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Neue Freie Presse
Morgenblatt
No. 445. Wien, Donnerstag den 23. November 1865

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Concerte.


0002Ed. H. Zu den genußreichsten Concerten, welche die
0003rasch anschwellende Saison bereits gebracht, zählen wir das
0004„zweite Philharmonische“. Fräulein Auguste Kolar — sie
0005hat den Vortritt als Dame und Gast — spielte darin Men-
0006delssohn’s G-moll-Concert mit einem Erfolg, wie er so glän-
0007zend in den clavierfeindlichen Räumen des Hofoperntheaters
0008nur selten vorgekommen ist. Ihr Vortrag war von makel-
0009loser Reinheit, Sicherheit und Glätte, ein leichter Glanz lag
0010wie Goldstaub darüber. Fräulein Kolar gehört unter den
0011Virtuosen nicht zu den imposanten oder blendenden, sondern
0012zu jenen still erfreuenden, die mit leiser, aber sicherer Hand
0013fesseln. Ihre feine und eigene Empfindung stellt sie keinen
0014Augenblick durch Schminke oder Uebertreibung in Zweifel.
0015Das Gefühl erscheint bei ihr stets unter dem Einfluß des
0016musikalischen Verstandes, und verfällt niemals jener haltlosen,
0017in lauter Rubatos und kleinen Accenten zerschmelzenden
0018Weichlichkeit, welche leider die „Weiblichkeit“ am Clavier zu
0019repräsentiren pflegt. Viele Bravourstellen des Mendelssohn-
0020schen Concertes sind auf eine größere Kraft berechnet und
0021klingen unter Männerhänden imposanter; trotzdem könnten
0022wir nicht sagen, daß der Mangel an Schallkraft uns irgendwo
0023gestört, aus der Stimmung gebracht hätte. Der Grund liegt
0024in der feinen Ausgeglichenheit und inneren Harmonie der
0025ganzen Leistung. Fräulein Kolar gab dem Tonwerk den
0026wahren Ausdruck, der sich im Allegro weder zu einer Leiden-
0027schaft aufreizt, die Mendelssohn fremd ist, noch in dem ru-
0028higen Strom des Andante sich inhaltslos verliert. Mehr als
0029einmal unterbrach ihr Spiel jenes zufriedene Gemurmel der
0030Hörer, welches das schönste Accompagnement für den Spieler
0031ist; zum Schluß wurde die junge Künstlerin, deren anmuth-
0032volle Bildung und Bewegung auch nicht gerade abschreckend
0033wirken, drei- oder viermal stürmisch gerufen. Das Mendels-
0034sohn’sche G-moll-Concert selbst haben wir diesmal, nach einer
0035wohlthuenden Pause von mehreren Jahren, mit Vergnügen
0036und Bewunderung wieder gehört. Vor einem Decennium noch
0037erfüllte uns eine wahre Furcht davor, glaubte man doch be-
0038reits, die Claviere im Conservatorium spielten es von selbst.
0039Nun haben wir die nöthige Empfänglichkeit für ein Werk
0040wiedergewonnen, das unter Mendelssohn’s Clavier-Compositio-
0041nen ohne Frage obenan steht und als Concertstück wenige
0042seinesgleichen hat.


0043Beethoven’s Fest-Ouverture op. 124 („Weihe des
0044Hauses“), eine der schwierigsten Orchester-Aufgaben und da-
0045durch zu des Meisters Lebzeiten eine seiner härtesten Prü-
0046fungen, wurde mit vollendeter Virtuosität ausgeführt. Die
0047Pariser, welche mit so viel Stolz auf den „premier coup
0048d’archet“ ihrer Conservatoires-Concerte lauschen, hätten vor
0049diesen blitzartig einschlagenden Eröffnungs-Accorden gehörigen
0050Respect bekommen. Was die Ouverture selbst betrifft, so
0051konnte das Josephstädter Theater (zu dessen Eröffnung im
0052Jahre 1822 sie bekanntlich geschrieben ist) in erlauchterer
0053Weise gewiß nicht eingeweiht werden. Ihre Großartigkeit
0054in Styl und Dimensionen läßt kaum vermuthen, daß es sich
0055dabei um eine kleine Vorstadtbühne handelte, und das ko-
0056mische Mißverständniß Fétis’, der „die Weihe des Hauses“
0057mit „dédicace du temple“ übersetzte, erscheint in dieser
0058Hinsicht so ganz unvernünftig nicht. Bei all ihrer grandio-
0059sen Haltung hat übrigens die „Fest-Ouverture“ weitaus nicht
0060die frei und üppig dahinströmende Ideenfülle der Ouverturen
0061zu „Egmont“, „Coriolan“, „Fidelio“ und „Leonore“; viel-
0062mehr bestätigt sie sammt ihrer kleineren Vorläuferin („Na-
0063mensfeier“ op. 115), daß Beethoven in allen Gelegen-
0064heits
-Compositionen einen gedrückteren, mühsameren Flug
0065nimmt, als gewöhnlich. — Mit herzlichem Behagen ließen
0066wir hierauf Schubert’s jugendlich-romantische „Ouverture
0067zu Fierabras“ an uns vorüberziehen. Sie war es nicht,
0068die ihn unsterblich gemacht, aber es ist doch ein Unsterblicher,
0069der aus ihr spricht. Das Concert schloß mit Schumann’s 
0070überaus reizender D-moll-Symphonie. Noch immer verfallen
0071hin und wieder Kritiker (auch Wiener) in den unbegreiflichen
0072Irrthum, diese Symphonie für eine der letzten Compositio-
0073nen Schumann’s, ja sogar als einen Vorboten seiner verhäng-
0074nißvollen geistigen Verdüsterung anzusehen. Wer zu hören
0075versteht, muß doch sofort innewerden, daß zu der bezaubern-
0076den Klarheit und Heiterkeit dieser Musik die Opuszahl 120
0077und die Symphonien-Nummer 4 nicht stimmt. In der That
0078ist die D-moll-Symphonie nur in Folge späterer (hauptsäch-
0079lich die Instrumentirung treffender) Umarbeitung (1851) in
0080dieser Reihung herausgegeben worden; componirt ist sie be-
0081reits im Jahre 1841, unmittelbar nach ihrem frühlingsdufti-
0082gen Seitenstück, der B-dur-Symphonie.


0083Das Werk stammt demnach aus der glücklichsten Epoche
0084von Schumann’s Leben und Schaffen und spiegelt diesen
0085Blumenflor der Jugend wie in einem hellen, glitzernden
0086Wasserspiegel. Was den Total-Eindruck der Symphonie etwas
0087beeinträchtigt, ist die mitunter undurchsichtige und im Ver-
0088hältniß zu den Motiven schwerfällig drückende Instrumenti-
0089rung des letzten Satzes. Liest man denselben in der Parti-
0090tur, oder spielt ihn vollends auf dem Clavier, so denkt man
0091sich ihn rascher, feiner und flüchtiger, als er im Orchester
0092klingt und selbst bei der allerbesten Aufführung herauskom-
0093men kann. In der Romanze trat Herrn Hellmesberger’s 
0094Geige gar reizend hervor. Wie weiß dieser Künstler jedes
0095Solo, auch das kleinste, so graziös an die Oberfläche zu brin-
0096gen und dem Hörer eingänglich zu machen! Wer wollte mit
0097ihm rechten, wenn es manchmal den Anschein gewinnt, als
0098hörte man zuerst Hellmesberger und dann den Componisten?
0099So war denn der Eindruck des ganzen „Philharmonischen
0100Concertes“ der allerbefriedigendste und der einstimmige Bei-
0101fall, mit welchem das Publicum auch diesmal wieder den ver-
0102dienstvollen Capellmeister Dessoff nach jeder Nummer aus-
0103zeichnete, ebenso lebhaft als begründet.


0104In der Concert-Chronik der verflossenen Woche wäre noch
0105Herrn Laub’s zweite Quartett-Soirée zu verzeichnen, in [2]
0106welcher Fräulein Marie Geisler das Mendelssohn’sche
0107D-moll-Trio mit großem Beifall vortrug. Sodann die all-
0108jährliche St. Leopolds-Akademie (15. November) im Hofopern-
0109theater, welche diesmal vor einem schwach besetzten und etwas
0110übellaunigen Hause stattfand. Weder Esser’s interessante
0111und gediegene Orchestersuite (sie hat ein Schwesterlein be-
0112kommen, auf dessen Bekanntschaft wir uns herzlich freuen),
0113noch Mendelssohn’sLobgesang“ mit Frau Dustmann 
0114und Herrn Walter in den Solopartien, weder Herr Laub 
0115noch Frau Gabillon vermochten jene „angenehme Tem-
0116peratur“ der Zustimmung zu erzeugen, welche der preußische
0117Kriegsminister im Herrenhause so erquickend fand. Der Wohl-
0118thätigkeitssinn der Wiener hat sich gewiß nicht überlebt, aber
0119von den Wohlthätigkeits-Akademien glauben wir es.


0120Die „Stiftungs-Liedertafel“ des Akademischen Ge-
0121sangvereins
war glücklicher, sie versammelte ein großes Publi-
0122cum und amusirte es aufs beste. Zwar hatte das Pro-
0123gramm an seiner wichtigsten Stelle ein polizeiliches Leck be-
0124kommen, durch das Verbot von Engelsberg’s witziger und
0125melodienreicher Humoreske: „Der Landtag“. Trotzdem hieß
0126das Publicum den dafür substituirten „Doctor Heine“ von
0127Engelsberg als einen stets gerngesehenen Freund will-
0128kommen. Herr Chormeister Weinwurm leitete die Pro-
0129duction mit Eifer und Gewandtheit. Seiner Thätigkeit ist
0130es vorzüglich zu danken, wenn der Akademische Gesang-
0131verein, von all seinen zahlreichen Collegen der einzige,
0132neben dem „Wiener Männergesang-Verein“ eine gewisse
0133respectable Stellung einnimmt. Dies Resultat wiegt doppelt
0134schwer, wenn man die eigenthümlichen Hindernisse erwägt,
0135gegen welche Herr Weinwurm zu kämpfen hat. Sein Sänger-
0136personal ist kein stabiles, es wechselt in fortwährender Er-
0137neuerung. Kaum haben die jungen Sänger die erwünschte
0138Schulung und Sicherheit erlangt, so schlägt die Abschieds-
0139stunde ihrer Universitätszeit, und sie ziehen als Aerzte, Advo-
0140caten, Beamte davon, um neuen, erst zu drillenden „Füchsen“
0141den Platz zu räumen. Wie wir auf unsern Kirchenchören
0142die Sängerknaben und diese ihre Sopran- und Altstimmen 
0143dann verlieren, wann beide am tüchtigsten geworden, so raubt
0144alljährlich eine Art sociale Mutation dem Akademischen Ge-
0145sangverein seine besten Tenore und Bassisten. Außerdem
0146gibt jedem Sängerbund die steigende Concurrenz immer mehr
0147zu schaffen. Als in Oesterreich die verspätete und verbotene
0148Frucht der Gesangvereine gereift war, wurde sie mit Jubel
0149begrüßt und vermehrte sich bald auf das erstaunlichste. Diese
0150Beliebtheit erzeugte eine Menge Liedertafeln; jetzt beginnt
0151die Menge der Liedertafeln deren Beliebtheit zu untergraben.
0152Der Männergesang wurde zur wuchernden Schlingpflanze;
0153je mehr Flächenraum sie in Besitz nahm, desto augenfälliger
0154ward dies Mißverhältniß zu ihrem von Natur und Kunst so
0155engbegrenzten musikalischen Gebiet. Wien hat eine ganze
0156Musterkarte von Sängerbünden und Liedertafeln, und manche
0157bescheidene Provinzstadt zählt deren zwei bis drei. Es ist
0158kein Wunder, wenn manche Ausartungen dieses Männer-
0159gesangfiebers nachgerade die Satyre herausfordern. Capell-
0160meister Kunz in München, selbst Chordirector und Lieblings-
0161componist mehrerer Liedertafeln, hat kürzlich unter dem Titel:
0162Die Stiftung der Moosgau-Sänger-Genossen-
0163schaft Moosgrillia
“ eine Festschrift voll des ergötzlichsten
0164Humors geschrieben.


0165Vier kleine Orte aus dem „Dauchauer Moos“: Lud-
0166wigsfeld, Karlsfeld, Moosach und Feldmoching tagen mit
0167Ernst und Gründlichkeit über die Errichtung einer Sänger-
0168genossenschaft, welche Moosgrillia heißen soll. Zuvörderst
0169pflegt man eine kurze Erhebung über Sängerzahl und etwa
0170schon eingeübte Gesänge. Das Resultat fällt über Erwarten
0171günstig aus. Moosach stellt einen Secund-Tenor, desgleichen
0172Karlsfeld; Ludwigsfeld zwei Primbässe; Feldmoching nur
0173passive Mitglieder, keine Stimmen. Die Anfänge des Reper-
0174toires erweisen sich als bedeutsam und zeitgemäß. Das „Schuh-
0175drücken“ kennen sie Alle; der Secund-Tenor von Karlsfeld 
0176hat großen Respect vor den „schönsten Augen“, die ihn zu
0177Grunde gerichtet, und der von Moosach, wenn er heiser ist,
0178weiß im Falsett ausdrucksvoll die Melodie wiederzugeben:
0179„Ich möchte sie wol küssen“. Nun wird sofort zur Wahl 
0180eines Vororts geschritten, und da jeder der vier Orte dies
0181Ehre aus den gewichtigsten Gründen für sich anspricht, droht
0182die junge Verbrüderung beinahe zu scheitern. Eine lange, be-
0183herzte Rede des Doctors aus Feldmoching erringt die erstrebte
0184Oberherrschaft diesem Orte, der zwar gar keinen Sänger
0185stellen kann, dafür aber ungleich Bedeutenderes: Intelli-
0186genz
und Repräsentation! Um doch eine kleine Ran-
0187cüne an dem glücklichen Concurrenten zu üben, richtet Moosach 
0188sofort an Feldmoching die Interpellation: was denn im
0189Männergesangthum die Hauptsache sei? Die Antwort, welche
0190der „Moosgrillia“ eine glänzende Zukunft schuf, erfolgt ohne
0191Zögern: „Wenn ein neuer Gesangverein sich bildet, so ist die
0192Hauptsache: die Anschaffung einer Sängerfahne; sodann
0193Feste, Feste — deren unendlich lange Reihe am natürlichsten
0194mit dem Fest der Fahnenweihe beginnt. Vor Allem also:
0195eine Fahne her! Im Besitz einer Fahne hat der Verein
0196überhaupt etwas zum Hochhalten; im Besitz einer Fahne darf
0197er an jedem deutschen Sängerfest theilnehmen, die deutsche
0198Bruderhand drücken und drücken lassen, den deutschen Bru-
0199derkuß tauschen vom Belt bis zur Adria, von der Memel bis
0200zum Rhein, kurz von allen erdenklichen geographischen Linien,
0201die sich nur kreuz und quer über Deutschland ziehen lassen,
0202soweit die deutsche Zunge reicht!“ Nun schreitet die neue
0203Sängergenossenschaft, welche vorderhand nur vier Stück Mit-
0204telstimmen und weder ersten Tenor noch zweiten Baß besitzt,
0205mit Feuereifer an die Debatte über Farbe, Größe, Form
0206und Zeichnung der Fahne, über Sängerzeichen, Symbol,
0207Wahlspruch, Genossenschaftssiegel, Tragband und Fahnenträ-
0208ger. Wir können diese classische Verhandlung, die sich jedes-
0209mal neu belebt, wenn ein frisches Faß Bier herangerollt
0210kommt, hier leider nicht weiter verfolgen. Der witzige Autor
0211hat wirklich nichts vergessen, was nur möglicherweise bei einer
0212solchen Fahnendebatte ausgeheckt werden kann. Eines aus-
0213genommen: den Antrag, daß das Banner auch als Bahr-
0214tuch
verwendbar sein müsse. Dieser höchste Gipfel von Ver-
0215einspoesie ist erst in der allerjüngsten Zeit erreicht worden,
0216und zwar — nicht in Feldmoching.