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Neue Freie Presse
Morgenblatt
Nr. 8813. Wien, Donnerstag, den 7. März 1889

Oper und Operette.

Ed. H. Drei Theater-Vorstellungen haben in diesen Tagen das Interesse unseres musikalischen Publicums erregt: das neu einstudirte „Glöckchen des Eremiten“ im Hofoperntheater und — auf bescheidenerer Kunststufe — zwei neue Operetten von Arthur Sullivan: „Capitän Wilson“ und Die Piraten“.

Das „Glöckchen“ (oder „Les dragons de Villars“, wie es im Original heißt) ist das einzige Werk von Aimé Maillard, welches in Deutschland bekannt geworden, zugleich das einzige, das sich in Frankreich auf dem Repertoire erhalten hat. Und doch war der Componist ein sehr beachtenswerthes, liebenswürdiges Talent, obendrein ein vom Glück früh begünstigtes. Von Jugend auf mit dem Theater vertraut — der Vater und die Brüder waren Schauspieler — errang Maillard gleich mit seiner ersten Oper „Gastibelza“ einen unbestrittenen Erfolg. Das von Adolphe Adam zu seinem Unheil begründete und geleitete Theater „Opéra national“ (das spätere Théâtre lyrique) wurde mit dieser Novität im November 1847 glücklich eröffnet. Das Libretto wirkte als eine gewandte Bearbeitung der populären Ballade vom Gastibelza, dem „Narren von Toledo“, dem „Mann mit dem Carabiner“, und die Musik gefiel durch ihre jugendliche Frische so sehr, daß alle Operndirectoren dem kaum dreißigjährigen Componisten bereitwillig entgegenkamen. Wie es trotzdem geschah, daß Maillard im Laufe der folgenden 24 Jahre nicht mehr als 5 Opern geliefert hat? Er war kränklich, wohlhabend und ohne jeglichen Ehrgeiz. Nur stundenweise, wenn es ihm gerade paßte, ging er an die Arbeit; zu angestrengtem Fleiß drängte ihn weder die Noth, noch das Bedürfniß, zu glänzen. Maillard starb im Mai 1871, ohne den berühmten Namen zu hinterlassen, der seiner Begabung erreichbar gewesen wäre. Dafür spricht sein Glöckchen“, das nunmehr seit 30 Jahren auf allen europäischen Bühnen sein liebliches Geläute fortsetzt. Diesen Erfolg verdankt die Oper freilich ebensosehr ihrem Textbuch, als der Musik. Letztere ist ungleich, ersteres vortrefflich von Anfang bis zu Ende. Eine bald heitere, bald rührende Dorfgeschichte hebt sich wirksam von einem bedeutsamen historischen Hintergrund: der Verfolgung der protestantischen Camisarden durch die Dragoner des Marschalls Villars unter Ludwig XIV. Ohne das übermäßig verwickelte Intriguenspiel der späteren Scribe’schen Texte hat das „Glöckchen“ doch eine lebhaft fortschreitende Handlung, munteren Dialog und wirksame, zwanglos herbeigeführte Situationen. In Rose Friquet bringt es eine lebensvolle, für die Oper neue Charakterfigur, neben welcher Meyerbeer’s gleichfalls nach der „petite Fadette“ geformte Dinorah als ein widerwärtiges Zerrbild dasteht. Auch die übrigen Personen sind frisch und individuell gezeichnet: der treuherzig gemüthvolle Sylvain und sein Gegenstück, der kecke Herzenseroberer Belamy; der Pächter Thibaut mit seiner komischen Bauernpfiffigkeit und sein bei allem Flattersinn gutherziges Weibchen Georgette. Auch bei den Franzosen sind seit Scribe die guten Librettisten immer seltener geworden und scheinen heute fast auszusterben. Ich erinnere mich einer Oper von Maillard: „Die Fischer von Catanea“, die trotz sehr hübscher Musikstücke an ihrem elenden Libretto scheiterte. Die Textdichter hatten aus Lamartine’s Erzählung „Graziella“ eines der unwahrscheinlichsten und plattesten Opernbücher fabricirt. Ein armes einfältiges Fischermädchen geht aus Liebe zu einem noch einfältigeren adeligen Officier ins Kloster. Am Ende ihres Novizenjahres will sie, vor ihrer Einkleidung, noch drei Tage lang das Leben genießen, treibt sich zwischen den Tarantellen und Scherzliedern einer Dorfkirchweih herum, erfährt die Verlobung ihres Heißgeliebten, wird verrückt und singt sich in einer langen, langen Wahnsinnsscene à la Lucia vor dem Publicum zu Tode. In Maillard’s „Glöckchen“ ist das Duett zwischen Rose und Sylvain im zweiten Act musikalisch wie dramatisch das hervorragendste Stück, um nicht zu sagen das einzige wirklich bedeutende. Allein der Componist besitzt jene werthvollen, traditionell französischen Eigenschaften, welche auch das bescheidenere musikalische Talent befähigen, auf Grund eines guten Textbuches erfreulich zu wirken: vollkommene Kenntniß des Bühnengemäßen, technische Gewandtheit und Sicherheit, Anmuth, Esprit und über dem Allen ein Hauch feinerer gesellschaftlicher Bildung. Seine Musik wirkt vornehmlich durch ihr lebhaftes, natürliches Anschmiegen an die Situation, an das Dramatische. Man betrachte einmal, wie geschickt und zutreffend das Glöckchenterzett im zweiten Acte mit Rücksicht auf die scenische Disposition componirt ist. Allerliebste Nummern sind auch das erste Duett Rose’s mit Belamy, die Couplets der Georgette, dann im dritten Act der geschwätzige Weiberchor und die Arie der Rose Friquet, welche nur durch ihr italienisch-banales Schluß- Allegro geschädigt wird. Unbedeutendes, Flaches unterläuft freilich auch, selbst manch’ böses Reiterbudenstücklein, wie der Dragonerchor; dennoch überwiegt das Angemessene, Gefällige, Graziöse, und wir nehmen von einer so trefflichen Aufführung des „Glöckchen“, wie sie jetzt das Hofoperntheater unter Jahn bietet, einen erfrischenden Eindruck mit nach Hause.

Als belebender Mittelpunkt dieser Vorstellung wirkt Fräulein Renard. Ihre Rose Friquet ist keine blos geschickt zusammengefügte oder Anderen gut nachgebildete Leistung, sondern die eigenste Schöpfung eines ursprünglichen starken Talentes. Fräulein Renard gibt im ersten Act die Gestalt des ungeberdigen, von Allen verspotteten und eben dadurch verbitterten Dorfkindes mit herzhaft zutreffendem Realismus. Noch mehr als dieses Bild naturwüchsigen Uebermuths fesselt uns die im Verlauf der Handlung immer stärker vorbrechende Gemüthswärme und Wahrhaftigkeit des verkannten Mädchens. In dem Duett mit Sylvain im zweiten Act verschmolzen Stimme, Accent und Mimik der Renard zu einem eigenartig seelenvollen Ausdruck, der um so unwiderstehlicher wirkte, als er ganz ungesucht schien. Bei den schüchtern vorgebrachten Worten „Ich bin hübsch? Das hat mir Keiner noch gesagt!“ ging durch das ganze Haus ein leises Murmeln der Zufriedenheit, das uns werthvoller dünkt, als dröhnendes Händeklatschen. Bei solchen Anlässen freut man sich auch an dem Publicum. Die zweite Frauenrolle, Georgette, wird von Fräulein Forster mit jener bescheidenen — diesmal nur zu bescheidenen — Anmuth gespielt und gesungen, welche alle Leistungen dieser fleißigen Sängerin charakterisirt. Leider liegt ihr die Partie zu tief, weßhalb denn ihren beiden Solonummern im ersten Act die rechte Wirkung versagte. In Rollen wie Sylvain ist Herr Schrödter unvergleichlich. Da wirkt die jugendliche Blüthe seines Organs im Verein mit seinem warm empfundenen Vortrage gar wohlthuend und überzeugend. Diesem Sylvain glaubt man Alles und muß ihn liebgewinnen. Auch Herr Sommer gibt in dem Sergeant Belamy eine seiner besten Leistungen. Hat er uns schon im „Wildschütz“ durch leichte, geschmeidige Tongebung, gewandtes Spielen und Sprechen sehr angenehm überrascht, so zeigt er im „Glöckchen“ diese Vorzüge in noch höherem Grade. Wir sind überzeugt, daß nicht nur die Spieloper durch Herrn Sommer, sondern ebensosehr Herr Sommer durch die Spieloper gewinnen werde. Auf diesem Wege dürfte er das leidige hohle Klangpathos loswerden, das ihm seit neuerer Zeit in der Großen Oper anhaftet. Wer Herrn Sommer in der letzten Aufführung des „Merlin“ gehört, wo er den ganzen König Artus mit einer Art Nebelhorn-Ansatz gleichmäßig stark absang, der wird ihn als Belamy nicht wiedererkannt haben. Durch seinen frischen, gut pointirten Vortrag macht er sogar das banale Soldatenlied von Abt, das hier dem dritten Act aufgepfropft wird, genießbar. Endlich that auch Herr Stoll in komischer Charakteristik des Pächters Thibaut das Seine, um das Glöckchen des Eremiten“ zu einem jener Theaterabende zu stempeln, an die man gerne zurückdenkt.

Sullivan’s „Mikado“ hat überall so viel Glück gemacht, daß nachträglich das Verlangen auch nach anderen Operetten des fleißigen „Master“ rege werden mußte. Nacheinander hörten wir jetzt im Carl-Theater dessen allerneuestes Singspiel „Capitan Wilson“ (The Yeomen of the Guard) und im Wiedener Theater ein älteres: „Die Piraten“. Den beispiellosen Erfolg des Mikado dürfte schwerlich eine zweite Sullivan’sche Operette erreichen, denn dort imponirt (ganz abgesetzen von der Musik) so stark das verblüffend Exotische der Figuren, der Handlung, der Spielweise, ja der ganzen Komik, daß wir vor etwas absolut Neuem, Originellem stehen, wie es in anderen, europäischen Stoffen dieses Componisten sich nicht wiederholt. Seine musikalischen Vorzüge finden wir jedoch mehr oder minder auch sonst bei ihm wieder. Sie sind mehr solider als blendender Natur: anspruchslose Einfachheit, natürlicher, gesunder Ausdruck, leicht ausführbare, melodiöse Gesangspartien, vor Allem die Styl-Einheit des bescheidenen Singspiels. Von den beiden Novitäten ist „Capitän Wilson“ ohne Vergleich die bessere, sowol dem Text als der Musik nach. Hier sehen wir doch wirkliche Menschen und nicht unmögliche Caricaturen eine vernünftige, erträglich zusammenhängende Lustspielhandlung in Bewegung setzen, was man den „Piraten“ nicht nachrühmen kann. „Capitän Wilson“ tändelt zwar in der Exposition bedenklich mit Hinrichtungs-Vorbereitungen; doch sind wir über deren Harmlosigkeit vollkommen beruhigt, da ja der gesuchte Delinquent selber, in sicherer Verkleidung, diesen Zurüstungen lachend zusteht. Scherz und Humor überwiegen durchaus die ernste Seite des Stückes, die nur in einigen Gesangstücken leicht sentimentaler Färbung vortritt. Die Musik enthält neben unbedeutenden auch viele sehr hübsche Nummern. Von den komischen ist gleich das erste Duett des fahrenden Sängerpaares, Point und Elsie, vortrefflich; im Style englischer Volkslieder gehalten, beschließt es jede Strophe mit einem kurzen Tanz, wie das auf englischen Volksbühnen von jeher beliebter Brauch ist. In seiner echt nationalen Weise erinnert das Duett geradezu an Scenen aus der berühmten alten Bettler-Oper“. Auch das Duett der beiden Komiker: „Ehrenmänner sind wir Beide“, und noch manches Andere wirkt durch drastische Komik. Zwei in ihrer Einfachheit reizende Gesangstücke sind das Lied der Elsie: „Ringlein an meiner Hand“, und das Duett „Seh’ ein Röslein sprießen“. Die Quelle beider Stücke ist Sullivan’s Operette „Patience“, bekanntlich eine Satire auf die specifisch englische Modenarrheit der „Aesthetics“, die bei uns geradezu unverständlich und wirkungslos bleibt. Wir möchten den Wiener Bearbeitern eher ein Verdienst als einen Vorwurf daraus machen, daß sie diese beiden allerliebsten Nummern an die Stelle von zwei schwächeren herübergerettet haben. Fräulein Seebold’s Elsie“ zeigt auf das erfreulichste, welch bedeutende Wirkung eine Sängerin selbst von bescheidenen Stimmmitteln und nicht blendender Erscheinung hervorbringen kann, wenn ein ursprüngliches dramatisches Talent mit musikalischer Empfindung und überzeugender Natürlichkeit des Ausdruckes sich in ihr vereinen. Es ließe sich noch manches sehr gelungene Musikstück aus „Capitän Wilson“ anführen, doch möchten wir unseren Bericht nicht allzusehr anschwellen lassen. Die Liedertexte hat Herr Victor Leon theils übersetzt, theils frei zur Musik hinzugedichtet — Beides mit Sorgfalt und Talent. Ein noch größeres Verdienst ist dem Capellmeister Herrn Julius Stern zuzusprechen, welcher die ganze Operette nach dem Clavierauszuge effectvoll, stellenweise fein und charakteristisch, instrumentirt hat. So hinterläßt denn der „Capitän Wilson“ einen angenehmen, heiteren Eindruck; man lacht viel und schämt sich nicht hinterdrein, gelacht zu haben.

Letzteres widerfährt uns manchmal in den „Piraten“. Die Handlung des Stückes ist eigentlich reiner Unsinn, eine Reihe kindischer Situationen, die aus unmöglichen Voraussetzungen gewonnen sind. Es war ein Lieblingsscherz des hochbejahrten Rossini, daß er jüngst seinen siebzehnten oder achtzehnten Geburtstag gefeiert habe; er war nämlich an einem 29. Februar geboren, hatte also nur alle vier Jahre einen Geburtstag. Diesen Kalenderwitz aber zum Hauptmotiv und Angelpunkt eines ganzen Theaterstückes zu machen, wie es in den „Piraten“ geschieht, ist doch mehr als anspruchslos. Die Wiener Bearbeiter, Zell und Genée, thaten wohl daran, die „Piraten“ (welche Sullivan etwas großmäulig „an entirly original comic opera“ betitelt) als „burleske Operette“ zu bezeichnen — zur leisen Abwehr überstrenger Kritiken. Die Herren Zell und Genée haben auch die häkelige Aufgabe der Uebersetzung aus dem Englischen erstaunlich gut gelöst. Endreime, auf denen zum Theile die komische Wirkung beruht, wie in dem Piratenchor: „opportunity impudity, felicity domesticity, magnanimity dimity“ und so fort und fort, sind im Deutschen nicht leicht in solcher Anzahl zu beschaffen. Im ersten Act sickert das Bischen Handlung recht stockend vorwärts; mit dem Auftreten der Detectives im zweiten Act rückt jedoch ein sehr drolliges Element auf die Scene, welches seine Wirksamkeit zum Vortheile aller Lachlustigen bis zum Schlusse fortsetzt. Von höchst komischer Wirkung sind auch die Couplets des Sergeanten, dem der Chor seiner Untergebenen stets die letzten Worte vom Munde wegschnappt. Reizend klingt das Walzerlied der Mabel (hier Florinde) mit Chor-Refrain. Die Schlußtacte mit der zuerst bis as, dann bis ins c hinauffliegenden As-dur-Scala — eine sehr unerschrockene Reminiscenz an die Traviata — dürften wol erst in Wien hinzugefügt worden sein. Anmuthig und melodiös, mit hübscher Abwechslung der Stimmen ist das Terzett in H-moll „Nun fort!“ — zärtlich bewegt, fast leidenschaftlich, das Duett „Bleib’, Henric, bleib’!“ Eine besondere Eigenthümlichkeit, die wir bereits am „Mikado“ hervorgehoben und im „Capitän Wilson“, wie in den „Piraten“ wiederfinden, ist die Mitwirkung des Chors fast bei allen Gesangstücken, wenigstens durch kurze Zwischensätze und Refrains. Das bringt Leben und Farbe in die Scene, Fülle und Abwechslung in die musikalische Form. Die Textbücher Sullivan’s sind leichte Waare, mehr spaßhaft als geistreich, aber niemals schlüpfrig oder lasciv. Sie wirken noch, wie die älteren Wiener Possen, durch harmlose, volksthümliche Komik. Was Sullivan betrifft, so wird man bei ihm weder den hinreißenden Schwung Strauß’scher Rhythmik, noch die pikante Grazie Offenbach’s suchen. Was seine Singspiele werthvoll macht, ist ihre gesunde Natürlichkeit, ihre anspruchslose und dennoch wirksame Komik, ihre musikalische Solidität. Es ist eine melodiöse Musik, die für volksthümlichen Humor wie für zartere Empfindung, ohne zu grübeln, den rechten Ton anschlägt. In den beiden hier besprochenen Novitäten erinnert manches lyrische Stück unabsichtlich an den Styl der älteren Singspiele von Grétry und Dalayrac. Und gerade in diesem Rückschritte erblicken wir einen Fortschritt zum Besseren, vielleicht eine Rettung für das ganze Genre der modernen Operette, welches in der Ambition, zugleich Localposse und große heroische Oper zu sein, unterzugehen droht.