H. Deiters bearbeiteten und ergänzten
    dritten Auflage. (Leipzig, bei Breitkopf & Härtel.) Damit ist
    diese neue, zweibändige Auflage, welche durch Deiters’ Zusätze und
    Berichtigungen einen selbstständigen Werth beanspruchen kann, zur
    Freude aller Mozart-Verehrer vollständig. Wir werden uns ge-
    legentlich damit eingehender beschäftigen.