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Neue Freie Presse
Morgenblatt
No. 1171. Wien, Dienstag den 3. December 1867

[1]

Oper und Concert.

(Gastspiel der Frau v. Voggenhuber. — Quartett-Production von Joachim. — Zweites Gesellschafts-Concert.)


0003Ed. H. Die Sängerin v. Voggenhuber aus Bremen 
0004beschloß ihr kurzes, aber sehr günstig aufgenommenes Gastspiel
0005als Selica in der „Afrikanerin“. Sie hat in dieser Rolle,
0006wie in den zwei früheren (Fidelio und Margarethe),
0007das Publicum und die Kritik durch so werthvolle künstlerische
0008Eigenschaften befriedigt, daß sie trotz ihrer freundlichen Er-
0009scheinung beinahe hier engagirt worden wäre. Daß in
0010dieser Frau ein echtes, nicht gewöhnliches Talent stecke,
0011ließ sich trotz ihrer Befangenheit sofort erkennen. Ihre Be-
0012gabung ist um so höher anzuschlagen, als Frau v. Vog-
0013genhuber so gut wie Alles aus sich selbst schöpfen mußte, keine
0014bedeutenden Vorbilder vor Augen hatte und bisher nur auf
0015kleinere Bühnen angewiesen war. Eine noch weitere Vervoll-
0016kommnung dieser Sängerin unter einer tüchtigen Direction
0017und in einem großen künstlerischen Ensemble scheint kaum zu
0018bezweifeln. Die Stimme der jungen Dame ist ein Sopran
0019von weichem, sympathischem Klang und mäßiger Kraft; der
0020Umfang derselben bewältigt abnorme Partien wie Fides und
0021Selica ohne jede Punctirung. Sie intonirt rein, faßt die Töne
0022sicher und spricht deutlich aus. Was zunächst für die Leistun-
0023gen der Frau v. Voggenhuber einnahm, ist die warme, echte
0024Empfindung, die aus dem Herzen quillt, ohne unnatürliche
0025Effecte zu suchen oder sich gefallsüchtig vorzudrängen. Ein tiefer
0026Ernst der Auffassung geht damit Hand in Hand; die Sän-
0027gerin geht in dem darzustellenden Charakter vollständig auf und
0028ist singend wie im stummen Spiel immer ganz bei der Sache.
0029Die eigentliche Gesangskunst (in der Regel die schwache Seite
0030der „dramatischen“ Sängerinnen in Deutschland) ist auch bei
0031Frau v. Voggenhuber nicht hoch ausgebildet. Ihrer Coloratur
0032fehlt die Gleichheit und Leichtigkeit, geschweige denn der Glanz.
0033Stücke, wie das Schlummerlied der Selica und die Schmuck-
0034Arie Gretchenʼs blieben deßhalb unter der gewohnten Wirkung.
0035Auch andere nicht colorirte, aber musikalisch bedeutungsvolle
0036Stellen ermangelten der vollkommenen Technik, des letzten
0037Schliffes der Phrasirung. Als Fidelio arbeitete sich Frau
0038v. Voggenhuber aus großer Befangenheit zu einem siegreichen
0039Aufschwung in der Kerkerscene empor; die Scenen der Selica 
0040im vierten Act sang sie mit wohlthuender Wärme und spielte
0041den fünften Act geradezu meisterhaft. Als Gretchen (in Gou-
0042nodʼs
Faust“) erreichte sie zwar weder die glühende Leiden-
0043schaftlichkeit der Frau Dustmann, noch weniger die voll-
0044endete Kunst und Zierlichkeit der Artôt, aber es war ein
0045echtes und rechtes „Gretchen“, eine Leistung aus Einem Guß,
0046Gesang und Darstellung Aeußerungen eines Wesens. Und
0047das ist die große Uebermacht des geistigen Theiles in aller
0048Kunst, daß er über technische Anstöße hinwegzuheben vermag.


0049Im „Faust“ sang Herr Rokitansky zum erstenmale
0050den Mephisto, ohne die Leistungen seiner Vorgänger Schmid 
0051und Mayerhofer zu erreichen. Dr. Schmid steht durch
0052die Pracht seiner nicht blos starken, sondern metallreichen
0053Stimme im Vortheile gegen die beiden anderen Bassisten;
0054er singt die zwei Lieder Mephistoʼs sehr wirksam und verdient
0055nur den Vorwurf, den Humor der Gartenscene durch un-
0056articulirte Nestroy-Laute und Gesten ins Triviale herabzuziehen.
0057Herr Mayerhofer, an Stimme und Statur von seinen
0058beiden Collegen um Kopfeshöhe überragt, ist ihnen als Schau-
0059spieler weit überlegen. In der Declamation, Mimik und Kunst
0060der Maske übertrifft er fast alle Mitglieder des Operntheaters.
0061Er fand für die Partie des Mephisto einige neue glückliche
0062Motive (z. B. das Spiel mit der Börse während des ersten
0063Liedes), schadet aber der Leistung durch übermäßiges Detail,
0064wie in der unseligen Flucht vor den Schwertgriffen der frommen
0065Stammgäste. Die Scene, schwer und unangenehm zu spielen,
0066ist eine von keinem Darsteller gutzumachende Albernheit der
0067Textdichter. In GoetheʼsFaust“ scheuen die bösen Geister
0068das Kirchliche nicht; ein böser Feind flüstert im Dome Gretchen 
0069ins Ohr, und Mephisto selbst betrachtete sie im Beichtstuhl. 
0070Was für ein armer Teufel, der sich vor der Kreuzform eines
0071Schwertgriffes ohnmächtig windet! Der Schauspieler thut hier
0072je weniger desto besser. Herr Rokitansky faßt die Scene
0073sehr gut; er stemmt sich anfangs in trotziger Haltung gegen
0074seine Bedränger und wendet sich erst allmälig ab, die Kreuze
0075nicht ansehend, aber von ihnen auch keineswegs erschüttert.
0076Ueberhaupt war Herr Rokitansky in den zwei ersten Acten
0077charakteristisch in Spiel und Gesang; es freute uns, endlich
0078etwas mehr Wärme und Eifer an ihm wahrzunehmen und ihn
0079wieder einmal loben zu können. Dieser Sänger ist uns eine
0080räthselhafte Erscheinung. Die Natur ist nicht karg an ihm
0081vorübergegangen, sein Kehlkopf ist nach der competenten Ver-
0082sicherung Dr. Störkʼs ein Wunder an Größe. Rokitansky 
0083besitzt außerdem tüchtige Gesangsstudien und große musikalische
0084Sicherheit. Seine allgemeine wissenschaftliche Bildung steht
0085hoch über dem gewöhnlichen Theaterniveau. Und dennoch mit
0086all diesen Vorzügen auf der Bühne so wenig anzufangen,
0087— wie fängt man das an? Es fehlt eben die rechte Be-
0088geisterung für den Beruf, die Lust und Liebe zur
0089Sache. Herr Rokitansky vernachlässigt sich, seine Stimme
0090wie seine Kunst sind seit dem ersten Gastspiele ohne Frage zu-
0091rückgegangen. Wir sehen ihn alle Rollen mit derselben ver-
0092drießlich schwerfälligen Gleichgiltigkeit singen und spielen. Das
0093tonlose Fallenlassen der Periodenschlüsse ist ihm fast zur
0094stehenden Gewohnheit geworden, und wird dann zur Abwechslung
0095Einzelnes recht derb losgelegt, so wirken diese unvermittelten
0096Extreme noch naturalistischer. Wenn Herr Rokitansky sprich-
0097wörtlich dankbare Rollen wie den „Bertram“ mit einer Flauheit
0098ausführt, daß keine Hand sich rührt (weder an Herrn Roki-
0099tansky noch im Parterre), so kann man sich denken, wie we-
0100nig Interesse kleinere Partien ihm einflößen. Nach solchen
0101Erfahrungen sahen wir ihn mit wahrem Vergnügen den Me-
0102phisto charakteristischer und lebhafter anfassen. Leider währte
0103die Freude nicht lange, schon in der Gartenscene ward Me-
0104phisto matt und humorlos, um schließlich im vierten und
0105fünften Acte in vollständiger Passivität zu verlöschen. Es [2]
0106sind keine schmeichelhaften Wahrheiten, die wir Herrn Roki-
0107tansky heute sagen, aber er ist der Mann dazu, wenn er will,
0108sie durch künstlerische Gegenbeweise zu widerlegen. Wäre Herr
0109Rokitansky nicht ein so reich ausgestatteter und intelligenter
0110Künstler, an welchen sich große Erwartungen knüpften, wir
0111hätten sanfter von ihm gesprochen und weniger.


0112Herr Adams, unser bildhübscher neuer Tenor, ist im
0113Gegensatze zu Rokitansky voll Eifer und Beweglichkeit, aber
0114sein Kehlkopf ist desto kleiner. Man müßte ein Sänger von
0115glänzendem Geiste und genialem Herzen sein, um mit dieser
0116kleinen, einfärbigen Stimme ein Publicum zu entzünden und
0117mit sich fortzureißen. Herr Adams erscheint aber blos nett,
0118anständig und gewissenhaft. Sein Gesang ist recht gut ge-
0119schult, sein Spiel sehr gewandt, nicht sowol individualisirend,
0120als allgemeine Formen gefällig ausfüllend. Zarte lyrische Mo-
0121mente gelingen ihm am besten, und Partien wie Edgardo oder
0122Elvino gehen nicht ohne Applaus für ihn vorüber. — Im
0123Faust“ ist nunmehr Frau Marthe Schwertlein aus den
0124Händen einer ganz unzureichenden Darstellerin an Fräulein
0125Gindele übergegangen, welche diese kleine, aber für das Ge-
0126lingen des dritten Actes wichtige Partie mit dem rühmlichsten
0127Eifer und Geschick ausführt.


0128Im Hofoperntheater ist der vortreffliche Bassist Herr
0129Schmid nach langem Krankenlager wieder in Nicolaiʼs 
0130Lustigen Weibern von Windsor“ aufgetreten. Nicht nur von
0131den Opernbesuchern war die Thätigkeit Schmidʼs schmerzlich
0132vermißt worden, die Theilnahme an dem Los des schwerge-
0133prüften, als Künstler wie als Mensch hochgeachteten Mannes
0134war eine ganz allgemeine. Kein Wunder, daß man den Wie-
0135dergenesenen mit Jubel empfing, sich der unversehrten Kraft
0136und Fülle seiner Stimme freute und ihm schließlich eine An-
0137zahl von Kränzen warf, die vom Boden aufzulesen dem colos-
0138salen „Falstaff“ schwer genug fallen mochte.


0139Joseph Joachim gab am Donnerstag — unterstützt von 
0140den Herren Käßmayer, Hilbert und Röver — die erste
0141seiner drei Quartett-Productionen. Der musikalische Stoff
0142stürmt diesmal so lawinenartig auf uns ein, daß wir uns
0143auf wenige Worte beschränken müssen. Am kürzesten machen
0144wir es wol: daß wir Quartett-Musik niemals so vollendet schön
0145vortragen hörten. Man macht sich schwer eine Vorstellung
0146von dem ruhigen Pathos und der zusammengehaltenen Kraft,
0147mit welcher Joachim Beethovenʼs F-dur-Quartett (Rasu-
0148mowsky) anstimmte, um es später zur ergreifendsten Klage zu
0149vertiefen und schließlich zur höchsten Energie zu entfesseln.
0150Man macht sich noch schwerer eine Vorstellung von dem Zau-
0151ber, welchen ein Haydnʼsches Quartett unter Joachimʼs 
0152Bogen gewinnt. Es ist als wenn ein wohlbekanntes Bildchen
0153nach allen Dimensionen größer, in allen Farben frischer und
0154sprechender würde. Zwischen den beiden Quartetten spielte
0155Joachim mit Brahms eine Sebastian Bachʼsche Sonate
0156in E-dur, deren reicher, breit ausströmender erster Satz das
0157etwas krause Formelwesen der folgenden bedeutend überstrahlt.
0158Natürlich, daß der Musikvereinssaal voll Zuhörer und diese
0159voller Freude waren.


0160Das zweite Gesellschafts-Concert bestand aus
0161zwei musikalischen Cyklen sehr verschiedenen Charakters: dem
0162Deutschen Requiem“ von Johannes Brahms und der voll-
0163ständigen „Rosamunde“-Musik von Schubert. „Rosamunde“
0164war bekanntlich ein im Theater an der Wien durchgefallenes
0165Ritterstück von Frau Helmine v. Chezy, demselben rastlosen
0166Blaustrumpf, der auch die „Euryanthe“ verfertigte, und so
0167auf Flügeln des Gesanges von Schubert und C. M. We-
0168ber
als Ueberfracht in die Unsterblichkeit spedirt wurde. Schu-
0169bert
hatte das Stück verschwenderisch mit einer Musik ge-
0170schmückt, welche jetzt zum erstenmale vollständig aufgeführt zu
0171haben ein neues, schönes Verdienst des Hofcapellmeisters Her-
0172beck
ist. Mehrere Nummern, die größeren und selbstständi-
0173geren, waren bereits aus früheren Gesellschafts-Concerten be-
0174kannt. Von den neuen gefiel am meisten eine marschartige
0175Balletmusik in G-dur, die man zu den liebenswürdigsten
0176Genrebildern Schubertʼs zählen darf. Das glitzert und duf-
0177tet wie ein glücklicher Frühlingsmorgen. Auffallend genug erin-
0178nert das wuchtig aufstampfende G-moll-Unisono der Contrabässe an
0179den Zigeunertanz in den „Hugenotten“. Das ungemein graziös
0180gespielte Stück mußte wiederholt werden — wol das erste
0181und einzige Beispiel einer Balletmusik, welche ohne Mit-
0182wirkung der Scene und des Tanzes im Concertsaal sol-
0183chen Erfolg errung! Auch die übrigen Nummern athmen in
0184jedem Tacte die Schubert eigenthümliche anmuthige Romantik,
0185doch bedürfen sie zu ihrer vollen Wirkung mehr oder minder
0186des Theaters. Das Publicum dankte Herrn Herbeck für die
0187neue Schubertgabe und deren treffliche Vorführung durch wie-
0188derholten Hervorruf; desgleichen dem Fräulein Magnus für
0189ihren warmen und fein nuancirten Vortrag der „Romanze“.
0190Wir können bei diesem Anlasse nicht umhin, die jüngst von
0191Herrn Speidel ausgegangene Anregung einer Gesammt-
0192ausgabe von Schubertʼs Werken hier aufzunehmen und auf
0193das wärmste zu unterstützen. Möge Herr Spina, dessen
0194Verlag eine so rühmliche Thätigkeit auch für Schubert zu
0195entfalten begann, den letzten entscheidenden Entschluß fassen
0196und Oesterreich die Beschämung ersparen, daß es seinen
0197Schubert im Auslande herausgegeben sehe.


0198Das Gesellschafts-Concert brachte ferner (gleichfalls unter
0199Herbeckʼs Direction) ein noch ungedrucktes „Deutsches Re-
0200quiem
“, von Joh. Brahms für Chor und Orchester. Es
0201war nicht die ganze, aus sechs Sätzen bestehende Composition,
0202sondern nur deren erste Hälfte, die aufgeführt wurde. Den
0203Text bilden Bibelstellen, welche die Vergänglichkeit des Irdi-
0204schen und die Hoffnung auf ein Jenseits aussprechen; die Com-
0205position ist als eine großartige musikalische Todtenfeier mehr
0206noch für die Kirche als den Concertsaal gedacht. Das „Deutsche
0207Requiem“ ist ein Werk von ungewöhnlicher Bedeutung und [3]
0208großer Meisterschaft. Es dünkt uns eine der reifsten Früchte,
0209welche aus dem Styl der letzten Beethovenʼschen Werke auf
0210dem Felde geistlicher Musik hervorgewachsen. Seit den Todten-
0211messen und Trauercantaten unserer Classiker hat kaum eine
0212Musik die Schauer des Todes, den Ernst der Vergänglich-
0213keit mit solcher Gewalt dargestellt. Die harmonische und con-
0214trapunktische Kunst, die Brahms in der Schule Sebastian
0215Bachʼs erwarb und mit dem lebendigen Athem unserer Zeit
0216durchhaucht, tritt für den Hörer ganz zurück hinter dem von
0217rührender Klage bis zum vernichtenden Todesgrauen sich stei-
0218gernden Ausdruck. Wie ergreifend erhebt sich der erste Satz
0219(„Selig, die da Leid tragen“) auf seinen ruhigen
0220und doch so überraschenden Harmonien, bald getra-
0221gen von tiefem Violoncell- und Posaunenklang, bald
0222von leisen Harfentönen wie von Geister-Erscheinungen durchweht.
0223Und doch ist dies nur ein Vorspiel zu der gewaltigen Tragö-
0224die des zweiten Satzes in B-moll („denn alles Fleisch ist wie
0225Gras“), in welchem das Grauen der Verwesung nur von dem
0226verklärten Lächeln eines brechenden Auges erhellt wird. Es ist
0227der bedeutendste von den drei Sätzen und würde uns noch
0228größer dünken, wenn er mit der letzten dröhnenden Wieder-
0229holung des Hauptthemas in B-moll schlösse; das angefügte
0230B-dur Allegro: „Die Erlösten des Herrn“ erscheint mehr wie
0231ein äußerlicher Anhang, als wie ein organischer Abschluß. An
0232Größe der Conception steht der dritte Satz den beiden ersten
0233nicht nach, an contrapunktischer Kunst übertrifft er sie. Den-
0234noch wirkt er nicht so klar und harmonisch wie jene, er be-
0235stürmt den Hörer mit Eindrücken von mitunter sehr gewalt-
0236samer Art, denen nach der vorhergegangenen Aufregung und
0237Anspannung schwer Stand zu halten ist. Der Satz hebt mit
0238einem Bariton-Solo an („Herr, lehre mich doch, daß es ein
0239Ende mit mir haben muß“), welches vom Chore bald beant-
0240wortet, bald unterstützt wird; Alles im Tone tiefster Trauer.
0241Das D-moll-Andante geht schließlich in die Dur-Tonart über
0242und bringt über dem Orgelpunkt der Tonica einen
0243vierstimmigen fugirten Satz: „Der Gerechten Seelen sind in 
0244Gottes Hand“. Dieser Orgelpunkt hat die unbarmherzige
0245Länge von 72 Vierviertel-Tacten (tempo moderato) und wird
0246von den (nach D herabstimmenden) Contrabässen, Hörnern,
0247Posaunen und einer ununterbrochen in Sextolen schlagenden
0248(nicht wirbelnden) Pauke ausgehalten. Der Componist hat
0249diese in der Partitur imponirende Stelle in ihrer äußeren
0250Wirkung nicht richtig berechnet. Einmal verschlingt der dröh-
0251nende Orgelpunkt das Geflechte der Singstimmen, das man
0252nicht mehr zu erkennen vermag, sodann versetzt das unaufhör-
0253liche Paukengehämmer auf Einem Ton den Zuhörer in eine
0254nervöse Aufregung, die jede ästhetische Aufnahme vereitelt. Je-
0255mand verglich die Wirkung dieses Orgelpunktes mit der beän-
0256stigenden Empfindung, die man beim Fahren durch einen sehr
0257langen Tunnel hat. Vom Orgelpedal gehalten, würde die Stelle
0258wahrscheinlich diese allarmirende Wirkung verlieren, welche hier dem
0259Erfolg des dritten Satzes so sehr schadete. Während die beiden ersten
0260Sätze des „Requiem“ trotz ihres düsteren Ernstes mit einhelligem
0261Beifall aufgenommen wurden, war das Schicksal des dritten
0262Satzes ein sehr zweifelhaftes. Daß eine so schwerfaßliche, nur
0263in Todesgedanken webende Composition keinen populären Er-
0264folg erwartet und viele Elemente eines großen Publicums un-
0265befriedigt lassen wird, ist begreiflich. Aber selbst dem Wider-
0266streben, so glaubten wir, müßte sich eine Ahnung von der
0267Größe und dem Ernste des Werkes beimischen und Respect
0268auferlegen. Dies schien nicht der Fall bei einem Halbdutzend
0269grauer Fanatiker alter Schule, welche die Unart begingen, die
0270applaudirende Majorität und den vortretenden Componisten
0271mit anhaltendem Zischen zu begrüßen. Daß ein solches „Re-
0272quiem“ auf den Anstand und die gute Sitte in einem Wiener
0273Concertsaale ertönen könne, hat uns auf das bedauer-
0274lichste überrascht. Brahms selbst braucht sich darob
0275nicht zu grämen. In wenigen Jahren wird das Publicum ge-
0276wiß sein „Requiem“ mit ungetheilter Würdigung aufnehmen
0277und werden selbst die Concertdiener vom Hörensagen hinläng-
0278lichen Respect dafür haben, um etwa aufzischende musikalische
0279Vipern vor die Thür zu setzen.