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Neue Freie Presse
Abendblatt
Nr. 9596. Wien, Donnerstag, den 14. Mai 1891

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Neue Bücher über Musik.

(Angezeigt von Ed. H.)

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0003Charles Gounod: „Le Don Juan de Mozart“. (Paris 
00041890, chez Paul Ollendorff.)


0005Das erste Buch, mit welchem der 73jährige Gounod als
0006Schriftsteller auftritt. Nur in vereinzelten Journal-Artikeln hat
0007der berühmte Componist des „Faust“ von Zeit zu Zeit seine An-
0008sicht über eine ihn besonders interessirende Frage veröffentlicht.
0009Wir haben von ihm einen Aufsatz über Dirigenten — worin er
0010den Componisten das in Frankreich ihnen vorenthaltene Recht vindicit,
0011ihre Werke selbst zu dirigiren — einen Artikel über „Kunst und
0012Natur“, eine Einleitung zu Berlioz’Lettres intimes“, eine
0013Vorrede zur Oper „Polyeuct“, eine Kritik über „Henri VII.“
0014von Saint-Saëns. In allen diesen Schriftstücken tritt uns Gounod 
0015als lebhaft erregte Künstlernatur, als feiner Beobachter und tadel-
0016loser Stylist entgegen. Sein vorliegendes Buch entwickelte er allmälig
0017aus einer Rede über Mozart’s „Don Juan“, welche er im October
00181882 in der feierlichen Jahresitzung der Pariser Akademie gehalten
0019hatte. Trotz ihrer herzgewinnenden Begeisterung für Mozart hat
0020uns diese Rede seinerzeit etwas seltsam berührt, nicht durch ihren
0021unanfechtbaren Inhalt, aber durch ihre specielle Bestimmung.
0022Wir sind in Deutschland gewohnt, in einer gelehrten Akademie
0023nur solche Vorträge zu hören, die in wissenschaftlicher
0024Form irgend eine neue Forschung mittheilen, wenigstens
0025einen neuen Gesichtspunkt, ein bisher übersehenes Detail. Gounod’s
0026Vortrag enthielt aber nichts, gar nichts, was nicht jeder Musik-
0027freund wüßte; das war ein persönliches Credo, eine Huldigung,
0028aber keine historische oder musikalisch-technische Bereicherung unserer
0029Mozart-Kenntniß. Gounod begann mit der Erzählung, wie er,
0030als dreizehnjähriger Junge von seiner Mutter ins Theater mit-
0031genommen, zum erstenmale „Don Juan“ gehört und davon den
0032stärksten Eindruck für sein ganzes Leben empfangen habe. Hierauf
0033ging er auf die Oper selbst über, begleitete jedes einzelne Musik-
0034stück mit Ausrufen der Bewunderung und gelangte zu dem Re-
0035sultate, daß Mozart der größte Tondichter und „Don Juan“ der
0036Gipfel aller Opernmusik sei. So wohlthuend dieses Glaubens-
0037bekenntniß eines hervorragenden französischen Componisten uns
0038berührte, es schien uns in dieser Form mehr für einen intimen
0039Freundeskreis, als in eine feierliche Sitzung der Akademie
0040zu passen. Jetzt hat Gounod diese Rede beträchtlich er-
0041weitert, mit zahlreichem musikalischen Detail bereichert und
0042sein Buch nicht etwa für das „Institut de France“, son-
0043dern ausdrücklich für junge Componisten und für Musiker be-
0044stimmt, die im „Don Juan“ mitzuwirken haben. Damit
0045sind wir auf einen ganz anderen Standpunkt gestellt, von
0046welchem wir das Buch nur loben und herzlich begrüßen können.
0047Neues haben wir darin freilich auch nicht entdeckt, aber die ein-
0048sichtsvolle Bewunderung, mit welcher Gounod die Schönheiten der
0049Oper aufweist und erklärt, dürfte gute Früchte tragen. Junge
0050Componisten werden die Partitur des Don Juan mit doppeltem
0051Nutzen und Genuß studiren, wenn sie dies an der Hand von
0052Gounod’s Analyse thun. Sein Buch vermeidet jegliche Polemik;
0053kein anderer Name als der Mozart’s kommt darin vor, und dieser
0054nur in Bezug auf „Don Juan“. Kein Wort fällt über die Ent-
0055stehungsgeschichte dieser Oper, ihre Schicksale, ihre verschiedenen
0056Auslegungen. Gounod öffnet einfach die Partitur und geht sie vom
0057ersten bis zum letzten Tact mit uns durch, erklärend und preisend.
0058Nur hin und wieder wirft seine Bewunderung, fast unwillkürlich,
0059ein schwaches Reflexlicht auf die musikalische Gegenwart die so
0060weit von Mozart sich entfernt hat. So z. B. bei Betrachtung der
0061Register-Arie Leporello’s, deren Instrumentirung Gounod als das
0062unerreichte Vorbild des Orchesters in der Oper preist. „Hier
0063in bewunderungswürdigem Gleichgewicht zwischen dem Nothwendi-
0064gen und dem Zureichenden, erfüllt es seine wahre Aufgabe, die Rolle
0065des Ergänzers und nicht des Zerstörers; hier vereinigt es ebenso
0066maßvoll wie genau die tausend Nuancen eines Charakters mit
0067der eigenen unerschütterlichen Einheit, ohne Ueberladung und ohne
0068Lücke; es sagt niemals zu viel und immer Alles. Ach, wie weit
0069davon entfernt sind wir heute mit unserer schwerfälligen und an-
0070spruchsvollen Emphase, welche zu rühren glaubt, indem sie erdrückt;
0071Ueberfüllung für Reichthum hält und Pathos für Größe!“ Von
0072Mozart’s Zeichnung der verschiedenen Charaktere rühmt Gounod:
0073„Immer ist die musikalische Form das treue Abbild der Person;
0074sie reproducirt deren Charakter, Rang, edle oder gemeine Hal-
0075tung; und dies nicht durch das bequeme und banale Mittel einer
0076künstlichen Einheit, welche darin besteht, jeder Person eine Formel
0077gleich einer Etiquette aufzukleben und mit lästiger Hartnäckigkeit
0078immer wieder vorzuführen. Mozart’s Einheit ist die Identität,
0079nicht die Monotonie; sie ist das Bleibende des Individuums unter
0080den Veränderungen des Zufälligen.“ An Zerline’s Arie „Batti
0081batti“, diesen „Zauber für das Ohr und zugleich für den
0082Geist des Zuhörers“, knüpft Gounod die Bemerkung: „Es
0083ist am allerhäufigsten der Mangel oder die Unzulänglich-
0084keit der Idee, was in einer Menge moderner Compositionen
0085den so häufigen Mißbrauch mit Modulationen verursacht.“
0086In einem Anhange gibt Gounod sehr beherzigenswerthe Winke
0087und Regeln für die Sänger und Capellmeister. Den Dirigenten
0088nennt er „den Gesandten der Idee des Meisters; er ist für die-
0089selbe verantwortlich, vor den Künstlern und vor dem Publicum;
0090er muß deren lebendiger Ausdruck und treuer Spiegel sein“.
0091Mit Recht besteht Gounod darauf, daß das Dirigiren Gegen-
0092stand eines regelmäßigen Cursus in den Conservatorien sein sollte.
0093Die Zukunft werde hoffentlich diese Lücke ausfüllen. Damit wäre
0094ein neues Feld für eine Gruppe specieller, ebenso nothwendiger
0095wie seltener Fähigkeiten eröffnet und eine ernste Garantie gegeben
0096für die Autorität des Capellmeisters gegenüber seinen Künstlern.
0097Gounod’s Buch über „Don Juan“ ist kürzlich auch in einer
0098deutschen Uebersetzung von Adolph Klages bei Reißner in
0099Leipzig) erschienen.


0100Dr. Hugo Goldschmidt: „Die italienische Gesangs-
0101methode des siebzehnten Jahrhunderts und ihre Bedeutung für die
0102Gegenwart“. (Breslau, 1890, bei Schottlaender.)


0103Mit Ausnahme der Wagner-Partei ist heute jeder Kenner
0104und Schätzer des schönen Gesanges über die Vortrefflichkeit der
0105italienischen Gesangsschule im Reinen. Was versteht man aber
0106darunter? Welche Zeitperiode, welche Stadt, welche von den
0107vielen berühmten Gesangslehrern Italiens repräsentiren „die wahre
0108italienische Methode“? Heutzutage meint man fast allgemein die
0109des achtzehnten Jahrhunderts, wie sie uns durch Tradition
0110und durch einige Schriftsteller (wie Adam Hiller und Mancini)
0111überliefert ist. Nach dem Vorgange Stockhausen’s, des Ersten
0112der auf die ältesten Meister zurückgegangen ist, erklärt Dr. Gold-
0113schmidt die alt italienische Gesangsschule, die des siebzehnten 
0114Jahrhunderts, für die classische. Die Gesangschule des acht-
0115zehnten
Jahrhunderts begünstigte im Anschlusse an die Schreib-
0116weise seiner Modecomponisten die Kehlfertigkeit auf Kosten des
0117schönen Tones und der correcten Aussprache. Man wollte mög-
0118lichst glänzende, coloraturfähige Stimmen bilden. Von den Mei-
0119stern des siebzehnten Jahrhunderts ward Kehlfertigkeit gleichfalls
0120[???], aber nur eine „gemessene Coloratur“ und nicht auf
0121[???] der Schönheit des Tones, sondern gerade als Förderin
0122und Erzeugerin edler Tonbildung. In dem vorliegenden Buche
0123soll dem Lehrer und Sänger gezeigt werden, wie die ältesten ita-
0124lienischen Meister ihre Zöglinge heranbildeten. Damit hatte der
0125Verfasser sich keine leichte Aufgabe gestellt. Die Musik-
0126geschichte des siebzehnten Jahrhunderts ist überhaupt noch ein
0127spärlich bebautes Feld; für die Erforschung der alten Gesangs-
0128methode besteht obendrein das Hinderniß, daß vor Tosi, dessen
0129Anleitung zur Singkunst erst 1723 (in deutscher Uebersetzung von
0130Agricola 1757) erschien, kein Italiener eine Gesangsschule veröffent-
0131licht hat. Dr. Goldschmidt stützt sich vornehmlich auf Caccini’s 
0132berühmte Einleitung zu den „Nuove Musiche“ (1601) und ähnliche
0133instructive Vorreden von Ottavio Durante und Anderen. Zu
0134jener Zeit waren die Componisten gleichzeitig Gesangslehrer und
0135pflegten ihren Compositionen Anweisungen für die Sänger voraus-
0136zuschicken. Reiche Ausbeute fand der Verfasser in den praktischen
0137Werken der alten Gesangscomponisten. Seine auf gründlichem
0138Quellenstudium ruhende Darstellung ist vorerst von historischem 
0139Interesse, sodann aber auch von praktischem Nutzen für
0140unsere modernen Sänger, welche im Anhang eine stattliche Anzahl
0141von Solfeggien und Uebungen finden. Diese Notenbeispiele sind
0142mit großer Sachkenntniß aus den schwer erreichbaren Original-
0143drucken des siebzehnten Jahrhunderts ausgewählt und machen
0144uns die damalige Gesangspraxis anschaulich.


0145Victor Rokitansky: „Ueber Sänger und Singen.“
0146(Wien 1891, bei A. Hartleben.)


0147Das interessante, schön ausgestattete Buch ist kein Gesang-
0148schule — Gott sei Dank, möchten wir beifügen. Die Zahl der
0149Gesangschulen und Methoden, von denen fast jede ein neues
0150Arcanum gefunden zu haben glaubt, ist in den letzten 10 bis
015120 Jahren beängstigend angewachsen und erinnert an den Aus-
0152spruch Rousseau’s, daß die Zunahme der Gesetzbücher ein Beweis
0153für die zunehmende Verderbniß der Menschen sei. Rokitansky’s
0154Buch sollte ursprünglich nur als Unterrichtsbehelf dienen: die
0155Liebe zu dem Stoffe, in den er arbeitend sich immer mehr ver-
0156tiefte, und der Wunsch, seine reichen Erfahrungen als Gesang-
0157lehrer nutzbringend zu machen, ließen ihn den Plan erweitern.
0158„Der Bau meiner Sing- und Unterrichs-Methode,“ sagt Roki-
0159tansky im Vorwort, „ruht auf den unvergänglichen Säulen der
0160alten italienischen Schule.“ Auf diesem festen Grunde
0161entwickelt der Verfasser werthvolle praktische Rathschläge über
0162methodisches Ueben, Diätetik, Körperhaltung, Erziehung der
0163Stimme, Aussprache, Herstellung verdorbener Stimmen (bekannt-
0164lich eine Specialität Rokitansky’s) u. s. w. Das Buch vermeidet
0165alle blos speculativen, ästhetischen oder physiologischen Ausführungen
0166und beschränkt sich auf praktische Rathschläge. Dabei ist es keines-
0167wegs trocken; Züge aus dem Leben berühmter Sänger, auch kleine
0168kritische, mitunter recht sarkastische Abstecher beleben den Vortrag. Sehr
0169überzeugend ist Rokitansky’s verwerfendes Urtheil über die moderne
0170Erfindung des „physiologischen Gesangsunterrichts“ und den neuesten
0171Unsinn der „Zungengymnastik“, seine Ansichten über das Virtuosen-
0172thum, den Chorgesang u. s. w. Rokitansky’s Buch sei angehenden
0173Sängern und Gesanglehrern angelegentlichst empfohlen.


0174Edmond Evenepoel: „Le Wagnerisme hors d’Alle-
0175magne. Bruxelles et la Belgique.“ (Paris. Fischbacher 1891.)


0176Wen etwa die Sorge quält, ob der Wagner-Cultus auch in
0177Belgien gehörig gedeihe, der findet in diesem Buche einen Herzens-
0178trost. Zwar hat Brüssel erst am 10. Januar 1880 (!) die
0179allererste Aufführung von Mozart’s „Zauber-
0180flöte“
erlebt, um so häufiger hört es seit 20 Jahren die Opern
0181Richard Wagner’s. Mit Ausnahme von „Tristan“ und „Par-
0182sifal“ kennt man dort seine sämmtlichen Werke. Der Verfasser ist
0183natürlich ein feuriger Wagnerianer, der jede Wagner-Aufführung
0184in Belgien als eine culturgeschichtliche That begrüßt. Er zählt
0185sie gewissenhaft auf, in der Hauptstadt wie in der Provinz, im
0186Theater wie im Concertsaale. Dazu werden Briefe, Kritiken,
0187Programme und was sonst an einschlägigem Materiale vorliegt,
0188abgedruckt. Auch ein Capitel über Bayreuth fehlt nicht, denn der
0189Verfasser ist stolz darauf, „que la Belgique avait fait quelque
0190bruit à Bayreuth“. Das Buch über den „Wagner-Cultus
0191außerhalb Deutschlands“ beschränkt sich thatsächlich nur auf Bel-
0192gien, eigentlich auf Brüssel. Wir dürfen also weitere Bände er-
0193warten, welche das Walten des göttlichen Fiebers etwa in Griechen-
0194land und der Türkei, in Norwegen und Sibirien schildern werden.
0195Hoffentlich werden diese fernen Mitbrüder sich dem „Wagne-
0196risme“ anschließen, sobald sie sehen, daß Jedem, der da Wagner 
0197singt, geigt, dirigirt, erklärt oder vergöttert, ein Plätzchen Unsterb-
0198lichkeit bei Herr Evenepoel sicher ist. Für das lustige Gedeihen
0199des „Wagnerisme“ in Belgien spricht auch das neueste in Brüssel 
0200erschienene Buch von Ernest Closson, eine „Etude esthétique
0201et musicale“ über Wagner’s „Siegfried“, die zu den erstaunlichsten
0202Leistungen in der Wagner-Ekstase und Leimotiv-Fängerei gehört.


0203Camille Bellaigue: „Un siècle de musique fran-
0204çaise“. (Paris, chez Dellagrave, 1887.)


0205Kein Brahmine des „Wagnerisme“, aber einer der geistreich-
0206sten und bestunterrichteten Musikkritiker in Paris ist Camille
0207Bellaigue, der überlegene Nachfolger der Herrn Scudo und
0208Blaze de Bury in der Revue des deux Mondes. Einige seiner
0209größeren Aufsätze finden wir in dem vorliegenden Bändchen ge-
0210sammelt; sie behandeln die komische Oper, Heine’s Gedichte, Ro-
0211bert Schumann, die Musik der russischen Zigeuner und Gou-
0212nod’s Oratorium „Mors et vita“. Der erste dieser Essays ist der
0213werthvollste. Man kann nicht geistreicher und zugleich natürlicher,
0214nicht liebevoller und zugleich unbefangener über die Componisten
0215der Opéra Comique, von Grétry bis auf Bizet, sprechen, als es
0216hier Bellaigue thut. Bei aller Zärtlichkeit für die Kunst und den
0217Ruhm Frankreichs verfällt er doch nicht in die üble Gewohnheit
0218seiner Collegen, von französischen Componisten nur in Superla-
0219tiven zu sprechen. Ja, manchmal scheint er uns sogar echt franzö-
0220sische Vorzüge etwas zu unterschätzen, z.B. die Auber’s, von dem
0221man in Paris wahrscheinlich übersättigt ist, während wir uns
0222heute in Deutschland ehrlich freuen, wenn eine gute Aufführung
0223des „Fra Diavolo“, der „Stummen von Portici“, des „Schwarzen
0224Domino“ in Aussicht steht. Bellaigue hat sogar die unerhörte Kühn-
0225heit, Ernest Reyer’s komische Oper „La statue“, langweilig zu
0226finden. Freilich gibt er dem Textbuch die Schuld und findet die
0227Musik blos „zu fein“ für die Bühne — so viel Rücksicht für
0228seinen mächtigen Collegen vom Journal des Débats muß er
0229immerhin beobachten. Er beklagt es, daß man in Frankreich die
0230Opern Grétry’s, Hérold’s, Boieldieu’s nicht mehr
0231spielt, nicht mehr liebt, daß der Cultus der älteren Meister sich
0232täglich vermindere. Er hofft, es werde der einmal unausbleib-
0233liche Ueberdruß an der Wagner’schen Richtung die Empfänglich-
0234keit für die heiteren, melodiösen Opern der früheren Epoche neu
0235erwecken. Hier hatte Bellaigue in der Revue des deux Mondes 
0236eine sehr charakteristische Stelle eingeschoben, die wir in dem Buche
0237vermissen. Sie lautete: „In Paris hat man in der verflossenen
0238Saison für den ersten Act aus „Tristan und Isolde“ geschwärmt
0239— es ist eine unserer schlimmsten Erinnerungen. Das ununter-
0240brochene Recitativ, der Gesang ohne Rhythmus und Tonalität ver-
0241folgten uns unerbittlich. Die Schwerfälligkeit, das Dunkel, die
0242Anstrengung und Arbeit, alle Fehler des deutschen Geistes waren
0243da aufgehäuft. Um einen Opernact zu erläutern, fünfzehn Seiten
0244Text; historische, ja prähistorische Auseinandersetzungen; geogra-
0245phische Erklärungen; die Rechtfertigung einer jeden musika-
0246lischen Phrase durch die streng correspondirenden Worte; ein
0247prätentiöses Künsteln des Details; die Ausschließung jeder
0248faßlichen Form; die barbarische Behandlung der Stimmen
0249ohne Sinn für ihre Schönheit, ohne Mitleid für ihre Schwäche; 
0250ein gewaltthätiges Orchester ohne Ruhepause, überall Ermüdung
0251und Langweile. Wir mußten uns fragen, ob diese Musik, ehedem
0252Zukunftsmusik geheißen und leider jetzt die Musik der Gegenwart,
0253nicht in einiger Zeit Musik der Vergangenheit sein werde, einer
0254Vergangenheit, die man gern vergißt. Aber diese Zeit ist noch
0255nicht gekommen. Man hat unsere Zeit „trunken von Wissenschaft“
0256genannt, und die Kunst selbst ist diesem Rausche verfallen. Wir
0257sind die Ersten, den außerordentlichen Fortschritt der modernen
0258Musik anzuerkennen. Die neuesten Meister haben unser Ohr an
0259einen orchestralen und harmonischen Reichthum, an geistreiche oder
0260mächtige Combinationen gewöhnt, die es nicht mehr entbehren
0261möchte. Wenn die Musik ehedem schöner war, besser gearbeitet (mieux
0262fait) war sie niemals, und das ist schon etwas. Schon Grétry 
0263sagte in seinen Essais, daß zu einem Componisten zwei Dinge
0264gehören: die Wissenschaft und das Genie. Heute haben wir nur
0265die eine Hälfte des Ganzen: die andere wird vielleicht eines Tages
0266wiederkommen.“ Ueberaus wohlthuend berührt die Wärme, mit
0267welchen Bellaigue über Robert Schumann spricht, speciell über
0268dessen Manfred- und Faust-Musik. Hoffentlich erfreut uns Bellaigue 
0269bald mit einer neuen Sammlung seiner Kritiken.


0270Julius Schuberth’s Musikalisches Conver-
0271sations-Lexikon
. Herausgegeben von Professor Emil
0272Breslaur. Elfte, gänzlich umgearbeitete Auflage. (Bei Schu-
0273berth in Leipzig.)


0274Jedes neue Lexikon hat unstreitig einen Vorzug vor allen
0275seinen Vorgängen: es bringt zum erstenmale Namen, die in den
0276älteren Nachschlagebüchern noch nicht enthalten sein konnten. Das
0277ist aber keineswegs der einzige Verzug der elften Auflage des
0278Breslauer Schuberth’schen Musik-Lexikons. Dasselbe gibt uns in
0279gedrängter Kürze Aufschluß über alle möglichen Namen und
0280Sachen, die mit Musik zusammenhängen. Der in dem handlichen,
0281schön ausgestatteten Bande aufgestapelte Reichthum ist erstaunlich.
0282Einige kleine Irrthümer können in keinem Lexikon fehlen;*) sie
0292sind uns weniger empfindlich, als das Fehlen der Jahreszahl auf
0293dem Titelblatt. Auf jedem Buche wünschenswerth, ist die Jahres-
0294zahl geradezu unentbehrlich auf dem Titelblatt eines Conversations-
0295Lexikons.


0296Friedrich Niecks: „Friedrich Chopin als Mensch und
0297als Musiker.“ Zwei Bände. Aus dem Englischen übertragen von
0298W. Langhans. (Leipzig, bei Leukart, 1890).


0299Die erste ausführliche Chopin-Biographie schrieb bekanntlich
0300M. Karasowski; sie erschien im Jahre 1877 und wurde in
0301diesen Blättern eingehend besprochen. Karasowski hat seine unbe-
0302streitbaren Verdienste, insbesondere durch seine Aufklärungen über
0303Chopin’s Jugendzeit, die er, als ein Freund der Chopin’schen
0304Familie und auf Grund früher nie veröffentlichter intimer Briefe
0305des Componisten zum erstenmale zusammenhängend zu schildern
0306vermochte. Hingegen standen ihm über Chopin’s Pariser Periode
0307nicht genügende Quellen zu Gebote. Hier tritt nun Niecks 
0308wesentlich ergänzend ein, der alle erreichbaren späteren Briefe
0309Chopin’s und die Auskünfte seiner überlebenden Freunde
0310mit außerordentlichem Fleiße gesammelt hat. Niecks’ Buch 
0311ist an Vollständigkeit des Materials, an Gewissenhaftig-
0312keit der Forschung und Darstellung gar nicht zu über-
0313treffen. In seiner scrupulösen Genauigkeit ist der Biograph
0314manchmal sogar etwas zu weit gegangen und hat zwischen dem
0315Nothwendigen und dem Unwichtigen nicht streng genug unter-
0316schieden. Was soll uns z.B. die ausführliche, bis zu den Ahnen
0317hinauf verfolgte Biographie der Georg Sand? Nebenbei bemerkt,
0318macht die einseitig harte, fast gehässige Beurtheilung dieser Frau
0319die einzige Ausnahme von der sonst überall waltenden rühmlichen
0320Unparteilichkeit des Verfassers. Ueber die ganze Pariser Zeit
0321Chopin’s, über seinen Aufenthalt in Majorca, in Marienbad, in
0322Leipzig gibt uns Niecks zahlreiche neue Daten. Weniger als der
0323historische dürfte der musikalisch-kritische Theil des Buches befrie-
0324digen. Worin gerade das Neue und Eigenartige der Chopin’schen
0325Musik liegt, weiß uns Niecks nicht klar zu machen, wir lernen
0326darüber weit mehr aus den Aufsätzen von Schumann, Liszt,
0327Ehlert u. A. Trotzdem bleibt Niecks’ Buch eine Arbeit von be-
0328wunderungswürdiger Sorgfalt im Großen und Kleinen. Die
0329deutsche Uebersetzung von Langhans ist treu und fließend, die
0330Ausstattung überaus gefällig.


0331Franz M. Böhme: „Geschichte des Tanzes in Deutsch-
0332land. 2 Bände. (Leipzig bei Breitkopf & Härtel, 1886.)


0333Der Verfasser, der sich bereits durch sein „Altdeutsches Lieder-
0334buch“ einen geachteten Namen erworben, gibt uns in seiner, zum
0335erstenmal nach den Quellen bearbeiteten „Geschichte des Tanzes“
0336einen sehr werthvollen Beitrag zur deutschen Sitten-, Literatur- und
0337Musikgeschichte. Sein Werk zerfällt in einen darstellenden Theil,
0338welcher die Geschichte und Beschreibung der deutschen Tänze vom
0339germanischen Alterthum bis zur Gegenwart enthält, und in einen
0340Band Musikbeilagen mit den Tanzliedern und Tanzmelodien vom
034113. bis zum 19. Jahrhundert. Die meisten Melodien vom 13.
0342bis 17. Jahrhundert sind von Herrn Böhme aus alten Notationen
0343entziffert und hier zum erstenmal veröffentlicht. Es bedarf keiner Aus-
0344einandersetzung, von welcher Wichtigkeit das Werk für den Musiker
0345und für den Culturhistoriker ist. Uebrigens bringt das Buch mehr,
0346als sein Titel verspricht; es behandelt nicht blos die deutschen 
0347Tänze, sondern auch die sehr zahlreichen, welche der Deutsche dem
0348Auslande entlehnt hat. Der Verfasser beklagt diese Entlehnun-
0349gen, die Einführung wälscher und slavischer Tänze. „Hoffentlich,“
0350sagt er, „hat das Tanzen nach der Pfeife anderer Völker für das
0351große, geeinte Deutschland für immer ein Ende!“ Wir können
0352diese sehr chimärische Vermuthung nicht theilen. Abseits von den
0353deutschen Volkstänzen werden unsere Gesellschaftstänze immer mehr
0354oder weniger Modesache bleiben, also niemals vom tonangehenden
0355Auslande unabhängig sein. Ja, der internationale Charakter des
0356Tanzes dürfte mit der fortschreitenden Annäherung der europäischen
0357Völker sich in Hinkunft noch mehr ausprägen, einen noch leb-
0358hafteren gegenseitigen Austausch der Tänze bewirken. Der uns zu-
0359gemessene Raum erlaubt uns leider kein detaillirtes Eingehen auf
0360den Inhalt dieser überaus gründlichen und wertvollen Arbeit;
0361wir müssen uns damit begnügen, Böhme’s „Geschichte des Tanzes“
0362Musikern wie Sittenschilderern auf das wärmste zu empfehlen.

Fußnoten
  • *)Zum Beispiel: Der noch als lebend aufgeführte französische
    Komponist Victor Massé ist bereits im Jahre 1884 gestorben;
    Gluck, der sich als Ordensritter Chevalier Gluck unterzeichnete, hieß
    niemals Ritter „von Gluck“; der berühmte Prager Componist und
    Theoretiker hieß nicht „Tomaczek“, sondern Tomaschek, und hat
    sich nie anders geschrieben; Pauline Lucca hat wol die Afrikanerin,
    aber nicht die Carmen „creirt“; die gegenwärtige Verbesserung der
    Jankó-Claviatur“ rührt nicht von Bösendorfer her, sondern von
    Friedrich Ehrbar.