Neue Freie Presse
Morgenblatt
Nr. 9794. Wien, Dienstag, den 1. December 1891
[1]Die Mozart-Feier.
0002Ed. H. Ganz Deutschland begeht jetzt mit festlichen Auf-
0003führungen Mozart’scher Werke die hundertste Wiederkehr
0004seines Todestages. Wien steht voran in reichlichster Vertre-
0005tung sämmtlicher Kunstgattungen, welche der universellste
0006aller Tondichter gepflegt und gehoben hat. Das Hofopern-
0007theater feiert in chronologischem Cyklus den dramatischen
0008Tondichter, die Gesellschaft der Musikfreunde und das Phil-
0009harmonische Concert den Kirchencomponisten und Sympho-
0010niker, drei Quartettvereine (Rosé, Hellmesberger, Winkler)
0011wetteifern in der Ausführung seiner schönsten Kammermusiken.
0012Sänger und Virtuosen endlich treten hinzu und vervollstän-
0013digen sein Wirken auf der Orgel, auf dem Clavier und im
0014einfachen Liede. Wie man im Jahre 1856 allerwärts den
0015hundertsten Geburtstag Mozart’s festlich beging, so erinnert
0016man sich jetzt des Tages, der uns den Meister für immer
0017entriß. Jeder Gedenktag ist gut und heilig, der uns Mozart
0018in die Arme führt und uns seine Größe zum Bewußtsein
0019bringt. Freilich ist’s ein Trauertag, und einer der schmerz-
0020lichsten, den wir am 5. December feiern. Wir stehen dies-
0021mal im Schatten jenes Glücksgefühls, dass beim Mozart-
0022Jubiläum von 1856 alle Herzen sonnig durchströmte. Dort
0023der Anfang, hier das Ende. Welcher Götterfrühling,
0024diese Kindheit Mozart’s, mit der wunderbar schnellen Ent-
0025wicklung seines Genies, seinen frühen Triumphen, seinen
0026stolzen Hoffnungen! Er hat wahrlich Alles gehalten, was
0027er versprach; ihm aber hielt das Leben nicht, was er er-
0028warten, was er fordern konnte. Es war das Schicksal des
0029in der Jugend Vergötterten, daß mit dem Wachsen seines
0030Genies der Antheil der Zeitgenossen nicht gleichfalls wuchs,
0031sondern abnahm und den größten Tondichter auf der Höhe
0032seiner Meisterschaft arm und verkannt sterben ließ. Indem
0033wir jetzt hundert Jahre zurückblicken, ziehen die düsteren
0034Bilder von Mozart’s letzter Lebenszeit an uns vorüber.
0035Müde, überangestrengt, bedrückt von Sorgen um das tägliche
0036Brot, sank er auf das Krankenlager, das nach 15 Tagen
0037sein Todesbett wurde. Die letzten zehn Jahre, die frucht-
0038barsten, glorreichsten für seine Kunst, waren die drückendsten
0039für ihn selbst. Im Jahre 81 schrieb Mozart die erste seiner
0040reifen, epochemachenden Opern: „Idomeneo“; im Jahre
004191 schuf er seine letzte Oper, „Die Zauberflöte“, und
0042that seinen letzten Athemzug. In diesen kurzen Zeit-
0043raum von zehn Jahren hat er den unerschöpflichen Reich-
0044thum seiner großen Schöpfungen zusammengedrängt.
0045Die unheilvolle Wendung in Mozart’s Leben beginnt eigent-
0046lich mit seiner Verheiratung in Wien. Sie führte das Zer-
0047würfniß mit seinem Vater herbei, machte ihn als Künstler
0048abhängig von Verlegern und Gönnern und veranlaßte die
0049fortan steigenden Geldverlegenheiten, welche einer voreiligen
0050Heirat und anwachsenden Kinderzahl schnell zu folgen
0051pflegen. Ueberdies war seine so zärtlich geliebte Constanze
0052schwerlich die Frau, die man einem Mozart wünschen
0053mochte; nicht nur besaß sie kein rechtes Verständniß für
0054seine künstlerische Bedeutung, ihr fehlte auch der praktische
0055Sinn und die energische Hand, welche einem so schwankenden
0056Hauswesen noththat.
0057In seiner „Festschrift zur Mozart-Centenarfeier 1891“
0058veröffentlicht der um die Mozart-Forschung vielfach verdiente
0059Director Joh. Ev. Engl in Salzburg drei bisher unbe-
0060kannt gebliebene Briefe Mozart’s aus dessen letzter Zeit.
0061Sie sprechen von schwerer finanzieller Bedrängniß. Aber
0062stets weiß Mozart diese trüben Mittheilungen an seine Frau
0063durch heitere tröstliche Ausblicke und zärtliche Spässe zu er-
0064hellen! Er schreibt ihr (October 1790) aus Frankfurt a. M.,
0065wo er eben ein erfolgloses Concert gegeben, er werde
0066gleich nach seiner Rückkehr durchaus nicht im Stande sein,
0067800 oder 1000 fl. an seine Gläubiger abzuzahlen, doch
0068wolle er in Wien fleißig arbeiten und Lectionen geben.
0069„Suche nur meinen Vorsatz, Scolaren zu nehmen, bekannter
0070zu machen!“ Das echt Mozart’sche Postscriptum lautet:
0071„Als ich dir einige Seiten schrieb, fiel mir auch manche
0072Thräne auf’s Papier; nun aber lustig, — fange auf — es
0073fliegen viele Busserl herum!“ Das unglückliche Stunden-
0074geben, welche Qual für Mozart! Er verlangte für eine
0075Lection einen halben Ducaten, damals etwas über zwei Gul-
0076den. Mehr als drei oder vier Lectionen konnte er aber nicht
0077annehmen und bekam oft diese nicht. Der uralte Hofcapell-
0078meister und ehedem beliebte Operncomponist Gyrowetz,
0079den ich als Student manchmal besuchte, erzählte mir, wie
0080er am Tag vor seiner Abreise nach Italien Mozart auf dem
0081Stephansplatze begegnet und sich von ihm verabschiedet habe:
0082„O, Sie Glücklicher,“ rief Mozart schmerzlich aus, „der Sie
0083nach Italien reisen! Könnte ich doch mit! Aber ich muß
0084hier herumlaufen und Lectionen geben für’s tägliche Brot.“
0085Was Mozart damals wünschte und anstrebte, war „ein gutes
0086Engagement an einem Hofe“. Aber Kaiser Leopold II. gab
0087seinem Ansuchen um die zweite Hofcapellmeister-Stelle nicht
0088statt, sondern verlieh sie dem Salieri. Auch wurde Mozart weder
0089zu Hofmusiken geladen, wie Salieri, Haydn, die beiden
0090Stadler, noch zur Kaiserkrönung nach Frankfurt. Die auf
0091eigene Faust unternommene Kunstreise nach Frankfurt brachte
0092nichts ein, ja sie häufte neue Schulden zu den alten. Dem
0093braven Kaufmanne Puchberg, der ihm wiederholt mit Dar-
0094lehen aushalf, schuldete Mozart bereits über 2000 Gulden.
0095Vielleicht war er überdies in den Händen von Wucherern.
0096Auch dem Versatzamt blieb er nicht fern; vor der Reise
0097nach Frankfurt mußte er sein ganzes Silbergeräth versetzen.
0098Noch im Mai 1791 hatte er sich um die unbesoldete
0099Adjunctenstelle an Seite des alten Capellmeisters Hofmann
0100in der Stephanskirche beworben, blos um eventuell die An-
0101wartschaft auf dessen Amt zu bekommen. Aber der hochbetagte
0102Domcapellmeister überlebte den 36jährigen Adjuncten.
0103Unter so drückenden Verhältnissen neigte sich Mozart’s
0104Leben seinem Ende zu. Lange sehen wir sein glückliches
0105Temperament, seinen natürlichen Frohsinn vorhalten. Erst
0106mit der unheimlichen Bestellung des Requiems versagte sein
0107sanguinisches Naturell und schlug plötzlich in tiefe Melancholie
0108um. Im April 1787 hatte Mozart an seinen von schwerer
0109Krankheit genesenen Vater geschrieben: „Da der Tod, genau
0110zu nehmen, der wahre Endzweck unseres Lebens ist, so habe
0111ich mich seit ein paar Jahren mit diesem wahren, besten
0112Freunde des Menschen so bekannt gemacht, daß sein Bild
0113nicht allein nichts Schreckendes mehr für mich hat, sondern
0114sehr viel Beruhigendes und Tröstendes.“ Auf Grund dieser [2]
0115Briefstelle wird hie und da behauptet, Mozart habe den Tod
0116mit heiterer Ruhe erwartet. Wie wäre es aber denkbar, daß
0117ein lebensfroher Mensch wie Mozart in der Vollkraft
0118seiner Jahre und seines Schaffens, an der Seite einer
0119jungen Frau und zweier kleiner Knaben, den Tod als
0120etwas Tröstliches, ja nur Gleichgiltiges ansehen konnte!
0121Es war auch nicht so. Die anhaltende, tiefe Melancholie, aus
0122welcher seine Freunde und Constanze ihn während der letzten
0123Monate nicht zu reißen vermochten, was war sie Anderes,
0124als Todesahnung, Todesfurcht? In einem (wahrscheinlich
0125an L. da Ponte gerichteten) italienischen Briefe schreibt
0126Mozart: „Mein Kopf ist wie zerstückt, meine Kraft gelähmt,
0127und das Bild jenes Unbekannten (der das Requiem bestellte)
0128steht immer vor meinen Augen. Ich sehe ihn beharrlich, wie
0129er mich bittet, antreibt und ungeduldig die Arbeit abverlangt.
0130Ich fühle nur allzusehr: „Die Stunde schlägt“, mit mir
0131dauert es nicht mehr lange — ehe ich von meinem Leben
0132einen entsprechenden Nutzen ziehen konnte, stehe ich am Ziele
0133— und doch — das Leben war so schön.“ Wie klingt
0134das wahr und tief heraus, aus schwer bedrücktem Herzen!
0135Ja, Mozart war wol der Letzte, der auf das Anpochen des
0136Sensenmannes mit ruhiger Heiterkeit „Herein!“ rufen mochte.
0137Vielmehr bestätigt er den Ausspruch La Rochefoucauld’s: „Tout
0138homme, qui sait voir la mort, telle qu’elle est, trouve que
0139c’est une chose épouvantable.“
0140Irrig ist auch die viel verbreitete Meinung, Mozart’s
0141Zeitgenossen seien gleich nach seinem Tode zum Bewußtsein
0142ihrer Indolenz und Ungerechtigkeit gekommen. In diesem
0143Falle wäre schon das armselige Leichenbegängniß, die Gleich-
0144giltigkeit gegen seine alsbald unauffindbare Grabstätte, endlich
0145die jahrelange klägliche Dürftigkeit seiner Frau und Kinder
0146nicht denkbar gewesen. Mozart’s Hinterlassenschaft betrug
0147sechzig Gulden, seine sämmtlichen Habseligkeiten wurden auf
0148nicht ganz vierhundert Gulden, seine Schulden auf drei-
0149tausend Gulden geschätzt. Kaiser Leopold II. bewilligte zwar
0150für Mozart’s Witwe eine Pension von zweihundertfünfzig
0151Gulden, daß er aber die Schulden bezahlte, wie wir soeben
0152in einem neuen Mozart-Artikel lesen, ist ungenau. Er hat
0153nur reichlich beigesteuert zu dem Concert, welches die Witwe
0154im Saale des Hof-Traiteurs Jahn in der Himmelpfortgasse
0155veranstaltete. Auch später noch, bis zu ihrer zweiten Verhei-
0156ratung mit dem russischen Staatsrathe Nissen, gab Constanze
0157in verschiedenen Städten Akademien zum Besten der Familie,
0158wobei ihr kleiner Sohn Wolfgang Lieder aus der „Zauber-
0159flöte“ sang. Aber nicht blos gegen Mozart’s Familie, auch
0160gegen seine Werke blieb man noch lange Zeit gleichgiltig.
0161Als die Witwe Mozart’s einen Clavierauszug von „Ido-
0162meneo“ nach der Original-Partitur auf Pränumeration an-
0163kündigte, meldete sich — Niemand. Auch mit dem letzten
0164Clavier-Concert von Mozart (Nr. 17 B-dur), dessen Heraus-
0165gabe sie nicht aus eigenen Mitteln bestreiten konnte, hatte die
0166Witwe den gleichen entmuthigenden Erfolg.
0167Das sind unsäglich traurige, beschämende Erinnerungen.
0168Aus dem niederdrückenden Gefühle derselben erhebt uns nur
0169die Wahrnehmung, daß jetzt die Nachwelt an Mozart’s Wer-
0170ken gutzumachen sucht, was seine Zeitgenossen an ihm selbst
0171gesündigt. Ein Fest, wie das von ganz Europa gefeierte
0172Don-Juan-Jubiläum (1887) ist in der gesammten
0173Kunstgeschichte ohne Beispiel. Und jetzt wetteifern die Opern-
0174bühnen, die großen und kleinen Concert-Institute in der
0175würdigen Vorführung der Werke unseres Tondichters.
0176Es ist eine Art großartiger Mozart-Ausstellung, wo-
0177mit heute die musikalische Welt die hundertste Wie-
0178derkehr seines Todestages in ernster Feier begeht.
0179Die Philharmoniker machten den Anfang mit einem Concert,
0180das Hofcapellmeister Hanns Richter aus Mozart’schen Wer-
0181ken sinnreich zusammengestellt hatte. Die „Maurerische
0182Trauermusik“ leitete mit ihrer schwermüthigen Feierlichkeit
0183in die dem Gedenktage entsprechende Stimmung und er-
0184innerte zugleich an die humanen und freisinnigen Bestrebun-
0185gen Mozart’s als Mitglied des Freimaurer-Ordens. Es ist
0186eine Gelegenheits-Composition zu der in der Loge „zur ge-
0187krönten Hoffnung“ abgehaltenen Trauerfeier für zwei Frei-
0188maurer-„Brüder“; eine Klage von schlichtem, ungesucht
0189würdevollem Ausdrucke. Die tiefen Grabestöne der Basset-
0190hörner und des Contrafagotts verstärken die düstere Färbung
0191dieses Adagios, dessen charaktervolle Klangschönheit wir übri-
0192gens höher stellen, als ihren musikalischen Ideengehalt. Eine
0193zweite kürzere Instrumental-Composition von Mozart, Adagio
0194und Fuge in C-moll, kam im Philharmonischen Concert zur
0195ersten Aufführung. Mozart hatte diese Composition, ein
0196großes Meisterstück in kleiner Form, ursprünglich für zwei
0197Claviere geschrieben, dann erst für das Streichquartett gesetzt.
0198In dem richtigen Gefühle, daß sein ungemein energischer
0199Charakter eine stärkere Tonfülle verlangt, läßt H. Richter
0200das Stück vom ganzen Streichorchester spielen. Freilich werden
0201sich wenige Orchester finden, welche das kunstvolle Stimmen-
0202gewebe dieser Fuge mit solcher Klarheit auszuführen ver-
0203möchten, wie unsere Philharmoniker. Der Applaus nach dieser
0204Leistung steigerte sich zum Jubel nach jedem Satze der
0205Es-dur-Symphonie, diesem Ideal an Grazie, Wohl-
0206laut und unaufdringlicher contrapunktischer Kunst. Mit be-
0207sonderer Freude begrüßten wir Mozart’s letztes Claviercon-
0208cert (B-dur, Nr. 17), das in Wien wahrscheinlich nicht ge-
0209hört worden ist, seit Mozart selbst es in einer seiner Aka-
0210demien spielte. Es ist ein überaus freundliches, klangschönes
0211Werk, aus dem zwar nicht der volle Gedankenreichthum,
0212aber doch die ganze Liebenswürdigkeit und heitere Anmuth
0213seines Schöpfers ausklingt. Das Rondo hat dasselbe Thema
0214wie Mozart’s zur selben Zeit (Januar 1791) für eine
0215Kinderzeitschrift componirtes Lied: „Komm lieber Mai und
0216mache die Bäume wieder grün“, das sich noch im Munde
0217der Kinder erhalten haben soll. Fräulein Marie Bau-
0218meyer, vom Publicum mit herzlichem Applaus begrüßt,s
0219zeigte sich da als vollendete Mozartspielerin. Das dünkt wol
0220unserer heutigen Clavier-Artillerie nichts Besonderes und ist
0221doch bereits eine rechte Seltenheit. Die modernen Virtuosen
0222verschmähen Mozart, denn er hilft ihnen nicht, das Publicum
0223zu verblüffen. Aber Mozart spielen, wie er gespielt sein will,
0224ist eine Kunst für sich, die neben anderen Tugenden
0225noch die seltenste verlangt: künstlerische Bescheidenheit.
0226In Fräulein Baumeyer sehen wir den unvergeßlichen
0227Mozart-Vortrag ihres Meisters Julius Epstein neu aufleben.
0228Einer Künstlerin, welche allerschwierigste Aufgaben, wie [3]
0229Brahms’ D-moll-Concert, tadellos bewältigt, steht es dop-
0230pelt schön, wenn sie ein Mozart’sches Concert mit voller
0231Hingebung spielt, ohne mit eigenen virtuosen Cadenzen für
0232ihre Eitelkeit zu sorgen. Fräulein Baumeyer begnügte sich
0233pietätvoll mit den von Mozart selbst hinzucomponirten Ca-
0234denzen, welche über eine geläufige Scalentechnik, Arpeggien
0235und etliche Triller nicht hinausgehen. Mit ihrem schönen,
0236singenden Anschlag, ihrem perlenden Passagenspiel, vor Allem
0237mit ihrer feinen musikalischen Empfindung, die nirgends zu
0238viel oder zu wenig thut, hat Fräulein Baumeyer dem
0239Mozart’schen Concert zu einer Wirkung verholfen, welche man
0240ihm kaum zugetraut hätte.
0241Schade, daß sich immer erst ein Jubiläum einstellen
0242muß, damit man ein Mozart’sches Concert zu hören be-
0243komme. Diesem Gedanken entstammt eine eben erschienene
0244sehr beherzigenswerthe Schrift von dem Director der Leipziger
0245Gewandhaus-Concerte, Professor Karl Reinecke: „Zur
0246Wiederbelebung der Mozart’schen Clavierconcerte.“ Seit
0247Ferdinand Hiller todt ist und Clara Schumann nicht
0248mehr öffentlich auftritt, hat Karl Reinecke als Mozartspieler
0249keinen Rivalen in ganz Deutschland. Er ist wie kein Zweiter
0250dazu berufen, über Auffassung und Ausführung Mozart’scher
0251Claviermusik ein gewichtiges Wort zu sprechen. Für die Ver-
0252nachlässigung der Mozart’schen Clavierconcerte will er weder
0253das Publicum noch die Virtuosen allein verantwortlich
0254machen. Es müsse doch einige Schuld auch an den Clavier-
0255concerten selbst liegen. „Gewiß,“ sagt Reinecke, „bieten sie
0256dem Spieler Gelegenheit, durch seine Vortragskunst und Ge-
0257läufigkeit zu glänzen — aber nicht genügend, weil
0258Mozart nach damaligem Branche Manches (um nicht zu
0259sagen Vieles) in seinen Concerten nicht so aufschrieb, wie er
0260selbst es spielte und wie er es von Anderen gespielt haben
0261wollte, sondern Vieles nur in Umrissen gab, die auszu-
0262führen von dem Spieler verlangt ward.“ Zu
0263Mozart’s Zeiten war dem Concertspieler eine viel größere
0264Selbstständigkeit eingeräumt, als heutzutage der Fall ist.
0265Schon der allgemeine Brauch der „Cadenz“ beweist es;
0266desgleichen der Umstand, daß Mozart in seinen Cla-
0267vierconcerten fast kein einziges Vortragszeichen auf-
0268schreibt, während er seine Compositionen für Clavier
0269allein meistens sehr genau bezeichnet. Aber nicht allein
0270die sogenannte große Cadenz vertraute Mozart dem Spieler
0271an; er verlangte von ihm auch, daß er die kleinen Ueber-
0272gänge vor der Wiederkehr eines Hauptthemas, wenn diesem
0273eine Fermate vorherging, nach selbstständiger Empfindung
0274hinzufüge. Letzteres beweist eine Anzahl Blättchen seiner
0275eigenen Handschrift, welche lauter derartige „Eingänge“, wie
0276Mozart sie nannte, enthalten und welche dem Verfasser im
0277Autograph vorliegen. Mozart hat dieselben muthmaßlich für
0278seine Schüler und Schülerinnen, die Derartiges nicht selbst
0279erfinden konnten, aufgeschrieben — ein Beweis, daß er an
0280solchen Stellen kleine Ueberleitungen zum Thema verlangte.
0281Reinecke citirt auch in Notenbeispielen Stellen aus Mozart’schen
0282Concerten, Tacte und Perioden von solcher Dürftigkeit, wie
0283man deren in seinen übrigen Werken nirgends findet und
0284die Mozart gewiß nicht so gespielt hat, noch so gespielt haben
0285wollte, wie er sie notirte. Auffallend ist ferner, daß
0286Mozart in seinen übrigen Clavierwerken fast ausnahmslos
0287die langsameren Themen und Cantilenen (wenn sie öfter
0288als zweimal auftreten) bei jedesmaliger Wiederkehr mit
0289den mannigfaltigsten melismatischen Varianten ausstattet,
0290während dies in seinen Concerten fast nie der Fall ist. Da
0291bringt er die Gesangsthemen der langsamen Sätze vier- bis
0292fünfmal gänzlich unverändert. Offenbar sollte da der Spieler
0293selbstschöpferisch auftreten. Ph. Emanuel Bach, unter dessen
0294Einfluß doch auch Mozart unleugbar stand, schreibt in einer
0295Vorrede: „Das Verändern beim Wiederholen ist heutzutage
0296unentbehrlich. Man erwartet solches von jedem Ausführer.“
0297Wo und wie der Spieler solche Veränderungen, Verzierungen,
0298Verstärkungen vorzunehmen habe, welche — ohne dem Styl
0299der Composition zu widersprechen — deren Wirkung erhöhen,
0300darüber gibt Reinecke’s Schrift die klarsten und detaillirtesten
0301Nachweise. Möge sie recht viele Leser von künstlerischer Ein-
0302sicht finden — dann werden Reinecke’s Bemühungen um die
0303„Wiederbelebung der Mozart’schen Clavierconcerte“ nicht frucht-
0304los bleiben.