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Neue Freie Presse
Morgenblatt
Nr. 10020. Wien, Sonntag, den 17. Juli 1892

[1]

Vom Théâtre Français. I.

Regnier und Talma.


0003Ragatz, im Juli.
0004Ed. H. Während unsere Wiener Freunde im Aus-
0005stellungs-Theater die Künstler der Comédie Française be-
0006wunderten, war es mir wenigstens vergönnt, mich hier in
0007den Gartenanlagen des herrlichen „Quellenhofs“ literarisch
0008damit zu beschäftigen. Ich that es an der Hand eines kürz-
0009lich erschienenen Buches von P. Regnier („Souvenirs
0010et Études de Théâtre“), das mich nicht allein durch den
0011Stoff, sondern auch durch die Persönlichkeit seines Autors
0012anlockte. Vor etwa 15 Jahren hatte ich das Vergnügen,
0013Herrn Regnier kennen zu lernen, der nach vierzigjähriger
0014rühmlicher Thätigkeit am Théâtre Français noch als Lehrer
0015am Conservatorium wirkte. Ein kleiner Kreis intim befreun-
0016deter Schriftsteller und Künstler in Paris versammelte sich
0017damals regelmäßig einmal im Monat zu einem zwanglosen
0018Diner. Von meinem Freunde Szarvady dort eingeführt,
0019kam ich zwischen Labiche und Regnier zu sitzen, also
0020zwischen übersprudelndem Witz und ruhiger magistraler
0021Würde. Labiche, einer der unerschöpflichen Lustspiel-
0022dichter, um welche wir Frankreich beneiden könnten,
0023war auch im Gespräch voll heiterer guter Ein-
0024fälle. Als Alexander Dumas, sein Vis-à-Vis, ihm
0025einige im Salon ausgestellte Bildhauerwerke rühmte, ent-
0026gegnete Labiche: „Lassen Sie mich in Ruhe mit der ganzen
0027Plastik! Was ist das, die Plastik? Leute, die sich nackt aus-
0028ziehen, um Flöte zu blasen.“ Das brachte selbst den ernst-
0029haften Regnier zum Lachen. Eine Art Oberster Gerichtshof
0030in allen Fragen der correcten Aussprache und Declamation,
0031galt Regnier zudem als lebendiges Nachschlagebuch der Geschichte
0032des französischen Theaters. Er rühmte sich lächelnd, der
0033Alterspräsident aller französischen Schauspieler zu sein, viel-
0034leicht nicht seinen Jahren, aber seinem ersten Debüt nach.
0035Dieses hatte thatsächlich im Jahre 1811 stattgefunden.
0036Regnier war damals vier Jahre alt und verdankte seine 
0037erste Rolle der Geburt des Königs von Rom.
0038Hundert und Ein Kanonenschuß verkündeten, daß die Kaiserin
0039Maria Louise eines Sohnes genesen sei. Ein Sohn!
0040Ein Prinz! Vive l’Empereur ! Die Leute umarmten sich
0041jubelnd auf den Straßen. Frankreich und die Dynastie
0042Napoleon’s waren gerettet, gesichert für alle Zeiten! Neun
0043Jahre später, 1820, wieder 101 Kanonenschüsse, derselbe
0044Enthusiasmus: ein Knabe! ein Prinz! Der neugeborene
0045Sohn der Herzogin von Berry befestigt für immer den
0046Thron der Bourbons; so sangen die Poeten Victor Hugo 
0047und Lamartine, so jubelte das Volk. Und wieder 45 Jahre
0048später hört Regnier abermals die 101 Kanonenschüsse, das
0049Jubelgeschrei: ein Sohn! ein Erbe! und daß der Thron
0050Louis Napoleon’s feststehe in Ewigkeit! Und was war
0051das Schicksal dieser unter tumultuarischen Freudenrufen des
0052Volkes geborenen Prinzen? Das Exil und der Tod in
0053fremden Landen.


0054Zur Feier der ersten dieser drei Entbindungen, der von
00551811, hatte ein gewisser Rougemont ein Gelegenheitsstück
0056gedichtet: „Der Olymp. oder Paris, Rom und Wien“, eine
0057Verherrlichung Napoleon’s I. als Eroberer, Gesetzgeber, Gatte
0058und Vater. In der Schlußscene erschien sein Erbe, um-
0059geben von der Weisheit, der Stärke und dem Sieg. Für
0060diese kleine, aber hochwichtige Rolle suchte man ein wohl-
0061genährtes Kind mit rothen Backen und einem den künftigen
0062Helden verrathenden kecken Gesichtchen. Das Söhnlein der Schau-
0063spielerin Madame Regnier wurde dafür ganz passend gefunden
0064und genau unterrichtet, wie es sich zu benehmen habe. Wie
0065überglücklich war der Knirps, als man ihm statt seines Hemdchens
0066eine flitterbesetzte weiße Tunica anzog, darüber einen Purpur-
0067mantel und auf dem Kopfe eine goldene Krone! Bei der Probe
0068zeigte er sich sehr anstellig in seiner Rolle: er hatte auf dem
0069Throne, einem Sammtfauteuil, aufrecht zu stehen, die linke
0070Hand an der Hüfte, mit der rechten ein Scepter empor-
0071haltend. In eigensinnigem Eifer verharrt aber der Kleine
0072schon lange vor dem Aufziehen des Vorhanges in dieser
0073Stellung; er ermüdet während der Scene und läßt das
0074Scepter fallen. Zwei Hofdamen sollen ihn die Stufen des
0075Thrones herabführen; dazu fühlt er sich jedoch zu groß, zu
0076stolz; er will durchaus allein gehen, wehrt sich heftig gegen 
0077die Hofdamen, verwickelt sich in seinen Purpurmantel und
0078— unter lautem Gelächter des ganzen Hauses kollert der
0079König von Rom bis vor den Souffleurkasten. Seine Mutter,
0080als Minerva an seiner Seite postirt, hebt ihn auf, aber be-
0081schämt, verwirrt, vermag er sich kaum auf den Beinchen zu
0082erhalten. Zum Unglück fühlt er auch einen prickelnden
0083Schmerz auf der Haut von den Goldflittern seiner Tunica
0084und beginnt sich heftig zu kratzen. Neues Jubelgelächter im
0085Publicum. „Unglückliches Kind,“ ruft ihm die Mutter mit
0086fast erstickter Stimme zu, „willst du endlich aufhören?“ —
0087„Ich kann nicht, ich kann nicht,“ schreit der Kleine weinend
0088und kratzend, „ich habe einen Floh!“


0089So endete das erste Debüt Regnier’s. Obwol schon
0090mit vier Jahren auf die Bühne gestellt, sollte er doch
0091keineswegs zum Theater gehen. Seine Mutter, selbst Schau-
0092spielerin, war zu tief durchdrungen von der Gefährlichkeit
0093und den Täuschungen dieses so verlockenden Berufs. Ihre
0094Meinung theilen sehr viele Schauspieler unserer Zeit, welche,
0095trotz ihrer eigenen glänzenden Erfolge, die Kinder dennoch
0096mit aller Kraft von der gleichen Laufbahn abhalten. Ein
0097merkwürdiges Beispiel ist der große englische Schauspieler
0098Macready, Vater von neun Kindern, von denen kein
0099einziges ihn jemals hat spielen sehen. Er fürchtete, der An-
0100blick seiner Erfolge könnte ihnen Lust machen zum Schau-
0101spielerstand. Man weiß, daß wieder andere Bühnenkünstler,
0102nicht minder talentvoll, aber minder klug als Macready,
0103ihre Kinder demselben Berufe widmen, welchem sie selbst ihre
0104Berühmtheit verdanken. Meinen sie vielleicht, das Talent eines
0105Künstlers lasse sich übertragen, wie das Amt eines Notars? Sie
0106haben ihre Nachgiebigkeit meistens zu bereuen. Nach Regnier’s
0107Erfahrungen gehört es zu den großen Seltenheiten, daß das
0108Talent des Schauspielers, des Poeten, Malers, Tondichters
0109sich auf eine zweite oder dritte Generation vererbt. Aller-
0110dings besitzt Deutschland eine ganze Dynastie von
0111Devrients und England große Schauspieler-Familien,
0112wie die Keans, Matthews, vor Allem die Kembles.
0113Allein mit einer oder zwei Ausnahmen zählt keine dieser
0114Familien mehr einen Künstler von hervorragender Bedeutung
0115und hat keiner der Nachkommen die Größe seines Ahnherrn
0116erreicht. Der junge Regnier sollte ursprünglich Soldat werden [2]
0117obgleich seine Mutter sich so sehr vor dem Kriege fürchtete,
0118daß sie bei seiner Geburt schmerzlich ausrief: O weh, die
0119Conscription!


0120Als Theaterkind hatte Regnier bald das Glück, den
0121größten Schauspieler seiner Zeit, Talma, kennen zu lernen.
0122Als dieser dem Knaben zum erstenmale an der Hand der
0123Mutter begegnet, ihn liebevoll anspricht und küßt, fühlt sich
0124Regnier so stolz und überglücklich, als hätte Napoleon selbst,
0125das Ideal seiner Jugend, ihm diese Ehre erwiesen. Er hat
0126während der letzten vier Jahre von Talma’s Wirksamkeit
0127kaum eine einzige Vorstellung desselben versäumt. Nach dem
0128Theater harrte der junge Regnier mit Anderen im Vor-
0129zimmer von Talma’s Garderobe auf den Augenblick, wo
0130dieser, ausruhend, die Thür öffnete und Besuche empfing.
0131Regnier hörte in seinem Winkel jedes Wort, das Talma 
0132sprach. Da hatte man nicht mehr den berühmten Künstler
0133vor sich, sondern den einfachsten, natürlichsten Menschen.
0134Niemals ist ein Schauspieler im täglichen Leben weniger
0135Schauspieler gewesen, als Talma. Darin unterschied er sich
0136von so vielen gefeierten Künstlern, z. B. von Kean, welcher,
0137auf der Bühne natürlich, aber Comödiant in der Gesellschaft,
0138immer eine Rolle spielen wollte und jeden Tonfall, jede Be-
0139wegung berechnete. Talma empfing mit liebenswürdiger An-
0140muth und ohne eitle Bescheidenheit die ihm gespendeten Lob-
0141sprüche; alsbald schien er sie aber bestreiten zu wollen, indem
0142er nicht davon sprach, was er erreicht, sondern was er zu
0143erreichen beabsichtigt hatte. Er erörterte die dem Gelingen
0144hinderlichen Umstände und offenbarte so die Geheimnisse
0145seiner Kunst, seines Studiums. Zu der Zeit, von welcher
0146Regnier als Augenzeuge erzählt, genoß Talma ausnahmslos
0147die unbedingteste Hochachtung seiner Collegen. Es war nicht
0148immer so gewesen. Am Anfange seiner Laufbahn, beim
0149Ausbruche der Revolution, hatten politische Leidenschaften und
0150Discussionen eine feindselige Spannung zwischen ihm und
0151den meisten seiner Collegen hervorgebracht. Nach der Schreckens-
0152zeit, welche ja Alle mit denselben Gefahren bedroht hatte,
0153stiftete man allerdings eine Art Versöhnung; aber ein Nach-
0154gefühl von Bitterkeit und Mißtrauen war doch zurückgeblieben.
0155Künstlerneid hatte nichts damit zu schaffen; Talma war von 
0156Anbeginn ohne Hindernisse seinen ruhmvollen Weg gegangen
0157und keinem eifersüchtigen Rivalen begegnet. Die einzige
0158Schwierigkeit, die er zu bekämpfen gehabt, war die
0159Abneigung seiner Eltern vor dem Schauspielerstande. Aber
0160seine außerordentliche Begabung ließ sich nicht lange unter-
0161jochen. Ein angesehener Arzt, der Vater Eugène Sue’s,
0162welcher Talma’s Stubengenosse war, als dieser medicinische
0163Studien trieb und Zahnarzt werden sollte, schilderte dieses
0164Zusammenleben als unerträglich, weil Talma ganze Nächte
0165hindurch Verse declamirte. Im Jahre 1787 debütirt Talma 
0166in der Comédie Française, wird sofort engagirt und schafft
0167noch im selben Jahre die Rolle Karl’s IX., welche seinen
0168Ruf begründet hat. Aber der schnell erworbene Künstlerruhm
0169will seinem ungeduldigen Ergeiz nicht genügen; er mischt
0170sich eifrig in die politischen Kämpfe, denen er besser fern-
0171geblieben wäre. Seit der Revolution verkehrt Talma freund-
0172schaftlich mit den Männern der vorgeschrittensten Partei und
0173sucht jede Gelegenheit auf, sich an revolutionären Kund-
0174gebungen zu betheiligen. Unbedacht läßt er sich zu mancherlei
0175Schritten, auch vor dem Publicum, hinreißen, welche das
0176Interesse seines Theaters beeinträchtigen. Die Conflicte
0177häufen sich. Müde der stummen Feindseligkeit, von der er
0178sich umgeben fühlt, entschließt sich Talma, seinen Rechten
0179als Societär der Gesellschaft zu entsagen, und über-
0180tritt im Jahre 1791 zu dem neuerrichteten Theater
0181im Palais Royal, das den Titel „Théâtre français de la
0182rue Richelieu“ annahm und das heutige Théâtre Français
0183ist. Mit 27 Jahren heiratet er die 35jährige Julie Car-
0184reau
, eine durch ihren Geist und ihren Charakter noch
0185mehr als durch ihre Anmuth bezaubernde Frau. Ihr Glück
0186währt nicht lange. Der Flattersinn des ungetreuen Gatten
0187bringt die Frau, die ihn leidenschaftlich liebt, zur Verzweif-
0188lung; die Ehe wird nach sechs Jahren getrennt. Im Salon
0189seiner Frau Julie Carreau schließt Talma Freundschaft mit
0190Condorcet, Vergniaud und den meisten Girondisten. Bald
0191aber haben die Jacobiner die Herrschaft über die Girondisten
0192erlangt, und Marat ist der Erste, welcher einen vernichten-
0193den Streich gegen Talma als Patrioten führt. Er gehört
0194nunmehr zu den Verdächtigen, den Reaktionären. Die meisten 
0195seiner Freunde aus der ersten Zeit der Revolution enden
0196auf dem Schaffot; Talma verzehrt sich in quälender Angst
0197und ewiger Unruhe. Da der Wohlfahrtsausschuß Verhaftun-
0198gen nur zur Nachtzeit vornahm, legt sich Talma niemals
0199zu Bett, ohne daß irgend ein Kamerad sein Schlafgemach
0200theile. Im Hofe hält er zwei wachsame riesige Hunde. Aber
0201viel besser als das Gebell dieser Köter schützte ihn sein
0202bewundertes Talent. Mit jedem Tag wuchs die Begeisterung
0203des Publicums für ihn. Nur seine Popularität als Künstler hat
0204ihn — ganz wie später den Maler David — vor der
0205Guillotine gerettet. Nach der Schreckenszeit finden wir Talma 
0206gründlich geheilt von seiner Passion für Politik. Trotzdem
0207unterhielt er stets Beziehungen zu den hervorragendsten
0208Persönlichkeiten des Staatswesens, insbesondere mit Dem,
0209welcher bald über Alle Herr werden sollte: Napoleon Bonaparte.


0210Regnier hörte von allen Theater-Habitués oft erzählen,
0211daß Bonaparte sowie Duroc von Talma und Michot zwischen
0212die Coulissen geführt wurden an Abenden, wo der Zudrang
0213des Publicums den freien Eintritt nicht erlaubte. Das er-
0214klärt die besondere Freundlichkeit, welche die beiden Schau-
0215spieler später vom Kaiser erfuhren. Dieser schenkte Michot 
0216ein kleines Landhaus bei Paris; Talma zahlte er seine
0217Schulden und schenkte ihm zu verschiedenen Zeiten bedeutende
0218Summen. Die Thüren der Tuilerien waren stets offen für
0219Talma. Dieser hat aber wiederholt und nachdrücklich der
0220von Chateaubriand verbreiteten Fabel widersprochen, daß
0221Napoleon sich von ihm in würdevoller Haltung und Dra-
0222pirung des Königsmantels habe unterrichten lassen. „Er
0223spielte seine Rolle viel zu gut,“ versichert Talma, „als
0224daß er meiner Lectionen bedurft hätte. Im Gegen-
0225theil hat Napoleon mir über gewisse Theile meiner
0226Rollen mancherlei Winke gegeben, die ich verwerthete; denn
0227er liebte das Theater und sprach sehr gut darüber.“ Seiner
0228Dankbarkeit gegen Napoleon stets eingedenk und geständig,
0229war Talma dennoch beflissen, sich die Gunst des neuen
0230Königs Ludwig XVIII. zu erwerben. Zu diesem Zweck spielte
0231er die Rolle des Königs in der „Jagdpartie Heinrich’s IV.“,
0232dem Lieblingsstück der Royalisten. Diese Rolle, welche für
0233den Tragöden Talma ein ganz ungewohntes Fach bedeutete, [3]
0234erregte die höchste Neugierde des Publicums. Er spielte sie
0235einfach, gemüthvoll, vortrefflich. Trotzdem erfuhr dieses Lob
0236manche Einschränkung, manchen Widerspruch. Das geschieht
0237fast immer, wenn ein Künstler sich zum erstenmal in einem
0238neuen, von seinen berühmten Rollen ganz verschiedenen Genre
0239versucht. Er stößt im Publicum und in der Kritik auf eine
0240gewisse Feindseligkeit, ein vorgefaßtes Mißtrauen. Damals gingen
0241die Meinungen überwiegend dahin, daß ein Schauspieler un-
0242möglich in zwei verschiedenen Gattungen ausgezeichnet sein
0243könne. Man konnte ihnen entgegnen, daß Garrick dieses
0244Problem thatsächlich gelöst habe. Dennoch findet Regnier 
0245dieses Argument nicht entscheidend für die französischen
0246Schauspieler und macht folgende feine Bemerkung: „Unsere
0247französischen Tragödienspieler, sowie die von ihnen interpre-
0248tirten Dichter wurzeln in der antiken Kunst, wie man diese
0249im siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert verstand. Sie
0250stellen Halbgötter, Heroen, Könige dar und bewegen sich auf
0251der Bühne mit einer Hoheit und Würde, welche dem feier-
0252lichen Styl Corneille’s, Racine’s, Voltaire’s entspricht.
0253Die englischen Schauspieler sind freier, unbefan-
0254gener in ihren Manieren; sie sind durch den Text,
0255den sie recitiren, nicht zu pompöser Haltung gezwungen.
0256Shakespeare, der für sie zugleich Molière und Racine ist,
0257gab ihnen Rollen, worin Verse mit Prosa abwechseln und
0258eine gewöhnliche, familiäre Sprache die pathetischesten Scenen
0259unterbricht. Sie haben somit alle eine Hinneigung zur
0260Comödie und sind in letzterer nicht genöthigt, sich wie unsere
0261Tragöden gewaltsam von Gewohnheiten loszureißen, die sie
0262unter dem Königsmantel des Pyrrhus oder der Toga Cinna’s
0263angenommen haben.“ Regnier unterläßt es leider, hier auf
0264eine Analogie im deutschen Theater hinzuweisen. Die Stücke
0265Lessing’s, Goethe’s, Schiller’s haben unseren Darstellern
0266gleichfalls eine freiere Bewegung und größere Vielseitigkeit
0267gegeben und zahlreiche bedeutende Schauspieler gebildet, welche,
0268wie Schröder, Ludwig Devrient, Döring, Seydelmann,
0269Fichtner, Löwe, in der Tragödie und im Lustspiel glänzten.
0270Als Garrick Richard den Dritten und Tags darauf den
0271possenhaften schmutzigen Tabakkrämer Abel Drugger gespielt
0272hatte, schrieb ihm der Maler Hogarth: „Ob Sie von 
0273Straßenschmutz oder von Blut triefen — immer erscheinen
0274Sie wie in Ihrem eigensten Elemente.“ Rollen wie diesen
0275Abel Drugger hätte Talma freilich nicht spielen können,
0276nicht spielen wollen; dagegen sträubte sich seine ganze Natur.
0277Es war ihm unmöglich, eine triviale Person darzustellen.
0278Außerhalb der Tragödie vermochte er aber im Drama und
0279im höheren Lustspiele zu zeigen, welche Macht ein wahrer,
0280natürlicher Darsteller auch ohne die gewaltsamen Mittel des
0281Tragöden auf die Zuschauer ausüben kann. Im Lustspiele
0282hin und wieder angezweifelt, ist Talma’s Meisterschaft un-
0283bestritten geblieben in der Tragödie. Mit einer einzigen
0284Ausnahme. Der Kritiker Geoffroy, ein Mann von ebenso
0285viel Geist als parteiischer Befangenheit, war zwölf Jahre
0286unablässig bemüht, Talma’s Vorzüge als Fehler hinzustellen
0287und ihn mit boshaftem Spott zu verfolgen. Wo er
0288Talma nicht schlechtweg tadeln konnte, schilderte er wenigstens,
0289wie unvergleichlich besser Lekain die Rolle gespielt habe.
0290Wahrscheinlich würde uns heute selbst Talma zu pathetisch
0291und declamatorisch scheinen; ohne Zweifel war er jedoch
0292natürlicher, realistischer als sein berühmter Vorgänger Lekain.
0293Er hatte über Letzteren den Vortheil, eine gewaltige sociale
0294Revolution, eine an Tugenden und Verbrechen fruchtbare
0295Periode durchlebt zu haben, welche ihm eine Auswahl werth-
0296vollster Modelle bot für sein Studium. Mit seinem leiden-
0297schaftlichen Gesichtsausdrucke, seinen abwechselnd furchtbaren
0298und tief melancholischen Accenten war Talma nach Regnier’s
0299Empfindung eine Inspiration Shakespeare’s. Daher die
0300Antipathie Geoffroy’s, welcher alles „Schwarze“ haßte, selbst
0301im Trauerspiele. Talma war der Ausdruck seiner Zeit, einer
0302Zeit, welche Geoffroy verabscheute und unablässig verschrie.
0303Seltsam, daß diese ganz vereinzelte Stimme des Tadels in-
0304mitten der allgemeinen lautesten Bewunderung Talma auf das
0305schmerzlichste zu verwunden vermochte. Die Angriffe Geoffroy’s
0306erhielten den äußerst nervösen Künstler in einem beständigen
0307Fieber, das sich bis zu schwerer Erkrankung steigerte. Können
0308wir diese Empfindlichkeit großer Schauspieler gegen die Kritik
0309verstehen? fragt Regnier; und ist es wahr, daß Maler,
0310Poeten, Tondichter darin weniger reizbar sind, als die
0311Schauspieler? Letzteres, meint er, würde man schwerlich be-
0312haupten, wenn die Ateliers und Arbeitszimmer so indiscrete
0313Echos hätten, wie die Coulissen des Theaters. Wir wollen
0314dies nicht untersuchen. Das Entscheidende ist, daß der Schau-
0315spieler stets seine eigene Person ins Feld führt. Dichter,
0316Componisten, Maler schaffen nicht unter den Augen der-
0317jenigen, die sie kritisiren werden; sie können an ihren Werken
0318daheim mit Muße ändern, nachbessern. Der Schauspieler
0319hingegen muß vom ersten Moment an vor den Blicken
0320von Hunderten schaffen, welche Beifall oder Verurtheilung
0321bereit halten. Kein gesprochenes Wort kann er zurück-
0322nehmen, keine Geste, keinen Tonfall verbessern. Er
0323muß vollkommen Herr seiner selbst sein, um so schwieriger
0324Aufgabe zu genügen. Das erklärt die ganz besondere Dispo-
0325sition des Bühnenkünstlers, von der Kritik zu leiden. Sie
0326verwundet ihn nicht blos in seiner Eigenliebe, sondern auch
0327in seinem Selbstvertrauen, indem sie ihm mit der nöthigen
0328Kaltblütigkeit auch einen Theil der Mittel raubt, welche ihm,
0329wie er nur zu gut weiß, unentbehrlich sind für seine
0330Wirkung. So befiel denn auch Talma ein unbeschreibliches,
0331bohrendes Mißbehagen, sobald er die boshaften Augen Geoffroy’s
0332auf sich geheftet sah. Der bloße Anblick dieses Menschen ließ
0333ihn Fehler begehen, deren unbarmherzige Verurtheilung er
0334im nächsten Blatt mit Sicherheit zu erwarten hatte. In
0335furchtbarer Aufregung über einen ganz besonders gehässigen
0336Artikel stürzt Talma eines Abends in die Loge, welche
0337Geoffroy seit Jahren unentgeltlich eingeräumt war, und
0338fordert den Kritiker auf, sich zu entfernen. Geoffroy erklärte
0339in seinem Journal, daß er nie mehr ein Wort über Talma 
0340schreiben werde, welcher fortan nicht mehr für ihn existire.
0341Trotz dieser feierlichen Erklärung vermochte er aber sein Wort
0342und seine Galle nicht zu halten; er ließ, von Nachsucht über-
0343mannt, in einem seiner letzten Feuilletons noch einmal seine
0344Wuth gegen Talma aus, den er als den Verderber der Tra-
0345gödie bezeichnete. Die bekannten enthusiastischen Schilderungen
0346Chateaubriand’s und der Staël, welchen auch
0347Regnier beipflichtet, lassen uns das Gegentheil für wahr an-
0348nehmen. Ihnen erschien Talma als eine großartige Ver-
0349schmelzung von Shakespeare und Racine.
0350(Ein Schlußartikel folgt.)