0002Ed. H. Die Musik zur „Afrikanerin“ trägt in allen
0003Theilen das unverkennbare Gepräge Meyerbeer’s; jeder
0004ihrer Reize, anziehend oder abstoßend, verräth sofort den
0005Schöpfer der „Hugenotten“ mit seiner üppigen Erfindungs-
0006kraft, seinem enormen Kunstverstand und all den blendenden
0007Eigenschaften jenes eklektischen, aber eminent dramatischen
0008Styls, den er sich geschaffen. Wir finden alle Vorzüge und
0009Schwächen Meyerbeer’s in der „Afrikanerin“ wieder, nur
0010erreichen jene nicht ihre größte Höhe, letztere nicht ihre tiefste
0011Stufe. Eine „neue Phase“ von Meyerbeer’s Talent, eine
0012ungeahnte Styl-Entwicklung haben wir weder erwartet noch
0013gefunden, wir lassen dies Vorrecht jenen berauschten Dilet-
0014tanten, welche in jedem neuen Werk Meyerbeer’s ein nicht
0015blos dem Werth, sondern auch der Gattung nach nie Dage-
0016wesenes erblicken. Von allen Opern des Meisters haben die
0017„Hugenotten“ die meiste Verwandtschaft mit der „Afri-
0018anerin“, in der gesammten Form und Anlage, wie im Aus-
0019druck des Einzelnen. Manche Scenen bilden geradezu Pen-
0020dants zu Hauptmomenten der „Hugenotten“, so die Berathung
0021des Tribunals mit der Verschwörung und Waffenweihe, die
0022Schiffsscenen mit dem Volkstreiben auf der Schreiberwiese,
0023das Liebesduett im vierten Act mit jenem an gleicher Stelle
0024der „Hugenotten“. Es sind dies mit die gefeiertesten und
0025besten Nummern in der „Afrikanerin“, und dennoch braucht
0026man sie nur mit jenen Gegenbildern zu vergleichen, um
0027sich klar zu sein, wie viel höher Stück für Stück die „Huge-
0028notten“ stehen. Die „Afrikanerin“ den „Hugenotten“ gleich-
0029zustellen, ist ein unzurechnungsfähiger Einfall der Reclame,
0030an welchen in Jahr und Tag kein Mensch mehr denken wird.
0031Von den Reminiscenzen in der „Afrikanerin“ stammen die
0032zahlreichsten und auffallendsten aus den „Hugenotten“, es ist
0033als hätten dem Meister davon noch die Ohren geklungen.
0034Wir möchten die „Afrikanerin“ eine Art Abschwächung oder
0035Verdünnung der „Hugenotten“ nennen. Letztere Oper hat
0036Meyerbeer nie wieder erreicht; der „Prophet“ holt sie nur
0037in zwei bis drei Prachtstücken ein, im Uebrigen zeigt er gegen die
0038„Hugenotten“ eine Ermüdung und Ueberreizung des schöpfe-
0039rischen Vermögens. Und dennoch ist unseres Erachtens selbst
0040der „Prophet“ entschieden bedeutender als die „Afrikanerin“.
0041Bedeutender, wir sagen nicht liebenswürdiger. Die „Afri-
0042kanerin“ hat kein Musikstück aufzuweisen, das sich an Ori-
0043ginalität und Schwung mit der Domscene oder dem Traum
0044vergleichen ließe, von kleineren im „Propheten“ verstreuten
0045kostbarsten Perlen nicht zu reden. Dennoch spricht uns die
0046„Afrikanerin“ in ihrer Totalität sympathischer an, als der
0047„Prophet“: sie erreicht nicht dessen imposante Höhenpunkte,
0048sinkt aber auch nicht bis zu dem unleidlichen dramatischen Raf-
0049finement, der rhythmischen und harmonischen Verzerrung, der
0050Unnatur und Unwahrheit des „Propheten“.
0051Die „Afrikanerin“ ist milder, ruhiger, man nimmt nach
0052ihrem letzten Acte einen harmonischeren Eindruck mit sich,
0053als nach dem Schluß des „Propheten“. Den „Nordstern“ und
0054„Dinorah“ stellt ihr Genre eigentlich außer Vergleich mit der
0055„Afrikanerin“, die rein musikalische Erfindung scheint uns in
0056der „Afrikanerin“ im Ganzen frischer und gesunder, blos in
0057der feineren Ausführung haben jene Beiden Manches voraus.
0058Nur wenige Sätze in der „Afrikanerin“ athmen jenen ab-
0059stoßenden haut-goût, den „Dinorah“, „Nordstern“ und „Pro-
0060phet“ so freigibig ausströmen; so der Anfang von Ines’ Ro-
0061manze, die Echospielereien im Schlummerlied, das Cis-moll-
0062Andante in dem Frauen-Duett des fünften Actes, endlich
0063einige afrikanisch oder diabolisch sein sollende Phrasen
0064Nelusco’s.
0065Gewohnt, bei Meyerbeer Entzückendes und Abstoßendes
0066in greller Nachbarschaft zu erblicken, gewahren wir in der
0067„Afrikanerin“ fast mit Bewunderung eine gleichmäßige Ab-
0068dämpfung beider Elemente. Noch ungewohnter sind wir, bei
0069Meyerbeer so viele Strecken gleichgiltiger, alltäglich und ba-
0070nal klingender Musik durchwandern zu müssen. Zahlreiche
0071wohlbekannte Meyerbeer-Phrasen begegnen uns, einige Re-
0072miniscenzen sogar, die an den Molière’schen Selbstanfall des
0073Geizigen und Beraubung der eigenen Pferdekrippe erinnern.
0074Freilich fällt uns das Bekannte in Meyerbeer’schen Ideen
0075stets störender auf, als vor 15 und 20 Jahren. Aus diesem
0076Grunde scheint uns der Meister daran nicht wohlgethan zu
0077haben, daß er die „Afrikanerin“ in seinem Pulte altern ließ.
0078Der musikalische Geschmack fließt mit reißender Schnelligkeit,
0079vor Allem in der Oper, alles Neue wird da vom Zeitstrom
0080so rasch assimilirt und generalisirt, daß nur das Hervorra-
0081gendste und Individuellste langen Widerstand leistet. Im
0082Laufe der letzten 30 Jahre ist jeder Meyerbeer’sche Zug durch
0083die Allgegenwart seiner eigenen und die Verbreitung ihm nach-
0084gebildeter Opern uns so vollständig bekannt, so sehr Gemein-
0085gut geworden, daß die Verspätung einer Meyerbeer’schen Oper
0086um 10 oder 20 Jahre ihrer Wirkung immerhin einigen Nach-
0087theil zufügen muß. Das wahrhaft Große und Schöne in
0088seinen Opern entzückt noch mit ungeschwächter Frische, und
0089wird es auf lange hinaus; viele seiner Effecte, die einst durch
0090den blendenden Reiz der Ueberraschung gewirkt, wirken aber
0091jetzt nicht mehr in gleichem Maße. Wir können nicht leugnen,
0092daß z. B. Effecte wie das Unisono der Bischöfe im ersten
0093Acte uns heute den Eindruck einer vorletzten Mode machen.
0094Es bedarf nicht der Versicherung, daß wir auch das verspä-
0095tete Geschenk Meyerbeer’s mit aufrichtiger Dankbarkeit be-
0096grüßen. Die „Afrikanerin“ wird mit Recht einen werthvollen
0097Pfeiler aller Repertoires bilden, ist doch seit 15 Jahren, mit
0098Ausnahme des (uns sympathischeren) „Faust“ von Gounod,
0099nichts erschienen, was sich im Fach der großen Oper mit
0100der „Afrikanerin“ messen könnte. Tausende werden sich an
0101der „Afrikanerin“ erfreuen, und Jedermann wird ihre Vor-
0102züge anerkennen, eine Erscheinung jedoch, über die man —
0103für oder wider — nun in großer Aufregung spricht, ist sie
0104nicht mehr.
0105Meyerbeer soll, wie Freunde von ihm versichern, die
0106„Afrikanerin“ für sein bestes Werk erklärt haben. Die Mit-
0107theilung mag wahrheitsgetreu sein, aber dies jahrelange Um-
0108arbeiten, Aendern und Feilen der Partitur stimmt schlecht zu
0109so unbedingtem Vertrauen. Uns scheint eine natürlichere Er-
0110klärung für Meyerbeer’s jahrelanges Zaudern gerade mit der
0111„Afrikanerin“ in der Annahme zu liegen, daß der Meister
0112fürchtete, den Erfolg des „Robert“ und der Hugenotten“
0113damit nicht zu erreichen.
0114Aus welcher Zeit die Composition der „Afrikanerin“
0115eigentlich stammt, ist noch immer nicht ganz aufgeklärt; einen
0116entscheidenden Beweis für die verschiedenen Behauptungen
0117könnte nur die Veröffentlichung der vom Componisten als
0118„Vecchia Afrikana“ bezeichneten älteren Partitur herstellen.
0119Der Verleger der „Afrikanerin“, Herr Bock, erklärt in der
0120Berliner Musikzeitung die jetzige Oper als eine vollständig
0121neue, in den Jahren 1858 bis 1864 entstandene Composi-
0122tion, welche mit der ursprünglichen, etwa um 1845 vollende-
0123ten Partitur gar nichts gemein hat.*) Wahrscheinlicher dünkt
0132es uns jedenfalls, daß der Meister den melodischen Hauptstoff
0133in die neue Umformung hinübergerettet, als daß er ein in
0134seiner besten Zeit entstandenes und vollendetes Werk gänzlich
0135annullirt habe. Aus inneren Gründen neigen wir uns zu der
0136Annahme, die „Afrikanerin“ sei der Hauptsache nach vor
0137dem „Propheten“ concipirt. Vom „Propheten“ an ist Meyer-
0138beer immer raffinirter geworden, am meisten da, wo er am
0139einfachsten sein wollte, in der „Dinorah“ — wie er am
0140Ende seiner Laufbahn zu der melodiösen und rhythmischen
0141Einfachheit der „Afrikanerin“ habe zurückkehren können,
0142bleibt zum mindesten ein psychologisches Räthsel. Das
0143Vorherrschen der Melodie, der eigentlichen Cantilene,
0144ist ein charakteristisches Merkmal der „Afrikanerin“. Wir
0145untersuchen hier nicht, ob diese Melodie überall neu und be-
0146deutend sei, jedenfalls erscheint sie als das leitende Element
0147der ganzen musikalischen Conception. Dadurch nähert sich die
0148„Afrikanerin“ mitunter auffallend dem italienischen Opernstyl,
0149ein großer Theil ihrer Melodien ist unverblümt wälsch. Die
0150italienischen Elemente, welche, von so großem Einfluß auf
0151Meyerbeer’s Entwicklungsgang, sich später mit jedem neuen
0152Werke mehr zurückzogen, tauchen in der „Afrikanerin“ mit
0153erneuerter Kraft auf. Nur die Vermeidung der eigentlichen
0154Arienform, zumal der Bravour-Arie, zeigt eine moderne
0155Weiterbildung nach dem „Robert“ und den „Hugenotten“.
0156Eine Musterung der einzelnen Musikstücke dürfte diese
0157allgemeinen Bemerkungen einigermaßen ergänzen. Die Or-
0158chester-Einleitung (keine förmliche Ouverture) könnte „Ines“
0159überschrieben sein, sie reiht zwei Melodien der Ines, die Ab-
0160schiedsromanze (H-moll) und den Andantesatz aus dem zwei-
0161ten Finale (H-dur), einfach aneinander. Ines eröffnet die
0162Oper mit der Abschiedsromanze „Leb’ wohl“, deren affectirter
0163Melodiengang mit den unschönen, von der Clarinette beant-
0164worteten Triolen in eine recht sangbare Melodie ganz italie-
0165nischen Charakters („Ihr Lüftchen“) übergeht. Wir ziehen
0166die einleitende kurze Gesangsstelle: „Er kehrt zurück“ der
0167ganzen Romanze vor. Das folgende Terzettino zwischen Ines,
0168Pedro und Diego ist sehr musikalisch empfunden, würdig und
0169wohlklingend. Das (die Berathung) eröffnende berühmte
0170Unisono der Bischöfe wirkt materiell durch die Wucht der
0171Stimmen, das Thema selbst ist nichts weniger als vornehm.
0172Das Auftreten Vasco’s zeigt uns die theatralische „gloire“
0173der Franzosen in vollster Blüthe. Die einzelnen Theile des
0174Finales sind nicht durchgehends von glänzender Erfindung;
0175aber bewunderungswürdig ist die Kunst, mit welcher Meyer-
0176beer diesen Scenencomplex aufbaut, gliedert und steigert;
0177in solcher Anordnung großer Massen und Gegensätze be-
0178währt er den Geist und die Energie eines Feldherrn.
0179Bemerkenswerth für Meyerbeer’s Sorgfalt in den kleinsten
0180Dingen ist das mit prickelndem Geist instrumentirte Ritornell,
0181mit welchem das Orchester die Pause während des Stimmen-
0182sammelns im Tribunal ausfüllt. — Der zweite und dritte Act
0183erscheinen dramatisch wie musikalisch als die dürftigsten.
0184Selica’s Schlummerlied ist voll gesuchter Ziererei, origi-
0185nalitätssüchtig, aber nicht originell. Nelusco’s Arie beginnt
0186mit einem Andante von edlem Ausdruck, nur allzu sanft und
0187beschaulich für einen „Wilden“; um so fataler macht sich seine
0188Wildheit in dem meckernden, daktylisch abschnappenden Rhyth-
0189mus des folgenden B-dur-Allegros geltend. Selica’s Duett
0190mit Vasco, durchaus unbedeutend, servirt lauter aufgewärmte
0191Speisen. Die Scene hebt sich mit dem Eintritt von Ines
0192und Diego; ein meist vocal gehaltenes, breit aushallendes
0193Septett schließt den Act mit bester Wirkung. Die musikalische
0194Ausbeute des dritten Actes, dessen Hauptreiz in der Scenerie
0195des Schiffes liegt, beschränkt sich auf das Gebet „Heiliger
0196Dominik“, das mit dem Hinzutreten der Frauenstim-
0197men von reizendster Wirkung wird, und auf Ne-
0198lusco’s mehr effectvolle als musikalisch bedeutende „Ballade“.
0199Außerdem gibt es in diesem Act viel unerquickliche
0200Conversation und ein langes Duett zwischen Vasco und
0201Diego, das fast mehr anstrengend für die Sänger, als inter-
0202essant für die Zuhörer ist. — Der vierte und fünfte Act, die
0203bedeutendsten der Oper, enthalten glänzende Partien. Gleich
0204der feierliche Aufzug, der — halb Marsch, halb Tanz — den
0205vierten Act eröffnet, gehört zu dem Effectvollsten und Elegan-
0206testen, was Meyerbeer auf diesem, von ihm souverän beherrsch-
0207ten Gebiet geschaffen hat. Vasco’s Arie vereinigt süßen, schmel-
0208zenden Gesang mit auserlesenen Instrumental-Effecten. Das
0209sich anschließende große Ensemble (Selica schützt Vasco, Ne-
0210lusco’s Schwur) ist von eminent dramatischer Wirkung. Die
0211Cantilene Nelusco’s in Es-dur („das Opfer mag geschehen“),
0212in welche sich die Stimmen Selica’s und Vasco’s wie frische
0213Blumen einflechten, wirkt (allerdings in italienischer Weise)
0214durch hinreißenden Wohllaut. Hingegen bildet Nelusco’s lei-
0215denschaftliches Allegro in E-dur, mit dem echt Meyerbeerisch [3]
0216hineingehackten „Ruhm’ und Ehr’!“ des Chores einen zwar
0217für den Sänger dankbaren, aber musikalisch sehr banalen
0218Schluß.
0219Das Duett Selica’s mit Vasco beginnt sehr hübsch über
0220dem aus der Ferne nachhallenden Basso continuo des Prie-
0221stermarsches in C-dur, ein Motiv, das noch später bei Vasco’s
0222Verzückung (nach dem Verlobungstrank) geistreich benützt ist.
0223Das Duett, das einige sehr glückliche Züge (es sind die
0224weniger effectvollen) aufweist, würde uns vielleicht besser ge-
0225fallen, wäre es nicht so maßlos gerühmt. Die Pariser Kritik
0226hat es bekanntlich dem Liebesduett im 4. Act der „Huge-
0227notten“ an die Seite gestellt; ein Vergleich, den vielleicht
0228schon die innere dramatische Unwahrheit der Scene verbietet,
0229der aber auch vom rein musikalischen Standpunkt aus als
0230eine Versündigung an Raoul und Valentine erscheint. Das
0231Finale (Hochzeitschor und Tanz) gibt dem Acte, nach all den
0232aufregenden leidenschaftlichen Scenen einen anmuthigen Ab-
0233schluß. Das Duett zwischen Ines und Selica zu Anfang
0234des fünften Actes beginnt vortrefflich, schon das Ritornell ist voll
0235Haltung, der refrainartig in immer neuer Modulation wie-
0236derholte Ausruf Selica’s: „Und dennoch liebt er nur dich!“
0237ungemein schön und ausdrucksvoll. Leider wirft uns bald
0238das raffinirte Cis-moll-Andante („Ihr kennet nun“) mit
0239seinem verstauchten Rhythmus und der fatalen Aehnlichkeit
0240mit dem Frauen-Duett im „Propheten“ aus der Stimmung;
0241sie wird durch das in banalster Weise unisono schließende
0242Allegro in Des-dur keineswegs wieder hergestellt. Es folgt
0243die Scene unter dem Manzenillobaum, die letzte der Oper.
0244Für die Bewunderung des berühmten (in Paris stets wieder-
0245holten) Unisono der Streich-Instrumente fehlt uns — wir
0246gestehen es offen — jedes Organ. Daß die Melodie selbst sehr
0247unbedeutend, am Schluß jedes vierten Tactes sogar entschie-
0248den trivial ist, dürfte wol allgemein zugestanden werden.
0249Die Klangwirkung einer 16 Tacte langen, von Violoncellen,
0250Bratschen und Geigen (auf der G-Saite) unisono vorgetra-
0251genen Gesangstelle hat natürlich etwas Befremdendes und
0252Effectvolles, allein die Absicht dieses „Effects“ um jeden Preis
0253liegt nicht nur zu unverhüllt dar, der Effect selbst ist sehr
0254äußerlich, unmotivirt, und hat uns (vielleicht ganz indivi-
0255duell) vollständig kalt gelassen. Wie durch ein geniales
0256Instrumental-Colorit die schmerzliche, gewitterschwüle Stim-
0257mung dieser letzten Scenen mit ergreifender Gewalt ausge-
0258drückt werden kann, das hat Meyerbeer wenige Tacte später
0259mit ungleich tieferer, wahrhaft dichterischer Empfindung ge-
0260zeigt. Wir meinen die Begleitung der Larghettostelle Selica’s
0261in Des-dur: „Ich haßte nur im Leiden,“ durch Violoncelle,
0262Fagotte und Clarinetten in tiefster Lage. Diese Stelle, ja die
0263ganze erste Hälfte der Scene bis zum Eintritt der „Sphä-
0264renmusik“ zittert in einem wunderbaren Helldunkel der Stim-
0265mung, in einem leisen und doch tiefbewegten Wogen der
0266Empfindung, wie wir es nie und nirgend wieder bei Meyer-
0267beer erlebt haben.
0268Schade, daß die Scene damit nicht schließt. Der Chor
0269der unsichtbaren Geister und Selica’s kokett-lächelndes Alle-
0270gretto in D-dur („Von Wolken getragen“) ist trotz allen
0271Wohlklanges und aller Instrumentalkünste mit tremolirenden
0272Violinen, Harfe und Triangel des Vorhergehenden unwürdig.
0273Aus der reinen Höhe der Poesie müssen wir gnadenlos wie-
0274der aufs Operntheater herab. Trotz dieses angehängten, sehr
0275weltlichen Verklärungsflitters wird die Scene unter dem
0276Giftbaum nicht leicht einen Hörer ohne tiefen Eindruck ent-
0277lassen.
0278So flüchtig und unerschöpfend diese Bemerkungen über
0279die Musik zur „Afrikanerin“ sind, so haben sie uns doch
0280schon zu viel Raum weggenommen, als daß wir für heute
0281mit mehr als einigen Worten der Aufführung gedenken
0282könnten. Sie war eine der glänzendsten, deren sich das Hof-
0283operntheater rühmen kann. Frln. Bettelheim lieferte als
0284Selica ein bewunderungswürdiges Probestück ihres Talentes
0285und ihrer Intelligenz, sowie ihrer Ausdauer. Im Interesse
0286der Rolle wie ihrer eigenen Person möchten wir der jungen
0287Künstlerin nur einige Mäßigung empfehlen, namentlich in
0288dem Liebesduett überschritt ihr Kraftaufwand mitunter die
0289Grenzen des Schönen. Frln. Bettelheim sah vortrefflich aus
0290und spielte mit großer Energie; ihrem Gesang fehlte es nicht
0291an Hitze, aber an Wärme. Legt man zu den allgemeinen auch
0292noch die speciellen Schwierigkeiten, welche Frln. Bettelheim
0293aus der ihr viel zu hoch liegenden Partie erwachsen, so kann
0294man über ihre Leistung nur erstaunen und muß ihren
0295großartigen Erfolg als einen wohlverdienten bezeichnen.
0296Fräulein Murska glänzte als Ines durch die Leichtig-
0297keit und Schönheit ihrer hohen Töne, wie durch die Eleganz
0298ihres Vortrags. Dramatisch läßt sich die Rolle schwer über
0299die allgemeinsten Formen erheben. Herr Walter (Vasco)
0300hatte namentlich im vierten Acte schöne Momente; eine
0301mäßigere Anwendung der Stimmkraft wäre ihm übrigens
0302gleichfalls zu empfehlen. Herr Beck feierte als Ne-
0303lusco einen wahren Triumph; er wußte diese nicht leicht
0304zu fassende Figur wahrhaft dramatisch zu gestalten und
0305sang von Anfang bis zu Ende mit der ihm eige-
0306nen hinreißenden Energie. Die übrigen weniger umfangreichen,
0307aber dennoch wichtigen Rollen waren durchwegs gut besetzt; wir
0308nennen vor Allen Herrn Schmid (Oberpriester) und Herrn
0309Rokitansky (Diego), dann die Herren Hrabanek,
0310Draxler, Kreuzer und Lay. An der Spitze des Baya-
0311dèrenzugs tanzte Fräulein Stadelmayer; es wäre schnöder
0312Undank, sie nicht dafür zu loben. Der große Succeß der
0313„Afrikanerin“ in Wien ist übrigens nicht blos der Besetzung
0314der Hauptpartien zu danken, sondern auch dem trefflichen
0315Zusammenwirken aller Kräfte des Orchesters, Chores und
0316Ballets, sowie der prachtvollen Scenirung und Ausstattung.
0317Herr Dreilich leistete als Maschinist Außerordentliches,
0318und Herr Brioschi darf auf seine Decorationen (nament-
0319lich auf das herrliche Schlußbild) stolz sein. Herr Proch
0320dirigirte, ungebeugt von den anstrengenden Proben, mit rühm-
0321lichem Eifer. Daß uns ein großer Theil der Tempi zu
0322langsam vorkam, wollen wir nicht verschweigen. Die Auf-
0323nahme der Oper war, wie gesagt, eine enthusiastische, und
0324wenn man nicht säumt, sie zweckmäßig zu kürzen, ist ihr
0325eine dauernde und glänzende Stelle in unserem Repertoire gewiß.