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Neue Freie Presse
Morgenblatt
Nr. 9611. Wien, Samstag, den 30. Mai 1891

[1]

Jenny Lind. III.

(Schlußartikel.)


0003Ed. H.*) Wie oft machte ich die seltsame Erfahrung,
0005daß selbst die genialsten Künstlerinnen, Sängerinnen von
0006feinstem Gehör für jeden fremden Mißklang, den Niedergang
0007ihrer eigenen Stimme nicht bemerken. Aber daß gerade
0008Jenny Lind, dieses Muster klarer Selbstkenntniß, noch im
0009Jahre 1862 ihre Stimme für unversehrt halten konnte, hat
0010mich überrascht. Vierundzwanzig Jahre waren verflossen
0011seit ihrem ereignißvollen Auftreten als Agathe; sechzehn
0012Jahre seit ihrem ersten Wiener Gastspiel. Besaß sie wirklich
0013keine Erinnerung mehr an den himmlischen Wohllaut ihrer
0014Stimme von damals, oder kein Ohr für die Veränderung,
0015welche in langem Zeitverlauf damit vorgegangen? Wenige
0016Tage vor meinem Besuch bei Jenny Lind hatte ich sie doch
0017in Exeterhall die Sopranpartie in der „Schöpfung“ singen
0018hören. Mit welcher Bewegung harrte ich damals dem Mo-
0019ment entgegen, wo sie heraustreten sollte! Ohne schön zu
0020sein, hat sie doch stets mit der Kraft der Schönheit gewirkt;
0021der Gesang, welcher die dürftigsten Melodien Bellini’s und
0022Donizetti’s idealisirte, schien immer auch einen Heiligenschein
0023um die Sängerin selbst zu zaubern. Sie trat hervor, weiß und ohne
0024Geschmeide, wie sonst. Sie erwiderte den jubelnden Empfang
0025mit einem kurzen, gleichgiltigen Kopfnicken, wie sonst. Allein das
0026ehedem prophetisch leuchtende Auge war glanzlos und müde
0027geworden; um den Mund trieben böse Falten ein unheim-
0028liches Spiel. Nun hebt sie zu singen an, und ich erkenne
0029die Stimme, wie man ein halbverwittertes Bild langsam
0030wiedererkennt. Die Töne kommen schwach und verschleiert
0031hervor, in den hohen kräftigen Stellen mit Anstrengung.
0032Manchmal dringt noch ein vereinzelter Silberton wie ein
0033Strahl durch trübes Gewölk, um, gleichsam erschrocken, schnell
0034wieder zu verschwinden. Was mit solchem Material möglich
0035ist, das freilich erreichte die Lind noch immer, wie keine
0036zweite Sängerin der Welt. An dem Beifall des Publicums
0037konnte sie allerdings noch lange nicht gewahr werden, daß
0038ihre Stimme am Anfang des Endes stand. Das englische 
0039Publicum ist beispiellos in Sachen der Pietät, und in Jenny
0040Lind ehrte es die doppelte Virtuosität: der Kunst und der
0041Wohlthätigkeit. Als ich sie zuletzt im Jahre 1862 hörte,
0042konnte die treffliche Frau mit ihren Tönen noch Schulen
0043und Spitäler erbauen, ihre Hörer kaum mehr.**)


0048Eine aus dem Herzen kommende, großartige Wohl-
0049thätigkeit gehörte zu den schönsten Zügen ihres Charakters.
0050Niemals zuvor oder nachher hat eine Sängerin einen so
0051großen Theil ihrer Einkünfte den Armen zugewendet. Wohl-
0052thun erschien ihr nicht blos als heilige Pflicht, sondern
0053als der schönste Lohn ihrer Arbeit. In dem uns vorliegen-
0054den Verzeichnisse ihrer Theater- und Concertabende von 1848 
0055bis 1850 sind die zu wohlthätigen Zwecken gegebenen mit
0056einem Sternchen bezeichnet. Ein wahrer Sternenhimmel!
0057Und in den späteren Jahren sang sie eigentlich nur noch für
0058die Armen. Wie sie ihr Talent als eine Himmelsgabe er-
0059kannte, so hielt sie es auch für ihre Pflicht, das Erworbene
0060wieder zum Besten der Bedürftigen und Unglücklichen her-
0061zugeben; „was hereingeflossen ist, muß auch wieder heraus-
0062fließen!“ Ihre Wohlthätigkeit war eng verwoben mit ihrer
0063Kunst; sie machte es sogar bei ihrer Verheiratung zu einer
0064Hauptbedingung, daß ihr Mann ihr in der Ausübung ihrer
0065Wohlthätigkeit völlig freie Hand lasse. In allen Städten,
0066wo sie sang, veranstaltete sie eine Aufführung zum Besten
0067des Chor- und Orchester-Personals. Mit ihrem Gelde, zum
0068Theile auf ihre Anregung, sind in Schweden und England 
0069Schulen, Spitäler, Capellen gebaut oder doch wesentlich ver-
0070größert worden.***)


0085Zwei von Jenny Lind herrührende Stiftungen inter-
0086essiren uns besonders durch ihre künstlerische Bestimmung:
0087der „Stipendienfonds für die Erziehung und
0088Unterstützung von Schülern der königlichen
0089Theaterschule in Stockholm
“ im Betrage von
009080,000 Kronen (etwa 88,000 Mark), dann die „Mendels-
0091sohn-Stiftung
“. An Mendelssohn hing Jenny Lind 
0092mit innigster Liebe und Verehrung. Sein Tod war für sie
0093ein furchtbarer, nie verschmerzter Verlust. Am 22. Januar
00941848 schrieb sie an Frau v. Jäger in Wien (die sie ihre
0095österreichische Mutter“ nannte): „Ach, Mutter! welcher
0096Schlag war für mich der Tod von Mendelssohn! es ist
0097Ursache, warum ich so lange still war. Ich konnte die zwei
0098ersten Monate nicht ein Wort aufs Papier setzen, und noch
0099scheint mir Alles wie todt. Nie war mir so glücklich, so
0100erhebend zu Muthe, als wenn ich mit Ihm sprach! und
0101selten waren in der Welt zwei Menschen zu gleicher Zeit,
0102die sich so verstanden und die so sympathisirten
0103wie wir! Wie herrlich und wunderbar sind die Wege
0104Gottes — auf der einen Seite gibt Er Alles, auf der
0105andern nimmt Er Alles weg! So ist das Leben — so
0106sieht es aus.“ Noch zwei volle Jahre nach Mendelssohn’s
0107Tod konnte sie es nicht über sich gewinnen, eines seiner
0108Lieder zu singen. In Gemeinschaft mit einigen seiner intimsten
0109Freunde beschloß sie, Mendelssohn ein Denkmal zu setzen
0110durch Gründung einer Musikschule, welche Mendelssohn’s
0111Namen führen und seine künstlerischen Grundsätze von Lehrer
0112auf Schüler, von Generation auf Generation vererben sollte.
0113Zur Ausführung dieses Planes sollte vorerst eine großartige
0114Aufführung des „Elias“ in Exeterhall dienen. Mendelssohn 
0115hatte den größeren Theil dieses Oratoriums zu einer Zeit
0116componirt, wo er mit Jenny Lind in eifrigem Briefwechsel
0117stand; er hatte auf das genaueste ihre Stimme, ihren Vor-
0118trag studirt und die Sopranpartie im „Elias“ für sie
0119geschrieben. Die aus der epochemachenden Aufführung vom
012015. December 1848 erlöste Summe betrug tausend Pfund
0121Sterling; sie wurde von dem Comité (unter dem Vorsitz
0122von Sir George Smart und Karl Klingemann) auf
0123Zinsen angelegt, die man bis 1856 anwachsen ließ und
0124dann zum Kapital schlug. Nun glaubte das Comité den
0125ersten „Mendelssohn-Schüler“ ernennen zu dürfen. Die Wahl
0126fiel auf den jungen Arthur Sullivan. Auf ihn folgten
0127andere Schüler, welche einzig auf Grund ihrer Begabung [2]
0128gewählt wurden. Das Kapital beläuft sich jetzt auf mehr als
0129zweitausend Pfund Sterling.


0130Sehr eingehend behandeln die Verfasser Jenny Lind’s
0131unerwarteten frühen Rücktritt vom Theater. Was konnte die
0132Künstlerin veranlassen, auf der Höhe ihres Ruhmes, in
0133ihrer vollsten Kraft und Blüthe der Bühne zu entsagen?
0134Man hat seinerzeit verschiedene Vermuthungen darüber aus-
0135getauscht und hauptsächlich auf religiöse Scrupel und geist-
0136lichen Einfluß gerathen. Roger erzählt in seinem „Carnet
0137d’un ténor“, wie er zum letztenmale mit der Lind im No-
0138vember 1848 die „Regimentstochter“ sang. „Geben Sie
0139jetzt gut Acht, Roger,“ flüsterte sie ihm vor dem Schluß-
0140rondo zu, „es sind die letzten Töne, die Sie von mir auf
0141dem Theater hören!“ Roger, ganz bestürzt, konnte es nicht
0142glauben. Und doch war es so. „Sie hat das Leben
0143einer Heiligen geführt,“ sagt Roger, „aber man spricht
0144von einem Bischofe, der ihr trotzdem Scrupel in
0145den Kopf gesetzt hat. Gott möge ihn richten!“
0146Unter dem „Bischof, den Gott richten möge“, ist offenbar
0147der von Norwich gemeint, Dr. Edward Stanley, in dessen
0148Hause die Lind im Juli 1847 wohnte. Aber ihr Entschluß,
0149die Bühne zu verlassen, reicht thatsächlich viel weiter zurück.
0150Schon im Jahre 1845, unmittelbar nach ihren Berliner
0151Triumphen, theilt sie Frau Grote dieses Vorhaben mit
0152und begründet es mit ihrem Widerwillen gegen die „en-
0153tourage“ der Bühne und mit der Ueberreizung ihrer durch
0154das Theaterleben erschütterten Nerven. Aehnliche Aussprüche
0155enthalten ihre Briefe aus den folgenden Jahren. Aus Wien,
0156wo gerade die Lind-Begeisterung „fast bis zur Tollheit
0157reichte“, schreibt sie im Januar 1848 an eine Freundin, die
0158von einem Pariser Engagement gehört haben will: „Was
0159stellst du dir nur vor? Ich nach Paris! Von der Bühne
0160will ich weg
und weiter will ich nichts in der Welt.“
0161Gewissenhaft legen die Biographen die verschiedenen Fäden
0162auseinander, die sich in der Seele der Lind zu jenem Ent-
0163schluß verflochten hatten. Nicht alle scheinen uns von erheb-
0164licher Stärke. Die Sehnsucht nach der Heimat? Aber
0165Jenny Lind hat sich ja nicht in Schweden, sondern in
0166England bleibend niedergelassen! Die Mühsal des Herum-
0167reisens und die Ersättigung an den Ovationen des
0168Publicums? Beides blieb sich ja gleich, seit sie blos als
0169Concertsängerin Deutschland und Amerika bereiste! Was ihr
0170die Bühne verleidet hat, war ohne Zweifel deren „entourage“,
0171die fortwährende Reibung mit kleinlicher Intrigue, Eifer-
0172süchtelei und gemeiner Gesinnung. Ihre ideale Auffassung 
0173der Kunst ward ihr im Theater von diesem Unkraut ärger-
0174lich umwuchert. Jenny’s ideale Auffassung der Kunst, als
0175einer ihr auferlegten göttlichen Mission, hing wiederum mit
0176ihrer tief religiösen Natur zusammen. Eine gewisse protestan-
0177tische Strenge hatte sie schon von ihrer nordischen Heimat
0178mitbekommen — man erinnere sich an den Abscheu ihrer
0179Mutter vor dem Theater — ihr anhaltender Verkehr mit
0180frommen Familien in England that das Uebrige. Die Ver-
0181fasser constatiren, daß der Bischof von Norwich die Lind zum
0182Verlassen der Bühne keineswegs überredet habe, wol aber,
0183daß er und seine Umgebung sie in diesem Entschlusse ein-
0184dringlich bestärkten. Einem Poeten antwortet sie auf die
0185Widmung eines das Drama verherrlichenden Gedichts, „sie
0186sei zu der Erkenntniß gelangt, daß alle auf der Bühne ver-
0187gossenen Thränen falsche Thränen seien; sie habe, unbe-
0188friedigt von ihren Erfolgen, die Bibel aufgeschlagen und
0189dort folgende Worte gelesen: „Mein neu gefundener Herr,
0190der mich zuerst die wahren Thränen vergießen lehrte“.
0191Ihr sublimirtes religiöses Bewußtsein rührt ohne Frage von
0192England her. Und doch hatte sie in Bezug auf die ver-
0193knöcherte Frömmigkeit der Engländer in einer eigenen Herzens-
0194angelegenheit schmerzliche Erfahrungen gemacht. Jenny Lind,
0195die sich längst nach einem häuslichen Familienglück sehnte,
0196hatte sich mit einem jungen englischen Capitän Harris 
0197verlobt. Aber an der pietistischen Strenge des Bräutigams,
0198noch mehr an der religiösen Bornirtheit seiner Mutter,
0199welche das Theater für einen Satanstempel und die Schau-
0200spieler sämmtlich für Teufelspriester erklärte, scheiterte die
0201Verbindung. Obwol sie damals schon entschlossen war, die
0202Bühne zu verlassen, empörte sie doch die Zumuthung, daß
0203sie ihren Beruf, den sie so reinen Herzens gepflegt, als eine
0204Schmach und Erniedrigung ansehen sollte. Ihre Freunde
0205ließen nicht zu, daß im Heiratscontract die vom Bräutigam 
0206geforderte Bedingung aufgenommen werde, Jenny Lind 
0207dürfe nie mehr die Bühne betreten. Diese Möglichkeit sollte
0208ihr doch nicht auf Lebenszeit und für alle Fälle abgeschnitten
0209sein. Der fromme Capitän fand aber eine solche der Frau
0210vorbehaltene Freiheit „unbiblisch“, und so ging die Heirat,
0211für welche schon der Tag festgesetzt war, zurück.


0212Eine andere Verlobung der Lind scheiterte seltsamerweise
0213an dem entgegengesetzten Grunde: der Bräutigam war zu
0214eng mit dem Theater verflochten. Jenny Lind hatte schon
0215vor ihrer Pariser Reise mit einem Sänger des Stockholmer
0216Hoftheaters, Julius Günther, in Opern und Concerten
0217viel zusammen gesungen. Ihre Freundschaft befestigte und 
0218erwärmte sich in der Folge noch zusehends und führte im
0219Jahre 1848 zu einer förmlichen Verlobung. Jenny Lind 
0220reiste nach derselben nach London zurück, wo sie zu Freunden
0221noch voll Begeisterung über diese Verbindung sprach. Allein
0222Günther war, wie gesagt, Tenorist am Stockholmer Theater
0223und sein ganzes Leben mit der Bühne verwoben. Diese Ver-
0224bindung mußte daher engere Bande zwischen ihr und der
0225Theaterwelt herbeiführen, welche sie doch so sehr zu verlassen
0226wünschte. In London gewannen die religiösen Anschauungen,
0227welche ihre englische Umgebung in ihr entwickelte, einen
0228immer größeren Einfluß auf sie; ihr Widerwillen gegen
0229das Theater wurde gesteigert, ihre Zukunftshoffnung getrübt.
0230Günther in dem fernen Stockholm hatte kein Verständniß
0231und keine Sympathie für diese religiöse Strenge. Die An-
0232schauungen und Grundsätze der beiden Brautleute divergirten
0233je länger, je weiter, und so wurde schließlich im October
02341848 die Verlobung mit beiderseitiger Zustimmung auf-
0235gelöst. Erst in dem dritten ihrer Freier hat Jenny Lind „den
0236Rechten“ gefunden: in Herrn Otto Goldschmidt, einem
0237jungen Clavier-Virtuosen und Componisten aus Hamburg,
0238der schon in ihren englischen Concerten mitgewirkt hatte und
0239sie 1851 auf ihrer amerikanischen Tournée als Solo-Pianist
0240und Accompagnateur begleitete. Jenny Lind vermälte sich
0241mit ihm in Boston 1852 und hat sechsunddreißig Jahre
0242lang, bis zu ihrem Lebensende, in glücklichster Ehe an der
0243Seite dieses als Mensch und Künstler hochachtbaren Mannes
0244gelebt.


0245Ist es allzu gewagt, wenn ich zu den Gründen, aus
0246welchen Jenny Lind dem Theater entsagte, mir im Stillen
0247noch einen dazu denke? Ein versteckteres Motiv, das die
0248Biographen gewiß nicht zugestehen und das die Künstlerin
0249selbst vielleicht nur dunkel empfand. Ich meine die geringe
0250Ausdehnung ihres Rollenkreises und die Begrenzung ihres
0251— innerhalb dieser Grenzen gewiß intensiven dramatischen
0252Talents. Die Verfasser sprechen von der dramatischen Kunst
0253der Jenny Lind nur mit schrankenloser Bewunderung, und
0254dies mit Recht bezüglich aller jener Gestalten, welche mit
0255ihrer Natur übereinstimmten, wie Amina, Lucia, Marie,
0256Vielka, Agathe. Einfaches, ungebrochenes Gefühl, träumerisches,
0257zartes Empfinden, heitere Anmuth, auch Hoheit und Würde
0258fanden in ihrer Darstellung den reinsten Ausdruck. Leiden-
0259schaftliche Gluth hingegen in Liebe, Haß, Zorn und Eifer-
0260sucht war ihr nur annähernd erreichbar; ihre weiche, etwas
0261verschleierte Stimme wehrte sich gegen diese Ausbrüche ebenso
0262instinctiv wie die ganze Natur der Lind. Zwei charakteristische [3]
0263Beispiele boten ihre Norma und ihre Valentine.
0264Roger, der in höchster Bewunderung der Lind ausruft:
0265„Welches Glück für mich, daß ich diese seltene Frau studiren
0266kann!“, schreibt über ihre Norma in sein Tagebuch: „Die
0267Casta diva singt sie sehr gut; diese Anrufung des Mondes
0268harmonirt mit ihrem träumerischen deutschen Naturell; aber
0269die Zornausbrüche des liebenden Weibes, der verrathenen
0270Mutter — nein und tausendmal nein! Das ist klein und
0271verzweckt.“****) Für ihre Valentine war es bezeichnend, daß sie
0278bei der Stelle im vierten Act: „ich klammere mich an dich!“
0279den Geliebten kaum zu berühren wagte, während alle be-
0280deutenden Darstellerinnen sich hier in verzweifelter Angst
0281thatsächlich an Raoul „anklammern“, um ihn zurückzuhalten.
0282Schon aus Paris schilderte Jenny Lind in einem Briefe,
0283wie vortrefflich die Rachel „im Zorne“ sei, und fügt hinzu,
0284„aber zärtlich, nein, dazu eignet sie sich nicht. Ich bin ab-
0285scheulich garstig, wenn ich zornig sein muß, aber dafür,
0286glaube ich, wieder besser in der Zärtlichkeit“. Sehr bedeu-
0287tungsvoll ist eine Aeußerung Jenny Lind’s zu A. P. Stanley,
0288dem nachmaligen Decan von Westminster: „sie könne
0289beim Darstellen auf der Bühne ihren Charakter
0290nicht ganz verleugnen; denn wenn sie ihre Individualität
0291zerstöre, so vernichte sie zugleich alles Gute, was an ihr
0292sei, und sie habe es sich zum Grundsatz gemacht, nie solche
0293Leidenschaften darzustellen, welche schlechte Gefühle erwecken
0294könnten. Daher auch ihre von der Grisi so sehr verschiedene
0295Auffassung der Norma. Andererseits werfe sie sich mit ganzer
0296Seele in die Auffassung einer Rolle, welche sie sich nun
0297einmal gemacht. Wenn sie dies nicht thun könne, was ihr
0298ein- oder zweimal begegnet sei, so wäre es ihr, als lüge 
0299sie, und dann hätte sie auch nur Mißerfolg“. Ein Beweis
0300ihrer völligen Identificirung mit ihrer Rolle war, daß die
0301Nachtwandlerin sie so sehr ermüdete, da sie während des
0302Nachtwandelns die Augen nicht bewegen zu dürfen glaubte.
0303In der Scene, wo Amina über den morschen Steg schreitet
0304und die Kerze in die Tiefe fallen läßt, erlaubte Jenny Lind 
0305niemals, daß (wie es überall üblich war) eine gleich gekleidete
0306Stellvertreterin das gefährliche Wagniß bestehe. Nicht als
0307ob sie muthiger gewesen wäre, als andere Darstellerinnen der 
0308Nachtwandlerin — im Gegentheil, sie fürchtete sich jedesmal
0309entsetzlich vor diesem Moment. „Aber,“ sagte sie, „ich würde
0310mich geschämt haben, vor das Publicum zu treten und vor-
0311zugeben, die Brücke überschritten zu haben, wenn ich es
0312nicht wirklich gethan hätte.“ Eine Künstlerin, die mit solcher
0313Inbrunst und Gewissenhaftigkeit in ihren Rollen aufging,
0314mußte nicht nur mehr als Andere davon angegriffen, ja
0315aufgerieben werden, sie mußte auch bald wahrnehmen, daß
0316der Kreis von Opernpartien, in welche sie ihre ganze 
0317Seele und nur ihre Seele zu legen vermochte, ein sehr
0318begrenzter sei. Wie ermüdend, nach Jahren immer und
0319immer wieder nur die Nachtwandlerin, die Regimentstochter,
0320Lucia, Norma und Alice zu singen! In jeder neuen 
0321Rolle, die man ihr vorschlug, mochte aber ihre zunehmende
0322sittliche und religiöse Empfindlichkeit Gefühle entdecken, die
0323sie nicht „lügen“ könne und wolle. Wir begreifen die Wärme,
0324mit welcher die Verfasser an der Norma und anderen
0325Rollen der Lind deren „eigenartige Verklärung und Ver-
0326edlung“ rühmen; aber eigenartige Idealisirung kann mit-
0327unter zur eigenmächtigen werden, die gegen die klare Absicht
0328des Dichters und Componisten streitet. So strenge Wahr-
0329haftigkeit des Charakters erzeugt nothwendig eine Begrenzung
0330des dramatischen Talents, welches Entäußerung der eigenen
0331Persönlichkeit verlangt.


0332Wer sich aus allen diesen Zügen ein klares Bild von
0333dem Charakter der Lind macht, der wird es begreifen, daß
0334gerade sie unter wachsender Theater-Abneigung zu der Ueber-
0335zeugung gelangte, nur als Concert- und Oratorien-Sängerin
0336ganz ihr bestes Selbst geben zu können. Jede dramatische
0337Darstellung wirkt farbiger, kraftvoller, lebendiger als ein
0338Concertvortrag, aber die Eindrücke, die wir von dem Lieder-
0339und Oratoriengesang der Lind bewahren, sind uns nicht
0340weniger theuer. Wir haben speciell in Wien die köstlichsten
0341Erinnerungen an ihre Concerte im Jahre 1854. Eine werth-
0342volle, für den Musiker unschätzbare Beigabe sind die Noten-
0343beispiele, welche Herr Otto Goldschmidt als Anhang zu der
0344Biographie gespendet hat: zwei ihrer originellsten schwedischen
0345Lieder und eine Anzahl eigener Cadenzen und Verzierungen,
0346mit welchen Jenny Lind ihre Lieblingsarien auszuschmücken
0347pflegte. Wer, wie ich, zu den Glücklichen zählt, welche Jenny
0348Lind auf der Bühne, im Oratorium und im Concertsaal in
0349ihrer Blüthe gekannt haben, der wiederholt von ganzem Herzen
0350Mendelssohn’s Ausspruch: Sie war eine der größten Künst-
0351lerinnen, die je gelebt haben, und die größte, die ich kenne.

Fußnoten
  • *)Siehe Nummer 9607 und 9608 der „Neuen Freien Presse“.
  • **)Jenny Lind trat zum letztenmale in einem Wohlthätigkeits-
    Concert im Juli 1883 öffentlich auf; vier Jahre vor ihrem am
    2. November 1887 erfolgten Tode. Sie hat ein Alter von 67 Jahren
    erreicht.
  • ***)Zwischen dem 4. December 1848 und dem 2. Februar 1849,
    einem Zeitraume von weniger als neun Wochen, hatte Jenny Lind 
    in neun Concerten die hohe Summe von 8740 Pfd. St. zur Unter-
    stützung von fünf Hospitälern, der Mendelssohn-Stiftung und des sie
    begleitenden Orchesters gelöst. Wenn wir noch die Einnahme des
    Concerts für das Brompton-Hospital vom vorhergehenden Juli hinzu-
    nehmen, so ergibt sich eine Gesammtsumme von 10.500 Pfd. St.
    (210,000 Mark). In Norwich hatte sie aus dem Ertrage zweier
    Concerte das „Jenny-Lind-Kinderspital“ gegründet und bis zu
    ihrem Tode dafür so ausreichend gesorgt, daß die Anstalt im Jahre
    1890 1230 kranken Kindern außerhalb des Hauses und 257 in den
    Sälen ärztliche Hilfe bieten konnte. Auf ihrer amerikanischen Reise
    hat Jenny Lind der Stadt Newyork allein mehr als 30,000 Dollars
    zu wohlthätigen Zwecken gespendet.
  • ****)Es ist aufgefallen, daß die Verfasser, welche doch Aussprüche,
    Briefe, Tagebuchblätter von so vielen unbekannten und unbedeutenden
    Personen abdrucken, die sehr interessanten Mittheilungen Roger’s 
    gänzlich ignoriren. Auch die höchste charakteristischen Briefe der Jenny 
    Lind an Franz Hauser, die ich zuerst im Jahre 1883 in
    diesen Blättern veröffentlichte, vermissen wir in ihrer Biographie.