Neue Freie Presse
Morgenblatt
Nr. 9707. Wien, Samstag, den 5. September 1891
[1]G. Meyerbeer.
(Zur hundertsten Wiederkehr seines Geburtstages, 5. September 1791.)
0003Ed. H. Wenn Meyerbeer heute von irgend einem Aus-
0004sichtspunkte des Jenseits auf die Erde herabsehen könnte,
0005etwa wie ein Schauspieler an seinem Benefice-Abend durch’s
0006Guckloch späht — ich glaube, ein zufriedenes Lächeln würde
0007sein ernstes, geistvolles Gesicht erhellen. In sämmtlichen
0008Hauptstädten Europas und ringsum in der Provinz würde
0009er Festvorstellungen seiner Opern wahrnehmen, volle Häuser,
0010rauschenden Beifall. Wendet dann der Jubilar von seinem
0011Aussichtssterne den Blick nach der anderen Hemisphäre, so
0012begegnet er demselben Schauspiel, denn die Musikfreunde von
0013Newyork und Mexico, von Rio und San Francisco können
0014sich noch immer nicht satt hören an den Melodien des
0015„Robert“ und der „Hugenotten“, die sie längst auswendig
0016wissen. Die Theater-Directoren sind diesmal nicht in Ver-
0017legenheit, wie sie es bei den Jubiläen von Spontini, Cheru-
0018bini, Méhul, Spohr und Hérold gewesen, deren Opern erst
0019hastig hervorgesucht und neu scenirt werden mußten, sollte
0020das Jubiläum dieser Meister nicht total ignorirt bleiben,
0021was oft genug auch geschah. Meyerbeer’s Opern be-
0022dürfen keiner Wieder-Erweckung, sie sitzen fest in dem
0023Repertoire aller Theater und herrschen da seit ihren ersten
0024Aufführungen ununterbrochen. „Robert der Teufel“, „Die
0025Hugenotten“, „Der Prophet“ haben eine Zahl von
0026Bühnen erobert und eine Summe von Wiederholungen
0027erlebt, wie in gleichem Zeitraume kaum eine andere große Oper.
0028Um nur Wien zu citiren: die „Hugenotten“ (am 19. De-
0029cember 1839 zum erstenmale im Kärntnerthor-Theater ge-
0030geben) sind im Lauf von 50 Jahren (1889) gegen 500mal
0031aufgeführt worden, eine Ziffer, die in Wien überhaupt nur
0032von „Don Juan“, erreicht worden ist. In Paris haben
0033„Robert“ und die „Hugenotten“ bereits die 1000. Auf-
0034führung hinter sich. Eine Popularität wie diese ist ohne
0035Beispiel. „Robert“ versorgt seit 60 Jahren, „Die Hugenotten“
0036beherrschen seit 55 Jahren mit beinahe ungeschwächter Kraft
0037alle Opernbühnen. Und wenn ihre anfangs geradezu unge-
0038heure Wirkung seither doch etwas nachgelassen hat, so ge-
0039schah es eben in Folge dieser gehäuften Wiederholungen. In
0040so langem Zeitverlauf sind die Aufführungen fast überall
0041nachlässiger, schleuderischer geworden, überdies die Haupt-
0042partien nirgends mehr im Besitz so großer Gesangskünstler,
0043so herrlicher Stimmen, wie ehedem. Trotzdem bewähren
0044Meyerbeer’s Opern heute noch ihre alte Zugkraft; „Robert“
0045und „Die Hugenotten“ mit Recht voran, nach ihnen „Pro-
0046phet“ und „Afrikanerin“. Selbst der „Nordstern“ und
0047„Dinorah“ — schwächere Producte Meyerbeer’s in dem
0048ihm fremderen Gebiet der Opéra comique — fehlen kaum
0049in einem Opernhause, das noch die Seltenheit einer glän-
0050zenden, jugendlichen Coloratur-Sängerin besitzt.
0051So könnte denn Meyerbeer durch seinen himmlischen
0052Lug-ins-Land wahrnehmen, daß seine Werke kräftig fortleben
0053vor einem unermeßlichen, ihm mit seltener Anhänglichkeit
0054treu gebliebenen Publicum. Meyerbeer war so glücklich, sich
0055noch bei Lebzeiten durch die glänzendsten Erfolge anerkannt
0056und belohnt zu sehen. Ungetrübt war diese Freude keines-
0057wegs. Man hat dem Mann, welcher persönlich neidlos, be-
0058scheiden und grenzenlos wohlthätig war, seinen Ruhm nach
0059Kräften vergällt. Börne’s Ausspruch, daß Undankbarkeit gegen
0060die eigenen Landsleute im Charakter der Deutschen liege,
0061findet ein starkes Echo in den Erfahrungen Meyerbeer’s. Je
0062wärmer die Franzosen ihn, den Fremden, anerkannten und
0063feierten, desto tiefer glaubte die deutsche Kritik ihn herab-
0064zerren zu müssen. Man neidete ihm Zweierlei: seinen Wohl-
0065stand und seine Erfolge. Was hat man ihm nicht Alles an-
0066gedichtet! Sinnlose Anekdoten, wie die, daß Meyerbeer
0067sämmtliche Orgeln in Paris angekauft habe, damit kein
0068Nebenbuhler diesen im „Robert“ verwendeten Effect nach-
0069ahmen könne, wurden blindlings geglaubt und verbreitet. Am
0070lächerlichsten ist aber die bekannte Lieblingsverdächtigung: Meyer-
0071beer habe seine Erfolge auf Schleichwegen der Reclame und der Be-
0072stechung erreicht. Wer dergleichen für möglich hält, der macht dem
0073europäischen Publicum und seinem eigenen Verstande ein
0074schlechtes Compliment. Reclame und Bestechung können einen
0075äußeren Erfolg für ein paar Theaterabende und in zwei
0076oder drei Städten erschleichen, niemals aber für längere Zeit
0077und über weite Entfernungen hinaus. Man gebe heute einem
0078beliebigen Componisten Millionen zu Bestechungszwecken —
0079wenn seine Oper dem Publicum nicht gefällt, nicht sehr
0080gefällt, so wird sie in kurzer Zeit und innerhalb bescheidener
0081Grenzen verschollen sein. Meyerbeer ist seit 27 Jahren todt;
0082seine Opern wirken aber heute wie zu seinen Lebzeiten, der
0083beste Beweis, daß man nicht von ihm bestochen ist, sondern
0084von seinen Melodien. Meyerbeer war allerdings ein ängst-
0085liches Genies, stets zweifelnd und besorgt um das Schicksal
0086seiner Werke, das hindert nicht, daß diese durch ihren eigenen
0087Gehalt gesiegt und sich über ein halbes Jahrhundert lang
0088wirksam erhalten haben. Die deutsche Journalistik hat Meyer-
0089beer unausgesetzt mit gehässigem Eifer verfolgt; das Publi-
0090cum aber ist ihm treu geblieben, überall, in allen Ländern.
0091Er brauchte keine Meyerbeer-Vereine zu gründen, kein eigenes
0092Meyerbeer-Theater zu erbauen; das ganze Publicum war
0093sein Verein und Europa sein Bayreuth.
0094Zaghafte, nervöse Naturen wie Meyerbeer sind in der
0095Regel sehr empfindlich. Der Schöpfer der „Hugenotten“
0096fühlte schmerzlich jeden Nadelstich der Kritik. Am tiefsten
0097kränkte ihn die verächtlich wegwerfende Kritik Richard Wag-
0098ner’s, den er doch in schwersten Tagen thatkräftig unter-
0099stützt und gefördert hatte. Die Frage der persönlichen Dank-
0100barkeit möge hier gar nicht aufgeworfen, vielmehr willig zu-
0101gestanden werden, daß man Gutes von einem Freunde
0102empfangen und doch seine Werke verfehlt finden könne. Aber
0103ich glaube, daß das Bewußtsein genossener Wohlthaten jedem
0104nicht ganz verhärteten Gemüth von selbst einige Zurückhal-
0105tung im Maß und Ausdruck eines öffentlichen Tadels auf-
0106erlegen müßte. Obendrein wo es sich nicht um eine Abwehr,
0107sondern um einen durch keine Nöthigung motivirten Angriff
0108handelt. Man weiß, daß der junge unbekannte Wagner die
0109Annahme seines „Rienzi“ in Dresden (die seine Anstellung
0110als Hof-Capellmeister zur Folge gehabt) nur Meyerbeer
0111verdankte, desgleichen die Aufführung des „Fliegenden Hollän-
0112der“ in Berlin. „Ohne Meyerbeer hätte ich in Paris mit
0113meiner Frau verhungern können,“ sagte mir wörtlich
0114R. Wagner im August 1846 in Marienbad. Aber gleich auf
0115dieses unbefangene Geständniß folgte eine Fluth von
0116Schmähungen gegen Meyerbeer’s Musik, die nur „eine wider-
0117wärtige Fratze“ sei. Meyerbeer, dem meine jugendliche Neu-
0118gier damals gern ein Wort über Wagner entlockt hätte, sagte
0119nichts weiter als: „Seine Opern gefallen sehr“ und wendete
0120sofort das Gespräch. An Meyerbeer’s Richtung ist viel zu
0121beklagen, in seinen Opern gar Manches zu verwerfen, und
0122meine Leser wissen ganz gut, daß ich für das Raffinirte,
0123Gewaltsame und Geschmacklose darin niemals blind oder
0124nachsichtig gewesen. Aber in der Hauptsache, glaube
0125ich, beurtheilt ihn Wagner falsch und ungerecht. Er
0126sagt nämlich in „Oper und Drama“ (zweite Auflage,
0127Seite 91): „Beachtenswerth ist es vor Allem, daß Meyer-
0128beer diesem Gange der Opernmusik nur immer folgte, nie
0129aber mit ihm, geschweige denn ihm irgendwie vorausging. [2]
0130Er glich dem Staar, der der Pflugschar auf dem Felde
0131folgt und aus der soeben aufgewühlten Ackerfurche lustig die
0132an die Luft gesetzten Regenwärmer aufpickt. Nicht Eine Rich-
0133tung ist ihm eigenthümlich, sondern jede hat er nur seinem
0134Vorgänger abgelauscht.“ Wenn Meyerbeer, keine
0135Originalität besäße, nur Abgelauschtes und Erborgtes wieder-
0136holte, nimmermehr hätten seine Opern eine so gewaltig zün-
0137dende Wirkung machen und bis heute bewahren können.
0138Gerade das Originelle in „Robert“ und den „Hugenotten“
0139hat das Glück dieser Opern begründet. Wer sich der Zeit
0140erinnert, da diese Werke erschienen, dem ist auch das blen-
0141dend Neue, ganz Eigenartige ihres Eindruckes unvergeßlich.
0142Was darin etwa an Weber, Rossini, Auber erinnert, ist ver-
0143schwindend gering gegen das ganz Eigenartige, specifisch
0144Meyerbeer’sche dieser Musik. Niemand würde eine Meyer-
0145beer’sche Oper irgend einem andern Componisten zuschreiben
0146können. Man kann im Gegentheil behaupten, daß Meyerbeer
0147mit „Robert“ und den „Hugenotten“ der modernen großen
0148Oper den Stempel seiner Persönlichkeit aufgedrückt hat.
0149Was auf gleichem Gebiet darauf folgte, und nicht blos in Frank-
0150reich, verräth mehr oder minder die Einwirkung Meyerbeer’s:
0151Halévy’s „Jüdin“, „Guido und Ginevra“, „Karl VI.“,
0152Gounod’s „Faust“ und „Königin von Saba“, A. Thomas’
0153„Hamlet“, Massenet’s „König von Lahore“ und „Cid“,
0154Verdi’s „Sicilianische Vesper“, Donizetti’s „Dom
0155Sebastian“ und „Favorite“. Und nicht auch Wagner
0156selbst? Er hat ganz Recht, wenn er in einem von Demuth
0157und Dankbarkeit triefenden Briefe an Meyerbeer (1842)
0158sich dessen „alleraufrichtigsten Schüler“ nennt; denn nicht
0159blos „Rienzi“ ist eine unverhohlene Nachbildung Meyerbeer’s,
0160auch „Tannhäuser“ würde schwerlich existiren, wenn nie ein
0161Meyerbeer existirt hätte. Vollends unbegreiflich erscheint aber,
0162wie Jemand, sei er dem dramatischen Raffinement Meyer-
0163beer’s noch so sehr abhold, zweifeln könne an dessen großem
0164musikalischen Talent. Wagner aber nimmt keinen An-
0165stand (in „Oper und Drama“, Seite 80), „Meyerbeer’s
0166specifisch musikalische Begabung vollkom-
0167men auf Null zu setzen“! Man braucht nicht
0168einmal die „Hugenotten“ zu kennen, sondern nur „Robert
0169der Teufel“, nur den ersten Act von „Robert der Teufel“,
0170um darüber klar zu sein, daß hier eines der üppigsten
0171musikalischen Talente einen Reichthum an Erfindung ent-
0172falte, wie er zu den größten Seltenheiten gehört.
0173Aber Wagner war nicht immer so schlecht zu sprechen auf
0174Meyerbeer’s Opern. Es existirt ein durchaus von Wagner’s
0175Hand geschriebener Aufsatz von fünf Folioseiten über Meyer-
0176beer, der Alles übertrifft, was der entzückteste französische
0177Kritiker je zum Preise dieses Componisten schreiben konnte.
0178Dieser ganz druckfertige Aufsatz, wahrscheinlich aus dem
0179Jahre 1842, war offenbar für eine Musikzeitung bestimmt.
0180Warum er trotzdem nicht zur Veröffentlichung gelangte, ist
0181unbekannt; schade ist’s jedenfalls. Der Besitzer dieses kostbaren
0182Autograph, Herr Leo Liepmanssohn in Berlin, hat es weis-
0183lich vor der öffentlichen Versteigerung drucken lassen, damit es
0184nicht etwa von liebevoller Hand heimlich angekauft und un-
0185gekannt aus der Welt geschafft werde. Nicht das Gelüfte
0186einer verspäteten Polemik, sondern der Wunsch, gerade an
0187Meyerbeer’s Jubiläum etwas zur Rettung seines Namens
0188beizutragen, veranlaßt mich, den Wagner’schen Aufsatz, von
0189welchem in diesem Blatt bisher nicht die Rede gewesen,
0190hervorzusuchen und einige Hauptsätze daraus mitzutheilen.
0191„Betrachten wir die Erscheinung Meyerbeer’s,“ schreibt
0192R. Wagner, „so werden wir sowol ihrer Tendenz als zumal
0193auch ihren äußeren Zügen nach unwillkürlich an Händel
0194und Gluck erinnert, und selbst ein wesentlicher Theil in
0195der Richtung und Bildung Mozart’s scheint sich hier
0196wiederholt zu haben. Vor allen Dingen ist nie aus dem
0197Auge zu verlieren, daß jene Deutsche waren, wie
0198dieser es ist ... Meyerbeer war so deutsch, daß er
0199bald in die Fußstapfen seiner alten deutschen Vorfahren
0200gerieth; diese zogen mit der vollen Kraft des Nordens über
0201die Alpen und eroberten sich das schöne Italien. Meyerbeer
0202ging nach Italien, er machte selbst die üppigen Söhne des
0203Südens in seinen Tönen schwelgen, und dies war sein erster
0204Sieg. Muß es nicht mit Stolz erfüllen, sich nicht nur das
0205fremde Schöne zu eigen machen zu können, sondern selbst
0206die, denen wir es entnehmen, sich der Veredlung desselben
0207erfreuen lassen zu können? Aber selbst damit sehen wir
0208den deutschen Genius sich noch nicht begnügen, an diesem
0209Siege wollte er ja erst nur noch lernen. Die verschwim-
0210menden, unbestimmten Nebel des Spiritualismus haben sich
0211zu Formen schönen, warmen Fleisches gestaltet, das reine,
0212keusche, deutsche Blut fließt aber in seinen Adern; die Gestalt
0213des Mannes ist fertig und tadellos — nun kann er schaffen
0214und Thaten für die Ewigkeit verrichten ... Es war nun
0215aber Meyerbeer, der diese Manier erweiterte, ja der sie dann
0216zu einer allgemein giltigen classischen Schreib-
0217art erhob. Von gewissen gebräuchlichen und populären
0218Rhythmen und Melismen hat er die moderne Schreibart zu
0219einem grandios einfachen Styl geführt, der den unendlichen
0220Vorzug besitzt, daß er seine Basis in den Herzen und Ohren
0221des Volkes hat — und nicht blos als eine raffinirte Erfin-
0222dung eines neuerungssüchtigen Kopfes vage und ohne
0223Grund und Boden in der Luft herumschwimmt ... Meyer-
0224beer schrieb Weltgeschichte, Geschichte der Herzen und Em-
0225pfindungen, er zerschlug die Schranken der National-Vor-
0226urtheile, vernichtete die beengenden Grenzen der Sprach-Idiome,
0227er schrieb Thaten der Musik, Musik, wie sie vor ihm Händel,
0228Gluck und Mozart schrieben, und diese waren Deutsche und
0229Meyerbeer ist ein Deutscher ... Er hat sein deutsches
0230Erbtheil bewahrt, die Naivetät der Empfin-
0231dung, die Keuschheit der Empfindung. Diese
0232jungfräulich verschönten Züge tiefen Gemüthes sind die
0233Poesie, das Genie Meyerbeer’s; er hat ein unbeflecktes Ge-
0234wissen, ein liebenswürdiges Bewußtsein bewahrt, das neben
0235den riesigsten Productionen oft selbst raffinirter Erfindungen
0236in keuschen Strahlen ergänzt und sich bescheiden als den
0237tiefen Brunnen erkennen läßt, aus dem alle jene imposanten
0238Wogen des königlichen Meeres geschöpft werden.“
0239In diesem Tone geht es in mehr als 300 langen
0240Zeilen fort. Man traut seinen Augen nicht und fragt sich
0241bestürzt: Wie ist es möglich, daß Wagner, wenn er auch nur
0242die Hälfte von seinem Lobesartikel wirklich geglaubt hat,
0243einige Jahre später mit so leidenschaftlicher Gehässigkeit über
0244Meyerbeer herfallen und alles früher Gesagte rundweg in
0245das Gegentheil verwandeln konnte? Wir stehen hier vor
0246einem Räthsel, aber vor keinem schönen. Eine beiläufige Auf[3]-
0247klärung liefert vielleicht Wagner’s Ausspruch: „Es hat etwas
0248tief Betrübendes, beim Ueberblick unserer Operngeschichte nur
0249von den Todten Gutes reden zu können, die Lebenden aber
0250mit schonungsloser Bitterkeit verfolgen zu müssen.“ Das
0251heißt, Wagner wollte nicht blos als der erste, sondern als
0252der einzige Tondichter der Gegenwart gelten. Seine
0253Parteigänger haben sich natürlich nur an das absolute Ver-
0254dammungsurtheil gehalten, das Wagner in dem Aufsatze
0255„Das Judenthum in der Musik“ und in dem Buche „Oper
0256und Drama“ gegen Meyerbeer schleudert. Ihr Haß spru-
0257delt um so heftiger, als sie sehen, daß trotz ihrer Anstren-
0258gungen die „Hugenotten“ noch immer nicht von den „Nibe-
0259lungen“ verdrängt sind und neben „Tristan und Isolde“
0260sogar „Robert der Teufel“ ein fröhliches Dasein führt. Die
0261von Wagner anbefohlene „schonungslose Bitterkeit“ wird von
0262seinen Anhängern mit einem Eifer bethätigt, der erheiternd
0263wirken müßte, wäre er nicht gar so häßlich. So wurde bei-
0264spielsweise ein vielversprechender junger Tenorist von seinen
0265Wagner’schen Freunden veranlaßt, in seinem Engagements-
0266Contracte auf die Clausel zu dringen, daß er niemals ver-
0267halten werden dürfe, in einer Meyerbeer’schen Oper mitzu-
0268wirken! Dieser Künstler, der französischen Opern von Gounod
0269und Massenet seine besten Erfolge verdankt und für Rollen
0270wie Raoul und Robert wie geschaffen ist, mußte sich gegen
0271seinen eigenen Vortheil urkundlich verbarricadiren, blos um
0272als Wagnerianer seinen Haß gegen Meyerbeer zu bezeugen.
0273Solchen Parteibestrebungen gegenüber bietet das Ver-
0274halten des Publicums und der Theater-Directionen bei der
0275Centennarfeier Meyerbeer’s einen erfreulichen Anblick. Sie
0276beide wissen, daß sie dem Schöpfer der „Hugenotten“ zu
0277Dank verpflichtet sind, und freuen sich, dies laut und herzlich
0278zu documentiren. Gerne feiern wir heute das Gedächtniß
0279eines Meisters von ebenso glänzendem Talent wie außer-
0280ordentlichem Kunstverstand, welcher durch die Verschmelzung
0281reizendster Melodienfülle mit packendem dramatischen Leben
0282ein halbes Jahrhundert lang mächtig auf die Gemüther aller
0283Nationen gewirkt hat. Die heutige Feier gibt Zeugniß von
0284der ganz einzig dastehenden Popularität der Meyerbeer’schen
0285Opern, deren letztes Stündlein gewiß noch lange nicht ge-
0286schlagen hat.