Neue Freie Presse
Morgenblatt
No. 458. Wien, Mittwoch den 6. December 1865
[1]Concerte.
0002Ed. H. Es gibt interessante Concertprogramme, die sich
0003auf dem Anschlagzettel ungleich effectvoller ausnehmen, als sie
0004uns nach der Aufführung erscheinen. Dahin gehörte das
0005„zweite Gesellschaftsconcert“ mit seiner Cheru-
0006biniʼschen Symphonie und Beethovenʼs „Stephansmusik“.
0007Wer wollte Herrn Hofcapellmeister Herbeck nicht Recht und
0008Dank zollen, daß er zwei Werke großer Tonmeister zum
0009erstenmal vollständig zur Aufführung brachte? Aber er selbst
0010dürfte mit dem Publicum kaum ernstlich schmollen, weil es
0011von der einen Composition gar nicht, von der andern nur
0012eher mäßig entzückt nach Hause ging.
0013Eine große Symphonie italienischer Herkunft ist an sich
0014schon etwas Seltenes, die Cherubiniʼsche war obendrein bis
0015heute in ein fast undurchdringliches Incognito gehüllt. Die
0016„Museums-Gesellschaft“ in Frankfurt hat das Manuscript
0017von der Philharmonic Society in London erhalten und
0018Herrn Herbeck zum Behuf der Aufführung mitgetheilt. Die
0019authentische Geschichte jener philharmonischen Gesellschaft
0020(von G. Hogarth) weiß gar nichts von einer Cherubini’-
0021schen Symphonie, sondern nur von einigen Ouverturen und
0022einer Cantate, welche Cherubini für die Gesellschaft compo-
0023nirt hat. Aus anderen zweifellosen Daten läßt sich übrigens
0024fast mit Gewißheit folgern, daß die hier aufgeführte Sym-
0025phonie in D-dur, die einzige von Cherubini componirte, von
0026ihm für die Philharmonic Society geschrieben und im Früh-
0027ling 1815 in London dirigirt worden sei. Gedruckt ist sie
0028niemals worden, doch hat der Componist ihren wesentlichen
0029Inhalt noch einmal — wir wissen nicht, ob früher oder
0030später — in einem Streichquartett verwendet. Wer mit gro-
0031ßen Erwartungen an diese Symphonie ging, wird eine an-
0032sehnliche Enttäuschung erlebt haben. Es bedarf der ganzen
0033Pietät für den Namen des großen Opern-Componisten, um
0034der Abwicklung dieses zopfigen Gebildes theilnahmsvoll bis
0035zu Ende zu folgen. Kunstvoll geflochten, sorgfältig gebunden,
0036vornehm getragen — aber doch ein Zopf. Hoffe Niemand
0037der Ideenfülle und schwungvollen Energie aus Cherubiniʼs be-
0038sten Opern hier zu begegnen. Er findet eine Haydnʼsche
0039Symphonie mit künstlich vergrößerten Gliedmaßen und ver-
0040trockneter Seele. Unser Haydn, den Cherubini selbst als
0041seinen musikalischen Vater verehrte, hat auch zu dieser Sym-
0042phonie einen sehr bedeutenden Alimentations-Beitrag gezahlt.
0043Aber so sehr der ganze Bau und unzählige melodische Wen-
0044dungen an Haydn erinnern, von seiner Frische und seinem
0045schalkhaften Humor ist nichts geblieben. Der Ernst des allzeit
0046pathetischen Florentiners wird hier, wo die Größe und Un-
0047gewohntheit der Aufgabe ihm einen gewissen Zwang anlegten,
0048zur Trockenheit und künstelnden Pedanterie. Unverkennbar
0049ist seine Anstrengung, sich aus dem wirklichen und dem Adop-
0050tiv-Vaterland seiner Muse, Italien und Frankreich, zu deut-
0051schem Styl herauszuarbeiten; die Spontaneität, die naive
0052Ursprünglichkeit des Schaffens ging darüber verloren. Ein-
0053zelne interessante Stellen laben den Hörer von Zeit zu Zeit,
0054am Schlusse hat er trotzdem das Gefühl, beinahe ver-
0055schmachtet zu sein. Welche Erfrischung breitete sich mit den
0056ersten Tacten von Weberʼs „Concertstück“ über den Saal!
0057Herr Tausig spielte die reizvolle Composition, und zwar
0058— wie nicht anders zu erwarten — mit vollendeter Virtuo-
0059sität. Er spielte mit den Schwierigkeiten, aber auch ein we-
0060nig mit der Sache selbst: der Vortrag, geistreich und eigen-
0061thümlich, hatte mitunter etwas Zerrissenes, überlegen Bla-
0062sirtes. Was das Schweighoferʼsche Instrument betrifft, so
0063gewährte es ein schönes Piano, aber keine große Schallkraft;
0064überdies ließ es, ohne Schuld des Spielers, durch ungenü-
0065gende Dämpfung die Töne nachhallen. Herr Tausig erntete
0066stürmischen Beifall.
0067Zwei Vocalchöre, ein nicht bedeutender, aber klangvoller
0068des verdienstvollen Münchener Archivars Julius Mayer und
0069Mendelssohnʼs „Primel“ (zur Wiederholung verlangt),
0070wurden überaus schön gesungen. Der „Singverein“ prangt
0071wirklich in vollster Blüthe und ist nach Seite der Execution
0072die werthvollste Stütze der Gesellschafts-Concerte. Das Or-
0073chester stand am Sonntag weit dagegen zurück. Die Bläser
0074stimmten nicht nur empfindlich unrein, sondern trugen auch
0075die zahlreichen kleinen Soli in der Cherubiniʼschen Sympho-
0076nie und der Stephansmusik von Beethoven ohne alle Fein-
0077heit vor. Daran ist Herr Herbeck nicht schuld, der auch
0078in diesem Concerte den von seiner Aufgabe ganz erfüllten
0079und sie ganz erfüllenden energischen Dirigenten bewährte.
0080Von besonderem Interesse war die Schlußnummer:
0081Beethovenʼs Musik zu dem Kotzebueʼschen Festspiel „Kö-
0082nig Stephan“, oder wie der ursprüngliche Titel lautete:
0083„Ungarns erster Wohlthäter“. Wir verdanken, wie gesagt,
0084Herrn Herbeck die erste vollständige Concertaufführung die-
0085ses Werkes, von dem bisher nur einzelne Bruchstücke aufge-
0086führt und nur zwei Nummern (Ouverture und Festmarsch)
0087gedruckt waren. Erst in der neuen Gesammt-Ausgabe Beetho-
0088venʼs (von Breitkopf und Härtel) hat nun auch dies Festspiel
0089seinen ihm gebührenden Platz gefunden. Die Veranlassung
0090dazu war bekanntlich die Eröffnung des deutschen Theaters
0091in Pest im Jahre 1812. Man hatte Kotzebue mit der
0092Abfassung einer Trilogie aus der ungarischen Geschichte be-
0093auftragt, und Beethoven mit der Composition der Musikstücke
0094im Vor- und Nachspiel. Das einactige Vorspiel mit Chören,
0095das die Festvorstellung am 9. Februar 1812 eröffnete, war
0096„Ungarns erster Wohlthäter“ und stellte König Ste-
0097phan I. in den wichtigsten Momenten seiner Regierung dar.
0098Das eigentliche Drama, welches Kotzebue unter dem Titel
0099„Belaʼs Flucht“ verfaßt hatte, konnte aus verschiedenen Rück-
0100sichten nicht gegeben werden; es wurde dafür „Die Erhe-
0101bung von Pest zur königlichen Freistadt“ (aus der
0102Geschichte des Jahres 1244) substituirt. Hierauf folgte das [2]
0103Nachspiel mit Gesängen und Chören, „Die Ruinen von
0104Athen“. Die Musik zu letzterem, durch häufige Concertauf-
0105führungen bekannt, steht nicht nur an äußerem Umfange,
0106sondern auch an musikalischem Werthe hoch über dem „König
0107Stephan“. Stücke von der hinreißenden Wirkung des Der-
0108wisch-Chores oder des Türkenmarsches aus den „Ruinen von
0109Athen“ wird man in „König Stephan“ vergeblich suchen.
0110Beethoven hat das Vorspiel ungleich flüchtiger behandelt, die
0111Musik mehr decorativ als selbstständig verwendend; seine
0112volle Kraft sparte er für die lohnenderen Aufgaben des Nachspiels.
0113Im „König Stephan“ sehen wir nur die Tatze des musikalischen
0114Löwen, im Nachspiel diesen selbst. Um Beethovenʼs Musik zu
0115„König Stephan“ gerecht zu beurtheilen, darf man keinen Augen-
0116blick auf deren bestimmten theatralischen Zweck vergessen.
0117Die Musik mußte sich hier in kleinen und möglichst
0118populären Formen bewegen und hatte mehr die Bestimmung,
0119eine Reihe rasch aufeinanderfolgender tableauartiger Scenen
0120zu illustriren, als eine eigentlich dramatische Entwicklung mit vol-
0121lem Lebenshauch zu erfüllen. Die abscheulichen Verse Kotze-
0122bueʼs konnten den Componisten unmöglich begeistern, und der
0123Inhalt des „König Stephan“ war so ausschließlich ungarisch,
0124daß Beethoven gar nicht hoffen durfte, es werde seine Arbeit
0125über jenen Festabend hinaus und vor dem nicht-ungarischen
0126Publicum Europas ihr Leben selbstständig fortsetzen. Wir
0127müssen uns also bescheiden, eine rasch hingeworfene Gelegen-
0128heitsmusik Beethovenʼs zu hören, und das bleibt unter
0129allen Umständen ein nicht zu verschmähender Schatz. Oben-
0130drein stammt diese Gelegenheitsmusik aus der frischesten, üppig-
0131reichsten Periode des Meisters (sechste und siebente Symphonie).
0132In der Ouverture pulsirt ein rasches, kühnes Blut, die wun-
0133derlich zerhackte Form läßt aber keine einheitliche Wirkung
0134aufkommen. Einfach, wol zu einfach, treten die beiden ersten
0135Männerchöre auf, kleinste Abschnitzel von Beethovenʼs Purpur.
0136Der Frauenchor hingegen mit seinen zierlichen Flöten-Guir-
0137landen ist von bezaubernder Lieblichkeit. Der Festmarsch im-
0138ponirt nicht durch Neuheit der Motive, aber durch eine
0139gewisse großartige Popularität, wie sie neben Beethoven kein
0140Zweiter in seiner Gewalt hatte. Der sehr kurze „religiöse
0141Marsch“ fällt daneben beträchtlich ab. Was in der Concert-
0142aufführung am unwirksamsten bleibt, sind die rein melodramati-
0143schen Partien; an Ort und Stelle muß die musikalische Be-
0144gleitung der „Vision Stephanʼs“ sehr bedeutend wirken. Der
0145in charakteristischen Csardas-Rhythmen aufjubelnde, beinahe
0146ungarisch-deutsch declamirende Schlußchor mit seinen gellend
0147hohen Soprantönen und rauschendem Orchester schlägt tüchtig
0148ein; wir können uns den Enthusiasmus des magyarischen
0149Publicums von 1812 lebhaft vorstellen.
0150Bei aller bewundernden Anerkennung der theatrali-
0151schen Zweckmäßigkeit dieser Festmusik wird man doch nicht
0152leugnen können, daß sie im Concertsaal nur geringen Ein-
0153druck macht. Bei ihrer jüngsten Aufführung in Köln (unter
0154F. Hiller) ging sie fast spurlos vorüber; hier in Wien ver-
0155mochten wenigstens Einzelheiten das Publicum zu erwärmen.
0156Den Damen vom Singverein votiren wir für ihre heroische
0157Ausdauer im Schlußchor einen speciellen Dank.
0158Hellmesbergerʼs dritte Quartett-Soirée war die
0159hundertfünfzigste seit der Gründung dieses schönen, für das
0160Musikleben Wiens so hochverdienten Unternehmens. Das
0161Publicum bewies Herrn Hellmesberger durch einen unge-
0162wöhnlich langen und lebhaften Empfang, daß es von dieser
0163Thatsache Kenntniß nehme und sich freue, seine Verdienste
0164von ganzem Herzen laut anzuerkennen. Wir hörten an die-
0165sem Abend Mendelssohnʼs E-moll-Concert, bekanntlich eines
0166der zierlichsten Cabinetsstücke Hellmesbergerʼs und seiner Ge-
0167nossen, Beethovenʼs Es-dur-Quartett, op. 127, und unter
0168Mitwirkung des Herrn Dachs ein neues Clavier-Quartett
0169von Rubinstein (C-dur, op. 66). Das Thema des ersten
0170Satzes ist von hinreißender Schönheit. Von allen lebenden
0171Componisten wüßten wir keinen, dem noch so etwas einfällt.
0172In der Ausführung macht der Componist beiweitem nicht
0173daraus, was man erwarten durfte, trotzdem bleibt der Total-
0174Eindruck des Satzes, der nach mancherlei Stockungen und
0175unbedeutenden Phrasen sich zum Schluß wieder aufzuschwin-
0176gen weiß, ein günstiger.
0177Minder bedeutend, doch von raschem Zug und prickeln-
0178dem Esprit ist das Scherzo. Von da geht es, wie gewöhnlich
0179bei Rubinstein, stufen- und terrassenweise abwärts. Das
0180Auditorium, das die beiden ersten Sätze lebhaft beklatschte,
0181nahm die beiden letzten mit eisiger Kälte auf. Hätte Herr
0182Hellmesberger dieselben nicht tüchtig abgekürzt, so würde
0183die Mißstimmung ohne Zweifel noch viel größer geworden
0184sein. Das langgestreckte Adagio gleicht einer Wüste, in wel-
0185cher uns nur selten und von fern der warme Ton einer
0186menschlichen Stimme grüßt. Doch ist es immerhin noch von
0187einer gewissen düster-melancholischen Stimmung angehaucht.
0188In dem Finale aber finden wir gar nichts mehr, an das wir
0189uns klammern könnten, weder musikalische Erfindung, noch
0190poetische Stimmung, weder glückliche melodische Einfälle, noch
0191kunstvolle Arbeit. Das Ganze ist roh und reizlos, wie in
0192verdrießlicher Eile hingeworfen, damit doch das Quartett in
0193Gottes Namen einen Schluß habe. Mit diesem kurzen Be-
0194richt über Rubinsteinʼs neuestes Werk haben wir leider die
0195Biographie fast aller seiner mehrsätzigen Compositionen ge-
0196schrieben. Wir kennen keine einzige daraus, die, durchaus auf
0197gleicher Höhe schwebend, als Ganzes schön und bedeutend
0198heißen dürfte. Rubinsteinʼs Erfindung gleicht einem rasch
0199und glänzend auflodernden Feuer, das schnell erlischt. Seine
0200Kunst und Ausdauer reichen niemals aus, dies Erlöschen zu
0201hindern, und seine Selbstkritik sagt ihm niemals, daß es
0202längst nur glimmendes Gebälk oder todte Asche ist, was er,
0203unbekümmert fortschreibend, dem anfangs entzückten Hörer
0204bietet. Wie schade, daß Rubinstein Alles immer nur dem
0205„Genie“ anheimstellt, das er wild und willkürlich umher-
0206jagen läßt. Das Genie muß das Kunstwerk beginnen, aber
0207nur die Arbeit vollendet es.