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Neue Freie Presse
Morgenblatt
No. 830. Wien, Freitag den 21. December 1866

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Faustʼs Verdammung“, dramatische Legende von H. Berlioz.

(Aufgeführt von der „Gesellschaft der Musikfreunde“ am 16. December d. J.)


0003Ed. H. Es war im December 1846, daß Berliozʼ Le-
0004gende: „La damnation de Faust“ in Paris zum ersten-
0005male, und zwar ohne nachhaltige Wirkung zur Aufführung
0006kam. Seither ruht sie dort in Vergessenheit und wurde auch
0007in Deutschland unter Berliozʼ Leitung nur bruchstückweise
0008gegeben. Etwas unklar als „dramatische Legende“ bezeichnet,
0009gehört „Faustʼs Verdammung“ im Grunde jener Mischgattung
0010an, welche Berlioz unter dem Namen „dramatische Sym-
0011phonie“ erfunden hat. In der dramatischen Symphonie „Ro-
0012meo und Julie
“ versuchte Berlioz die Verbindung selbst-
0013ständiger Symphoniensätze (Adagio, Scherzo) mit gesungenen
0014Scenen, wozu als drittes Element noch rein erzählende Reci-
0015tative, sodann Prologe und Epiloge hinzutraten — eine Form,
0016die, unorganisch und widerspruchsvoll in sich, kaum eine
0017künstlerische Zukunft hat. Wie dort aus dem Shakespeareʼschen
0018Drama, so hat hier der Componist aus dem Goetheʼschen
0019eine Anzahl von Scenen beliebig herausgenommen, ergänzt,
0020verändert und aneinandergereiht, nur mit dem Unterschiede,
0021daß er das epische Element diesmal fast gänzlich gegen das
0022dramatische und lyrische zurückstellt. „Fast“, sagen wir, denn
0023gänzlich konnte Berlioz sich von der unglücklichen Vermen-
0024gung nicht trennen: nachdem Faust und Mephisto im Höllen-
0025pfuhl versunken sind, läßt sich ein von Baßstimmen recitirter
0026erzählender „Epilog auf der Erde“ vernehmen, auf wel-
0027chen wieder eine Verklärung Gretchenʼs „im Himmel“ sich
0028abspielt. Drama und Oratorium, rein Scenisches und blos
0029Concertmäßiges werden dergestalt untereinandergemischt, daß
0030sich der Standpunkt des Hörers fortwährend verrückt. Die
0031Partitur enthält sogar eine stattliche Reihe eingeklammerter
0032Bemerkungen, wie: „Faust versteckt sich hinter den Vor-
0033hang,“ „Mephisto macht die Bewegung eines spielenden 
0034Leiermannes“ etc. Was nützt das in einem rein concertmä-
0035ßigen Werke, wo wir doch nur hören und nicht sehen? Ber-
0036liozʼ „Faust“ ist eigentlich eine körperlose, phantastische Oper,
0037welche die Bühne verschmäht und sie doch nicht entbeh-
0038ren kann.


0039Berlioz vertheidigt sich in einer Vorrede gegen den
0040Vorwurf, ein Denkmal wie Goetheʼs „Faust“ verstümmelt zu
0041haben („dʼavoir mutilé un monument“). Das mag dem
0042Franzosen so vorkommen, jeder Deutsche hingegen, der seinen
0043Goethe kennt und liebt, muß trotzdem das Berliozʼsche Li-
0044bretto als eine Verstümmlung, und zwar als eine recht will-
0045kürliche und verletzende empfinden. Es klingt fast komisch,
0046wenn Berlioz in seinem Plaidoyer fortfährt: auch Mozartʼs 
0047Don Juan“ und „Hochzeit des Figaro“ müßten dann Ver-
0048stümmlungen heißen, weil sie Schauspielen von Molière 
0049und Beaumarchais nachgebildet sind! Diese beiden Mo-
0050zartʼschen Opern sind eben selbstständige, in sich erfüllte Or-
0051ganismen, deren poetischen Unterbau Niemand auf seine Her-
0052kunft ansieht. Berlioz aber reißt einem poetischen Orga-
0053nismus eine beliebige Anzahl „effectvoller“ Stücke aus, zu
0054dem höchst bedenklichen Zwecke, dramatisch Gedachtes und
0055Ausgeführtes undramatisch nachzubilden. Wenigstens drei Vier-
0056theile von Berliozʼ „Legende“ sind Goetheʼs „Faust“ wört-
0057lich entnommen, das vierte besteht aus willkürlichen Zugaben,
0058meist unpassender Art, z. B. Faustʼs Versetzung in die
0059„Ebenen Ungarns“ und seine schließliche Höllenfahrt. Letztere
0060soll Gelegenheit bieten zu der crassesten Teufelsmusik, erstere
0061zur Anbringung des „Rakoczy-Marsches“. Wenn Goethe sei-
0062nen „Faust“ im zweiten Theil nach Sparta führt, warum
0063(so fragt Berlioz im Vorwort) soll er, der Componist, nicht das
0064Recht haben, ihn nach Ungarn zu führen? Armer Faust! Wir
0065fürchten, du wirst nicht so bald Ruhe finden vor den Mu-
0066sikern einer Schule, die sich nur für die höchsten Probleme
0067des Menschengeistes in chromatische Bewegung setzt. Seit
0068Berliozʼ „Faust“-Legende, Wagnerʼs „Faust“-Ouverture 
0069und Lisztʼs „Faust“-Symphonie kann sich ja ein anstän-
0070diger Componist ohne „Faust“-Partitur kaum mehr sehen lassen.


0071Gehen wir zur Hauptsache über, zur Musik. Ueber Ber-
0072lioz
ʼ eigenthümlichen Standpunkt, über das Stylprincip in
0073seiner Musik, haben wir oft und ausführlich gesprochen. Da
0074der Componist von „Faustʼs Verdammniß“ seinen früheren
0075Anschauungen vollständig treu geblieben, so interessirt uns
0076wol zunächst, in welchem Verhältniß dieses Werk zu den
0077übrigen Compositionen von Berlioz stehe? Und hierauf müssen
0078wir leider antworten, daß von allen größeren Werken dieses
0079Tondichters uns „Faust“ als das schwächste erscheint. In
0080seinen früheren Arbeiten finden wir mehr Ausdruck und
0081Schönheit, und vor Allem ein glücklicheres Verhältniß zwischen
0082der gewählten Aufgabe und der speciellen Begabung. Trotz
0083seines großen Umfanges ist das neuere Werk musikalisch
0084ärmer als seine Vorgänger. „Faustʼs Verdammniß“ hat kei-
0085nen Satz aufzuweisen, der sich mit dem Adagio (Liebesscene)
0086aus „Romeo und Julie“ oder mit dem Pilgermarsch aus
0087Childe Harold“ vergleichen ließe, der die furchtbare Energie
0088des Hinrichtungsmarsches, die graziöse Lebendigkeit der Ball-
0089scene in der Symphonie fantastique oder das leidenschaftliche
0090Pathos der „Lear“-Ouverture erreichte. Von der „Fee Mab“
0091brauchen wir gar nicht zu sprechen, denn der Sylphentanz und das
0092Irrwischballet im „Faust“ sind so viel schwächere Nachbildun-
0093gen der „Fee Mab“, daß der Abstand dem Hörer von selbst
0094auffallen muß. Und doch gelten diese beiden Stücke nicht
0095mit Unrecht für die besten der Legende. „Harold“, die „Fan-
0096tastique“ und „Romeo“ sind von vornherein in dem großen
0097Vortheil, daß die beiden ersteren Werke ausschließlich, das
0098letztere überwiegend aus Orchesterstücken bestehen, während
0099im „Faust“ der Gesang vorherrscht. Das will sagen, Ber-
0100lioz hat im „Faust“ den Boden verlassen, aus dem er alle
0101seine Kraft zieht, und sich einem ihm stets unheilvollen, wider-
0102strebenden Elemente hingegeben. Sobald Berlioz für Gesang
0103schreibt, schnappt und zappelt seine Musik wie ein Fisch auf
0104heißem Sande. Sein Ringen, die reine Instrumental-Musik
0105zu bestimmter Bedeutung zu steigern, hat etwas Großarti-
0106ges; seine Anstrengungen hingegen, für die einfachsten Worte
0107einen entsprechenden melodischen Ausdruck zu finden, sind [2]
0108mitleiderregend. Ob er nun Freude oder Schmerz ausdrücken
0109will, er kommt aus dem engen Ring einer nur ihm eigenen,
0110ebenso dürftigen als unverständlichen Terminologie des
0111Gefühls nicht heraus. Nichts in diesen unabsehbaren
0112Gesangsstrecken erblüht zur schönen, reifen Melodie.
0113Unsangbarere Partien sind kaum geschrieben, kläglichere Me-
0114lodien selten erfunden worden, als die Gretchenʼs und Faustʼs,
0115Mephistoʼs und Branderʼs. Unsere Sänger wissen davon zu
0116erzählen, und wir ergreifen gerne den Anlaß, Fräulein Bet-
0117telheim
, die Herren Walter, Mayerhofer und Hraba-
0118nek
ob der Selbstverleugnung zu rühmen, mit welcher sie
0119diese gegen das natürliche Musikgefühl so hart ankämpfenden
0120„Melodien“ sich eigen gemacht und vorgetragen haben. Von
0121den drei Hauptpersonen dünkt uns Mephisto die gelungenste;
0122die Instrumentation verleiht ihm die handgreiflich diabolische
0123Charakteristik (ein geller Pfiff des Piccolo, begleitet von einem
0124kurzen chromatischen Grunzen der Posaunen und Fagotte
0125kündigt ihn an) und sein ist das einzige Lied in der ganzen
0126Cantate, das sich gesunder Glieder rühmen kann: die Sere-
0127nade. Was soll man aber zu dem zwischen fünf- und drei-
0128tactigem Rhythmus taumelnden „Rattenlied“ und zu dem ver-
0129schrobenen „Flohlied“ sagen? Kann Jemand in diesen musi-
0130kalisch häßlichen, nach Originalität haschenden Liedern wirklich
0131Humor und Geist finden? Uns dünken sie, wie die „Amen-
0132fuge“ auf den Tod der Ratte und die ganze Kellerscene, nur
0133widrig und trivial. Edler, aber gestaltloser stehen dieser
0134Gruppe Faust und Gretchen gegenüber, deren Gesang sich
0135meistens in einem Dämmerlicht träumerischen Declamirens be-
0136wegt, aus welchem er dann zeitweise blitzartig aufzuckt. Zu einem
0137fertigen Bilde, das uns mit den ruhigen Augen der Schön-
0138heit anblickt, kommt es nirgends. Ist sie nicht ausstudirt wi-
0139dernatürlich, diese Melodie zum „König von Thule“ mit
0140ihrem hinkenden Rhythmus und den leiernden Bässen?*) 
0144Gretchenʼs zweites Lied: „Meine Ruhʼ ist hin“ wird nach den
0145ersten Tacten immer verzerrter und opernhafter, sogar kleine
0146kokette Melismen drängen sich vor, wie die aufsteigende Scala
0147auf „seine edle Gestalt“ und die paarweise herabhüpfenden Sech-
0148zehntel auf „Händedruck“. Wir halten uns jedoch nicht an
0149solche Einzelheiten, sondern an den unmusikalischen Charakter
0150des Berliozʼschen Gesanges im Allgemeinen und dessen
0151Schwanken zwischen trockener Alltäglichkeit und formloser Ueber-
0152treibung. Man kann dies recht deutlich an dem Liebesduett
0153zwischen Faust und Gretchen wahrnehmen, das, so lang es
0154nach Einfachheit und Naturwahrheit strebt, zwar nicht ohne
0155Empfindung, aber ganz schwunglos und gewöhnlich klingt. Später
0156steigert sich die Leidenschaft, complicirt sich die Situation,
0157Mephisto unterbricht die Liebenden und ein Chor boshafter
0158Nachbarn ruft wiederholt: „Hollah! mère Oppenheim!“
0159Da setzt nun der Componist alle Mittel in Bewegung, die ge-
0160wagtesten Rhythmen und Modulationen, den heftigsten drama-
0161tischen Ausdruck, die gewaltigsten Orchesterklänge, aber unter
0162dem Eindrucke der Ueberreizung und Unnatur ermüdet das
0163Ohr und erstarrt das Herz. Wir fühlen uns wie in einem
0164eiskalten Hause, wo alle Oefen rauchen.


0165„Ich bedarf sehr großer Mittel,“ äußerte einmal Ber-
0166lioz
in richtiger Selbstkenntniß, „um überhaupt etwas her-
0167vorzubringen.“ Da es nun mit bestem Willen unmöglich ist,
0168für Gesänge wie der „König von Thule“ oder „Meine Ruhʼ
0169ist hin“ sehr große Mittel in Bewegung zu setzen, so
0170tritt hier die wahrhaft pathologische Lücke in Berliozʼ Orga-
0171nismus erschreckend hervor. Man braucht kein Enthusiast für
0172Gounod zu sein, um zu gestehen, daß seine Scenen zwischen
0173Faust und Gretchen in jeder Hinsicht hoch über den analogen
0174Nummern des Berliozʼschen „Faust“ stehen: an Schönheit
0175und Natürlichkeit der Melodie, an Wärme der Empfindung,
0176an maßvoller Durchführung und an dramatischem Leben.
0177Gounod ist keine so eigenthümliche, energische Persönlichkeit
0178wie Berlioz, aber eine weit musikalischere Natur; seiner Em-
0179pfindung strömt von selbst der natürliche melodische Ausdruck
0180entgegen, während Berlioz wie ein Taubstummer ringen muß, 
0181um sein — vielleicht stärkeres — Gefühl auch nur verständ-
0182lich zu machen.


0183Wie in Berliozʼ „Romeo“, so sind auch in seinem „Faust“
0184die reinen Instrumentalstücke weitaus die hervorragendsten;
0185leider sind sie hier weder so zahlreich, noch so ausgeführt wie
0186dort. Von dem glänzend instrumentirten Rakoczy-Marsch 
0187wollen wir lieber nicht reden; der Jubel, den gerade diese
0188fremde, rhythmisch und melodisch urkräftige Weise inmitten
0189der Berliozʼschen Nummern überall erregt, dünkt uns für den
0190Componisten des „Faust“ wenig schmeichelhaft. Abgesehen
0191von diesem Adoptivkind, sind der „Irrlichtertanz“ und
0192das „Sylphenballet“ die glänzendsten und effectvollsten
0193Stücke des Werkes. Der melodische Stoff ist anmuthig,
0194wenngleich keineswegs hervorragend neu oder bedeutend, An-
0195lage und Steigerung natürlich und übersichtlich, die Klang-
0196wirkung endlich — das Wesentliche an beiden Stücken —
0197ein Wunderwerk geistvoller und erfinderischer Instrumentation.
0198Wir müssen uns Gewalt anthun, um hier nicht über eine
0199Fülle merkwürdiger Details, die wir aus der Partitur notirten,
0200redselig zu werden. Nach diesen reinen Orchesterstücken sind
0201jene Ensemble-Nummern des Werkes die gelungensten, in
0202welchen durch malende Charakteristik oder sinnlichen Klang-
0203reiz die Instrumentirung wenigstens eine hervorragende Rolle
0204spielt. Dahin gehört der dem „Ballet“ vorhergehende Syl-
0205phen-Chor, der gespenstische Ritt Faustʼs mit Mephisto und
0206Anderes. Wir würden auch noch die Höllenscene („Pandämo-
0207nium“) nennen, wäre hier nicht die grelle Charakteristik ge-
0208waltsam zu einem Bombast von Lärm und Häßlichkeit auf-
0209gebläht, wie er in der ganzen musikalischen Literatur, Berlioz 
0210mit eingeschlossen, nicht wieder vorkommt.


0211Im Ganzen und Großen glauben wir in „Faustʼs Ver-
0212dammung“ ein entschiedenes Sinken von Berliozʼ schöpferischer
0213Kraft wahrzunehmen. Es geht durch das Werk wie ein leich-
0214ter Schlaganfall, der Berliozʼ feines, krankhaftes Talent ge-
0215troffen, und von dem es sich nicht wieder erholt hat. Vom
0216Faust“ angefangen, der doch erst die Opuszahl 24 trägt,
0217fließt Berliozʼ Productivität sehr spärlich und stockt bald gänz[3]-
0218lich. Er hat seither an größeren Arbeiten nur „LʼEnfance
0219de Jésus-Christ“ geschrieben, eine Cantate, die ihren rasch
0220verflogenen Erfolg bekanntlich einer antiquarischen Mystifica-
0221tion verdankte, und die Oper „Les Troyennes“, worin,
0222nach dem Clavier-Auszug zu urtheilen, die verzweifelteste An-
0223strengung bereits mit dem vollständigen Bankerott der Erfin-
0224dung kämpft.**) Es dünkt uns sehr begreiflich, daß Berlioz 
0238sich nicht lange Zeit und nur mit der größten An-
0239spannung productiv erhalten konnte. War doch gerade das
0240musikalische Talent dieses so vielfach und hochbegabten
0241Geistes von Haus aus krankhaft organisirt, nämlich ganz auf
0242Einen Punkt geworfen: auf den Sinn für instrumentale
0243Klang-Effecte. Alles um diesen sprudelnden Quell herum war
0244gleichsam dürres Land, von dem nur einige Fußbreit mit
0245großer Mühe urbar gemacht werden konnten. In der Instru-
0246mentirungs-Kunst ist Berlioz nicht blos Virtuose, er ist darin
0247Poet und genialer Erfinder, eine Specialität ohnegleichen.
0248Aber eine Specialität in einem Gebiete musikalischer Technik
0249zu sein, macht noch nicht den Componisten. Es gibt keine
0250schöne Instrumentation „an und für sich“, die erste Frage
0251bleibt doch immer: was wird denn instrumentirt? Es ist
0252wahr, daß man anfangs, entzückt und berückt von dem neuen
0253Klangzauber, oft gar nicht zu dieser Frage kam; je länger und
0254öfter man aber Berlioz hört, desto mahnender tritt die Frage
0255in den Vordergrund. Mußte doch Schumann selbst, der Berlioz 
0256anfangs schwärmerisch begrüßte und damit dessen Triumph 
0257in Deutschland so mächtig vorbereitete, bald die Reaction an
0258sich erfahren; er hat jenes erste Lob nie mehr schriftlich
0259wiederholt und es mündlich oft zurückgenommen. Wir kennen
0260Berlioz seit zwanzig Jahren; noch immer verfolgen wir jedes
0261seiner Werke mit lebhaftestem Interesse und Studium, noch
0262immer entzücken uns die Wunder seiner Klangzauberei. Aber
0263mit jedem Jahre wird uns das Ungenügende seiner Begabung,
0264das Unorganische seiner Kunst klarer und bedeutsamer. Mit
0265der „Liebesscene“ und „Fee Mab“ in „Romeo“ stand Berlioz 
0266auf dem Gipfel seines Könnens; „Faust“ bezeichnet schon den An-
0267fang des Herabsteigens, den Moment, wo Berlioz selbst mit „sehr
0268großen Mitteln“ wenig Neues mehr erzielen konnte. Sein rein
0269musikalischer Gedankenreichthum war niemals bedeutend, und
0270die glänzende Specialität, die Instrumentirung, mußte doch
0271endlich an die Grenzen ihres Raffinements gelangen. Die
0272ehedem absolute Herrschaft der letzteren mußte sich ferner in
0273dem Maße abschwächen, als geistreiche jüngere Talente sich
0274die modernen Errungenschaften bald zunutze machen und
0275als Rivalen mit Glück auftreten konnten. Wir brauchen blos
0276Liszt und Wagner zu nennen, deren glänzende Instru-
0277mentirungskunst im Dienste verwandter Kunsttendenzen mit
0278Ursache ist, daß Berliozʼ Compositionen das Publicum nicht
0279mehr in dem Grade enthusiasmiren, wie vor zwanzig Jahren.
0280Wir bekennen uns offen zu der subjectiven Ueberzeugung,
0281daß Berliozʼ Compositionen eine lebendige, unmittelbare
0282Wirkung auf die musikalische Welt nicht sehr lange üben
0283werden, daß die Begeisterung des musikgebildeten Publicums
0284für dieselben nicht zunehmen wird, sondern abnehmen. Ber-
0285lioz
wird für den Kunsthistoriker eine der merkwürdigsten
0286und achtungswerthesten Persönlichkeiten, für den Musiker ein
0287unversiegbarer Quell des Studiums bleiben, aber die stimm-
0288berechtigte öffentliche Meinung dürfte, wie wir glauben, im
0289Laufe der Zeit eher in der Ansicht zusammentreffen, daß ein
0290Werk wie Berliozʼ „Faust“ keine Musik, als daß es die
0291wahre Musik sei. Ahnen wir recht, so wird „Faustʼs Ver-
0292klärung“ von Schumann noch jedes Ohr entzücken und
0293jedes Herz bewegen, wenn von „Faustʼs Verdammung“ längst
0294nichts mehr übrig ist, als der Name und die Erinnerung.

Fußnoten
  • *)Dies freiwillige Hinken ist nicht die Folge der Uebersetzung,
    sondern schon im Original beabsichtigt, welches „un roi“, „la mort“
    mit kurzer starker Accentuirung des Artikels declamirt.
  • **)Bei der ersten Aufführung dieser Oper in Paris erbebte das
    Theater von Beifallssalven, und der Ovationen für Berlioz war kein
    Ende. Das Publicum wollte dem greisen, hochverehrten Künstler
    seine vollste Sympathie bezeigen. Die nächsten Vorstellungen aber
    fanden das Haus leer, Niemand mochte die „Trojanerinnen“ mehr
    hören. Diese Thatsache fiel uns unwillkürlich bei der Aufführung von
    Faustʼs Verdammung“ ein, die Berlioz am verflossenen Sonntag
    in Wien dirigirte. Der stürmische Applaus schien uns mehr dem
    Manne als seinem Werke zu gelten, wenigstens wollten die einzelnen
    Physiognomien um uns herum gar nicht zu dem allgemeinen Beifall
    stimmen. Möglich, daß wir irren. Die Gegenprobe für den wahren
    Erfolg dieser und ähnlicher Productionen ist leicht: sie besteht in einer
    baldigen Wiederholung, ohne Beisein des Autors.