Zoom inZoom inZoom inZoom in
Zoom outZoom outZoom outZoom out
Go homeGo homeGo homeGo home
Previous pagePrevious pagePrevious pagePrevious page
Next pageNext pageNext pageNext page
Unable to open [object Object]: Error loading image at https://iiif.acdh.oeaw.ac.at/iiif/images/hsl-nfp/1888.07.29-0001.jp2/full/full/0/default.jpg
Wörter einzeln suchen

Neue Freie Presse
Morgenblatt
Nr. 8595. Wien, Sonntag, den 29. Juli 1888

Musikalisches aus Skandinavien.

II. Stockholm.

„Dies schöne Leben — ach wie bald / Ist nicht der Sommer aus! / Ein Wintermantel, steif und kalt, / Deckt bald das kleine Haus.“ / Henrik Ibsen.

Ed. H. Mit dem Namen Schweden und Norwegen pflegen wir unwillkürlich die Vorstellung von Kälte, Nebel und Trübsinn zu verbinden. Die ernste Erhabenheit der Natur, die nackten Felsen, das brausende Meer, der lange, lange Winter, welcher die weit von einander Wohnenden durch eine Scheidenwand von Schnee in Einsamkeit gebannt hält — das sind Eindrücke, die sich dem Charakter und der Gemüthsart der Nordländer bleibend einprägen müssen. Ueber ihren Sagen, ihren Dichtungen, ihren Melodien ruht ein Schleier oder doch ein Hauch von Schwermuth, und es ist bezeichnend, daß gerade ein schwedischer Dichter den Anspruch that, die Melancholie sei eine Krankheit, in welcher man Alles so sieht, wie es ist. Um von alledem nichts zu merken, nichts zu glauben, braucht man nur im Juni oder Juli nach Schweden zu kommen. Wie herrlich die Tage, wie viel herrlicher noch die Nächte! Der Tagesgluth folgt nicht, wie bei uns, ein durchheizter, schwüler Abend, sondern balsamische Kühle und eine entzückende, unbegreiflich helle Nacht. Da sehen wir gegen Mitternacht die Gäste in den Kaffeehausgärten ohne Licht ihre Zeitung lesen, die Musiker ohne Licht aus ihren Noten spielen. Keine Straßenlaterne brennt, wenn wir nach Hause zurückkehren; selbst der Zimmerkellner im „Grand Hôtel“ findet es überflüssig, uns die Treppe hinaufzuleuchten. In diesem späten, kurzen Sommer Schwedens entfaltet sich die Vegetation wunderbar schnell. Halbgeöffneter Flieder und frische Maiglöckchen hauchen uns ihren berauschenden Duft entgegen, sechs Wochen nachdem in Wien ihresgleichen längst verblüht gewesen. Und wie die Blumen und Bäume, so blüht auch plötzlich, mächtig die Lebensfreude des Volkes auf Frühling, Sommer und Herbst drängen sich hier in die Frist von zwei Monaten zusammen — die kurze Wonnezeit muß fröhlich genossen, muß voll ausgekostet werden. Und darauf versteht man sich meisterhaft in Stockholm. Alles genießt sorglos die kühlen Abende, die taghellen Nächte. Auf dem Mälarsee und dem Salzsee, welche die prächtige Stadt rings umfangen, fahren unablässig kleine, mit vergnügten Menschen beladene Dampfer nach Waxholm, Ulriksdal, Drottningholm und wie all die grünumwaldeten Luftschlösser heißen. In der Stadt selbst wogt auf den Promenaden ein behagliches Leben; bis tief in die Nacht musiciren die Orchester und Militär- Capellen auf dem Strömparterre, vor Berns’ Café, bei Hasselbacken im Thiergarten. Die allgemeine Sommerfreude culminirt im ganzen Lande am 24. Juni, dem Johannestag; da wird jedes Häuschen mit frischen Birkenzweigen geschmückt und auf den norwegischen Schiffen die ganze Nacht gesungen, getrunken, getanzt. Die Mutter scheinen allenthalben aus dem Boden zu sprießen. Sogar in dem kleinen Trollhätta, das man nur wegen seiner berühmten Wasserfälle besucht, überraschte uns an diesem Tag der Anschlagzettel eines Midsommardagen-Concerts, und darauf unter Anderm ein „Czardes ur op Läderlappen af J. Strauss“. Vergeblich studirten wir, welche Strauß’sche Operette etwa damit gemeint sein konnte. Was heißt Läderlappen auf Deutsch? „Das Spitzentuch!“ rief uns Herr Georg Wagner durch das Brausen des Trollhättafalles zu.

Der poetische Ausdruck alles dessen, was im schwedischen Volke an Lebenslust, Genußfreude und Uebermuth aufschäumt, ist Karl Michael Bellmann, der „schwedische Anakreon“. Er hat als kleiner Zollbeamter unter Gustav III. gelebt, die Liebe, den Wein, die Natur besungen und witzige Schilderungen aus dem Stockholmer Volksleben gereimt. Mit genialer Leichtigkeit pflegte er seine Lieder zur Zither zu improvisiren, bei Gelagen tief in die Nacht hinein, bis zu völliger Erschöpfung. Er sang seine Verse selbst, theils nach eigenen Melodien, theils nach fremden, wie sie ihm aus Volksliedern oder damals beliebten französischen Vaudevilles einfielen. In der Literatur behauptet er nur eine bescheidene Stellung; eine sehr hohe und bleibende jedoch im Herzen seines Volkes. Hundertfünfzig Jahre sind seit der Geburt dieses Volksdichters verflossen, aber immer noch wird ihm zu Ehren alljährlich im Thiergarten, dem Prater von Stockholm, ein Sommerfest gefeiert, bei dem nur seine Lieder erklingen. Da lagert sich Alles, singend und trinkend, auf dem grünen Rasen um Bellmann’s colossale Bronzestatue herum, bekränzt sie mit Blumen und beträufelt sie mit schwedischem Punsch — dem süßen, tückischen Trank, mit welchem Bellmann seinen Lebensfaden so reichlich zu benetzen liebte. Eine Suite von sechs Bellmannsliedern habe ich nur in der originellen Harmonisirung und effectvollen Instrumentirung A. Södermann’s kennen gelernt — eine seltsam duftende Blüthe nordischen Bodens und von diesem kaum abzutrennen.

An diesen bezaubernden Sommerabenden pflegen die Theater leer zu bleiben. Das „dramatische Theater“ (wie hier das Schauspielhaus heißt) war bereits vor Mitte Juni geschlossen, im königlichen Opernhause erhaschten wir noch die letzte Vorstellung: „Mignon“. Das Opernhaus ist, wie fast alle mehr als hundert Jahre alten Theater, architektonisch kahl und in den Nebenlocalitäten, Gängen, Treppen eng und verwahrlost; der Zuschauerraum hingegen groß und bequem. Gustav III., der kunstenthusiastische Monarch, hat dieses erste Opernhaus Schwedens errichtet und selbst das Libretto verfaßt zu der von Naumann componirten Eröffnungsoper „Cora und Alonzo“. Es überlief mich ein leiser Schauer bei dem Gedanken, daß auf demselben Platze, wo jetzt Mignon’s Zigeuner ihren lustigen Tanz aufführten, König Gustav III. von der Kugel Ankarström’s niedergestreckt worden ist. Die Verschwörer hatten bekanntlich (1792) einen Maskenball in dem neuerbauten Opernhause zur Ausführung ihres Mordplanes benützt. Der König, tödtlich getroffen, wurde erst in ein Nebenzimmer, dann ins Schloß gebracht, wo er nach vierzehn Tagen seinen Wunden erlag. Zwei Operncomponisten, Auber und Verdi, haben dann diese im Theater vollführte Tragödie wieder aufs Theater gebracht. Es mag ein Nachklang der Geschmacksrichtung Gustav’s III., vielleicht auch der Herkunft des jetzigen Königs *) sein, daß französische Opern von Auber, Adam, Gounod, Thomas eine Hauptrolle im Stockholmer Repertoire spielen. Von Richard Wagner erlebt der einzige „Lohengrin“ zahlreichere Wiederholungen; seine späteren Werke sind in Skandinavien noch unbekannt, die Richtung im Allgemeinen unbeliebt. Der Wagner-Cultus hat bis heute in den drei skandinavischen Reichen ein einziges, kümmerliches Ei ausgebrütet: die früher erwähnte Oper „Harold“ von dem Schweden Hallén. Von einheimischen Componisten wird zeitweilig eine Oper Hallström’s, am häufigsten und beifälligsten die beiden Opern von Siegfried Saloman: Das Diamantkreuz“ und „Die Rose der Karpathen“ gegeben. In „Mignon“ ist mir die Darstellerin der Titelrolle, Frau Edling, als seelenvolle Sängerin und ursprüngliches dramatisches Talent aufgefallen. Alles war schön, was sie machte, nur sie selbst nicht. Desto höher achten wir die Wirkung, die sie erzielte, und zwar mit den einfachsten künstlerischen Mitteln. Der Wohlklang ihrer tiefen Mezzosopranstimme schien sich zu steigern durch die Wärme und Innigkeit ihres unmittelbar überzeugenden Vortrages. Neben Frau Edling verblaßten die Uebrigen, ohne zu stören. Die Oper in Stockholm hat sehr mit der Sparsamkeit der Volksvertretung zu kämpfen. Die Bauern, die in der zweiten Kammer das große Wort führen, wehren sich gegen jeden Zuschuß zur Subvention der Oper, deren Nutzen sie nicht zugeben und allerdings auch nicht mitgenießen. Sind einmal diese Hindernisse überwunden, so dürfte die Stockholmer Oper rasch zu erfreulicher Blüthe gelangen; sie besitzt in Herrn Nordqvist (dem früheren Capellmeister) einen erfahrenen, gründlich gebildeten Director, in Herrn R. Sjöhlom einen geschmackvollen Balletmeister, ferner ein tüchtiges Orchester und gut musikalische Sänger. Von allen in „Mignon“ Mitwirkenden, unter denen doch nur Frau Edling als ein bedeutendes Talent hervorragte, hat Niemand distonirt oder geschrien. Im schwedischen Volk steckt ein unverkennbares Talent für Gesang, und zwar für eine bestimmte Art des Gesanges, und zwar nach der musikalischen Schönheit, als nach der dramatischen Energie gravitirt. In Jenny Lind und Christine Nilsson haben wir die feinsten Blüthen schwedischer Gesangskunst kennen gelernt. Das sind freilich exceptionelle Erscheinungen. Allein was sie Charakteristisches gemeinsam haben mit einander und wieder mit anderen jüngeren Landsleuten (Mademoiselle Arnoldson in Paris, Alma Fohström, Filip Forstén), ist so eigenartig, daß es wol mit dem Naturgrunde zusammenhängen, als physiologische und musikalische Anlage im Volke selbst schlummern muß: die weiche, leicht ansprechende Tonbildung, der durchsichtig klare Vortrag, vor Allem die Feinheit des Gehörs. Ein Beispiel höchster Empfindlichkeit des Gehörs hat uns vor fünfzehn Jahren das „Schwedische Damenquartettin Wien gegeben. Wie diese vier weißgekleideten Damen, mit der blau-gelben Schärpe als einzigem Schmuck, bescheiden vortraten und ohne Beihilfe eines angeschlagenen Accordes oder Grundtones vollkommen gleichzeitig mit haarscharfer Intonation einsetzten, den Ton bald anschwellend, bald verhauchend, wie aus Einer Kehle — das bleibt uns unvergeßlich. Die Führerin dieses Damenquartetts, Frau Marie Petterson, lebt jetzt in Stockholm und hat, aus freundlicher Anhänglichkeit an Wien, mich dort besucht. Die drei anderen Sängerinnen haben sich seither gut verheiratet, und so ist die Ehe, welche so häufig eine Einzelne der Kunst entreißt, hier grausam viertheilend in ein ganzes Quartett gefahren.

Daß dieses reine, klangschöne Zusammensingen, wie wir es an den Damenquartett bewundert haben, eine vereinzelte Erscheinung ist in Schweden, davon überzeugte uns eine Chorproduction der Studenten von Upsala. Die sangeskundigen Söhne der altberühmten Hochschule pflegen in den Ferien zeitweilig Ausflüge zu machen und hie und da gegen bescheidenes Eintrittsgeld ein Concert zu geben zum Besten ihres Universitätsfonds. In Gothenburg hörte ich eine solche Production, zu welcher die ganze Stadt in dem angenehmen Garten „Trädgards förening“ zusammenströmte. Die Studenten, etwa 24 bis 30 an der Zahl, in Frack und weißer Halsbinde mit dem blau-gelben Band darüber, betraten das Podium und begannen, gleichfalls ohne jedes Accompagnement, mit größter Sicherheit und Reinheit ihre Chöre vorzutragen. Es waren nicht weniger als fünfzehn Nummern, welche sie sämmtlich auswendig sangen! Diese Studenten- Production hatte gar nichts Virtuosenhaftes und war dennoch eine virtuose Leistung. In dem Programm fanden wir neben den nationalen Componisten Lindblad, Södermann, Kurulf und Anderen auch Mendelssohn und Reissiger vertreten. Die einschmeichelnde Wirkung schwedischer Stimmen wird wesentlich unterstützt durch die Sprache, welche, gesprochen oder gesungen, ungleich weicher, melodischer klingt, als sie sich gedruckt in Buchstaben präsentirt. Es liegt dies, abgesehen von ihren zahlreichen Vocalen, großentheils darin, daß das K, wie das italienische c vor einem e oder wie daß czechische č ausgesprochen wird; so lautet zum Beispiel kellare (der Keller) čellare, kyrkan (die Kirche) čjerkan. Weniger Neigung und Talent als für den Gesang zeigen die Schweden für das Instrumentalfach. In dem Opernorchester von Stockholm sitzen viele Deutsche und Böhmen, auch müssen Militärmusiker häufig aushelfen. In dem kleinen Gothenburg leben mehrere böhmische Musiker in guten Stellungen. Damit es aber an musikalischer Gegenseitigkeit nicht ganz fehle, ist der schmucke Baritonist, welcher in dem Studenten-Concert die Soli sang, nach — Pilsen engagirt worden. In dem recht tüchtigen Orchester, das in Gothenburg mit dem Upsala-Chor alternirte, befindet sich, wie man wir sagte, ein einziger schwedischer Musiker. Sollte diese Abhängigkeit vom Auslande etwa daher rühren, daß das Stockholmer Conservatorium zur Zeit nicht genug Orchestermusiker auszubilden vermag, so dürfte diesem Uebelstande wol bald abgeholfen werden. König Oskar II. wird schon dafür sorgen. Es dürfte gegenwärtig keinen Monarchen in Europa geben, der mit so gründlicher musikalischer Einsicht und aus dem innersten Gefühle heraus die Tonkunst in seinem Lande fördert. Unendlich ist die Thätigkeit des Königs für die von Gustav III. anfangs mit kärglichen Mitteln und in kleinem Umfange gestiftete „Schwedische Musik-Akademie“. Oskar II. hat als Kronprinz neun Jahre lang dieser Anstalt als Präses vorgestanden; nicht als bloßer „Ehrenpräsident“, sondern als thatsächlich leitendes Oberhaupt. In dieser Eigenschaft hat Prinz Oskar Fredrick durch seine beständige Anwesenheit bei den Sitzungen und seine häufigen Besuche während der Lehrstunden die Akademiker, Professoren und Schüler zu erhöhtem Eifer für ihre Kunst ermuntert und überhaupt wie mit einem Zauberschlage die früher kränkelnde Anstalt zu rascher Blüthe gebracht. Eine seiner ersten Maßregeln war die durchgreifende Reorganisation des Conservatoriums, sodann ein ausgearbeiteter Vorschlag zur Verbesserung des Kirchengesangs. Als der Kronprinz 1872 den Thron bestieg, legte er das Präsidium der Musik-Akademie nieder, blieb jedoch ihr Protector. Er überschickte dem Reichstag einen Vorschlag wegen Erbauung eines eigenen Hauses für die Musik-Akademie, welche in gemietheten Räumen untergebracht war. Ohne Discussion wurde der Antrag einhellig von beiden Kammern genehmigt und das neue Haus, dessen innere Einrichtung der König mit einer großen Summe bestritten hatte, im Herbste 1877 eröffnet. Bei allen in den Jahren 1864 bis Ende 1871 vorgekommenen feierlichen Anlässen und Gedenktagen hat König Oskar (damals Kronprinz) persönlich die Festrede gehalten. Diese sorgfältig ausgearbeiteten Reden, welche in einer guten deutschen Uebersetzung von Emil Jonas mir vorliegen, sind ein merkwürdiges Document für die musikbildende schöpferische Thätigkeit des Königs und ein bleibendes Denkmal seiner hohen Geistes- und Gemüthsart. Es waltet darin eine durchwegs ideale Anschauung, welche jedes Vorkommniß aus einem hohen Gesichtspunkt faßt und erst allmälig, langsamen Fluges sich zu der Realität des Tages herabsenkt. Angeboren ist dem Könige ein poetischer Sinn, der über glückliche Bilder und Gleichnisse verfügt; er hat in der Jugend auf der Universität Upsala viel gedichtet, auch Herder’s Cid ins Schwedische übersetzt. Der eminent ideale und poetische Charakter herrscht in jeder dieser Ansprachen. Er ist fest ausgeprägt schon in der allerersten Rede vom 17. December 1864, welche mit den Mitteln des philosophischen Dichters Ursprung, Zweck und Wirkung der Tonkunst in großen Zügen darlegt. Diese Festrede, welche einem nationalen Gedenktage galt, schildert auch den Charakter, der nordischen Musik mit treffenden Worten. **) Der König beschränkt sich aber in seinen Festreden keineswegs auf allgemeine ästhetische Betrachtungen; er behandelt auch ganz concrete, praktisch wichtige Fragen. So erörtert er bei der Jahresfeier von 1865 ausführlich die nothwendigen Reformen der Kirchenmusik in Schweden und macht Vorschläge zur Umarbeitung des jetzigen Choralbuches. Ein andermal entwickelt König Oskar den Begriff des Classischen in der Kunst, ein drittesmal seine Ansichten über Gesangskunst. ***) Wieder eine andere Festrede geht von der Bedeutung des Gehörs aus und erweitert sich zu einem vollständigen akademischen Vortrag über die (damals noch neuen) akustischen Entdeckungen und Erfindungen von Helmholtz. Ein besonders feierlicher Gedenktag, das hundertjährige Jubiläum der 1771 gestifteten „Musik-Akademie“, bietet dem König Veranlassung, eine gedrängte und doch farbenreiche Skizze der Geschichte der Musik in Schweden zu entwerfen, von den ältesten Zeiten bis auf die Gegenwart. Waren in einem Jahreslaufe bedeutende Mitglieder oder Wohlthäter der Musik-Akademie verstorben, so unterließ es der König nie ihnen selbst einen würdigen, herzenswarmen Nachruf zu widmen. Vorher wurden die Nekrologe dieser Verstorbenen von dem Bibliothekar der Akademie, Herrn Frithiof Cronhamn, gelesen, einem jungen Musikgelehrten von umfassender Bildung und frischem, beweglichen Geist.

Die Ueberzeugung, „daß es etwas noch Höheres gibt als den Begriff vaterländisch, nämlich den Begriff des rein Menschlichen“ bethätigte König Oskar indem er Beethoven’s hundertsten Geburtstag am 16. December 1870 mit einer eigenen großen Festrede feierte, in welcher seine Begeisterung für den großen deutschen Tondichter in vollen Glockentönen ausklingt. Darin wird unter Anderem an dem Lebensgang Beethoven’s der Gedanke verfolgt, daß die innere Arbeit des tondichtenden Geistes am meisten Ruhe nach Außen erfordert: „Dem Auge des Bildhauers oder Malers theilen sich tausend umgebende Gegenstände in wechselnder Formenschönheit und Farbenpracht mit. Der Tonkünstler wiederum muß ausschließlicher der mystischen Mahnung der inneren Stimme lauschen. Aus seiner eigenen Seele müssen die Quellen emporsprudeln, aus deren klaren, spiegelnden Wellen die Genien emportauchen, um den Wohlaut weit in der Runde zu verbreiten.“ Als die Unterredung, zu welcher mich der König huldreich berufen hatte, unter Anderem jenen Ausspruch streifte, erlaubte ich mir zu bemerken, daß die Methode der „Zukunftsmusiker“ den geraden Gegensatz dazu bilde, indem diese, anstatt „der inneren Stimme zu lauschen“, bemüht seien, irgend ein Bild von Kaulbach, ein philosophisches Gedicht von Schiller, eine Tragödie von Shakespeare symphonisch nachzubilden. „Auch daraus,“ entgegnete der König, „kann noch Gelungenes entstehen, wenn der Componist vorher jene von Außen geholten Sujets vollkommen in sich verarbeitet und ausgereift hat; aber es bleibt immer eine Secundogenitur.“ Ein frappanter Ausdruck, der dem Könige allein gehört.

König Oskar ist eine hohe, majestätische Gestalt mit leicht ergrautem Haar, ruhigen Bewegungen und sehr ernstem, sinnendem Blick. Er spricht mit ungemein wohlklingendem Organ das Deutsche vollkommen correct, nur hin und wieder vor der Wahl eines bezeichnenden Ausdruckes etwas innehaltend. Man könnte die deutsche Conversation des Königs ungefähr so charakterisiren, wie Daudet die französische des Dichters Turgenjew: „Il parlait un français très pur, avec un soupçon de lenteur, à cause de la subtilité de son esprit.“

Fußnoten
  • *)Der Großvater des jetzt regierenden Königs, Karl XIV. Johann (Bernadotte), war bekanntlich in Pau in Frankreich geboren, wo sein Vater Advocat war. Er wurde, nachdem er Marschall von Frankreich und Prinz von Ponte-Corvo geworden, von den schwedischen Ständen zum Nachfolger König Karl’s XIII., der kinderlos war, gewählt und von diesem adoptirt.
  • **)„Die nordische Volksmusik zeichnet sich durch wechselnde Rhythmen, großen Harmonien-Reichthum und vor Allem durch die Wahrheit und Reinheit aus, womit ihre Melodien unsere ernste Natur und unsere eigenthümliche Volkslaune widerspiegeln. Unsere Volksweisen sind einfache Echos aus den tiefen Wäldern, den hohen Bergen, den vielbuchtigen Binnenseen, den reißenden, brausenden Wasserfällen. Sie scheinen wirklich an kalten, langen Winterabenden am prasselnden Feuer des Fichtenholzes heimisch zu sein; sie scheinen sich am liebsten fern von den Menschenwohnungen, in den bleichen Sommernächten des Nordens hören zu lassen. Sonnengluth verrathen sie nicht, aber umsomehr warme Innigkeit und ungekünsteltes Gefühl. Sie gehen aus dem Schoße eines Volkes hervor, das nur durch ausdauernde Arbeit der gefrorenen Erde seinen Lebensunterhalt abzuringen vermag; ein Volk, dessen große Mehrzahl mehr als andere Völker darauf angewiesen ist, ein einsames Leben zu führen, das in Folge dessen unverkennbare Anlagen für eine melancholische, ja mystische Weltanschauung verräth, das aber ein weiches und treues Herz besitzt und das Proben von ernster Gesinnung und ausdauerndem Willen gegeben hat. Deßhalb können die schwedischen Volksweisen nie und nirgends verfehlen; einen tiefen Eindruck zu machen.“
  • ***)Eine Stelle in dieser Festrede lautet: „Ein geistiges Element muß hinzutreten, damit ein Gesang wirklich diesen Namen verdiene. Soll der gesungene Ton zum Herzen dringen und nicht blos zum Ohr, so muß er Farbe besitzen; soll der Gesang in seiner Totalität dauerhaften Eindruck auf die Zuhörer machen, so muß er wirklich bewußtes Gefühl besitzen, das nur durch den rechten Accent und in demselben zum Ausdruck kommt. Die Klangfarbe möchte ich das Nervensystem des Gesangs, sein sensitives Element nennen; den Accent hingegen als sein Mark, das Kräftige, das Bestimmende des Charakters des Gesangs und der beabsichtigten Seelenstimmung bezeichnen. Alle wirklichen Sänger und Sängerinnen haben, indem sie die Bedeutung der Farbe und des Accents einsahen, sich diese mächtigen Mittel, welche, unabhängig von dem Klang-Element in ihrer Stimme, ihnen zu Gebote standen, sich angeeignet und sie benützt. So machte es unsere Jenny Lind.“