Neue Freie Presse
Morgenblatt
Nr. 10054. Wien, Sonntag, den 21. August 1892
[1]Musikalische Reise- und Badelectüre.
(l. Wagnerianer.)
0003Aussee, im August.
0004Ed. H. Für einen dreiwöchentlichen Aufenthalt in Karls-
0005bad pflege ich einen ansehnlichen Pack Bücher mitzunehmen;
0006für dieselbe Zeit im Salzkammergut mindestens die doppelte
0007Quantität. Denn eine Reihe von schönen Tagen gibt’s
0008hier selten zu ertragen. Betrachten wir noch so entzückt das
0009sonnbeglänzte Schneefeld des Dachsteins, das sich gerade vor
0010unserer „Villa und Pension Hürsch“ so majestätisch aus-
0011breitet — nur zu bald wird es sich in schwarze Wolken
0012hüllen. Dann stimmt der Himmel sein berühmtes Ausseer
0013Regenlied an, das viel, viel länger ist als das Brahms’sche,
0014nur nicht so schön. Eine graue, nasse Melancholie rieselt auf die
0015Landschaft und in unser Gemüth. Das ist der rechte Moment, aus
0016unserm literarischen Proviant die härtesten Bissen hervorzuziehen:
0017neue Offenbarungen über Musik. Vorherrschend sind noch immer
0018die Wagner-Schriften. Welch rastlose, athemversetzende Schreib-
0019lust! Ich glaube wirklich, daß Wagner’s Kunst den größten
0020Vortheil davon hätte, wenn jetzt zehn Jahre lang keine
0021Bücher darüber geschrieben würden. Fortwährend werden
0022neue (oder auch die nämlichen) Tiefsinnigkeiten über jeden
0023Vers, jedes Motiv von Wagner ausgebrütet. Glaubt man
0024wirklich, daß ein Musikdrama von ehrlicher Wirkung diesen
0025Wust von philosophischen Commentaren nöthig habe? Wer
0026seit zwanzig Jahren mit gelehrten Abhandlungen über den
0027Liebestrank oder Todestrank Isoldens, über den Charakter
0028der Fricka, über den Zusammenhang Wotan’s mit Schopen-
0029hauer u. s. w. gefüttert worden ist, der hat wol einiges
0030Recht, übersättigt zu sein. Lebhaft interessiren wir uns für
0031neue biographische Mittheilungen, wie die gleich näher zu
0032besprechenden von Ferdinand Praeger. Aber der unaufhörliche
0033Zufluß philosophirender Erklärungen und Verdunkelungen
0034stellt die Geduld des Lesers auf eine harte Probe. Hier
0035die Titel zweier eben angekündigter Bücher: 1. „Wagner-
0036Encyklopädie. Haupterscheinungen der Kunst- und
0037Culturgeschichte im Lichte der Anschauung Richard Wagner’s.“
0038Zwei Bände. Der Autor ist Herr Glasenapp, der bereits
0039eine umfangreiche Wagner-Biographie und ein riesiges
0040„Wagner-Lexikon“ herausgegeben hat. 2. „Richard Wag-
0041ner’s geistige Entwicklung. Versuch einer Dar-
0042stellung der Weltanschauung Richard Wagner’s mit Rück-
0043sichtnahme auf deren Verhältniß zu den philosophischen Rich-
0044tungen der Junghegelianer und Schopenhauer’s. Von Hugo
0045Dinger. Erster Band (!): Die Weltanschauung R. Wag-
0046ner’s in den Grundzügen ihrer Entwicklung.“ Von diesen
0047zwei colossalen Novitäten kenne ich vorläufig nur die Titel;
0048eine schmächtigere dritte habe ich mit Hilfe sehr schlechten
0049Wetters erledigt, ohne darin Ersatz für den fehlenden Sonnen-
0050schein gefunden zu haben. Sie nennt sich: „Das Drama
0051Richard Wagner’s. Eine Anregung von Houston
0052Stewart Chamberlain.“ Obgleich das Vorwort
0053aus Wien datirt ist, vermag ich keinerlei Aufschluß
0054über die Person des Verfassers zu geben, der einen
0055im englischen Parlament so glänzenden Namen führt.
0056Der Autor, ein literarisch und philosophisch gebildeter Geist,
0057ist wahrscheinlich ein noch junger Mann. Lange Erfahrung
0058sagt mir wenigstens, daß nur jüngere Leute, die noch relativ
0059wenig kennen gelernt und noch in wenige Kunstperioden und
0060Meister sich eingelebt haben, ihren ganzen Enthusiasmus
0061stets auf Ein einziges Haupt häufen, und zwar auf ein
0062modernes. Für Chamberlain hat es offenbar vor Wagner
0063keine Ahnung dramatischer Musik gegeben. In ermüdend
0064trockenem lehrhaften Ton mit Erstens, Zweitens, Drittens
0065führt er seine Thesis aus, „daß in dem neuen Drama auch
0066der Begriff des Dramatischen ein neuer ist“. Wagner habe
0067„die Intuition des vollkommenen Wort-Tondramas, geboren
0068aus dem Geiste der Musik, mit auf die Welt gebracht“.
0069Der Gedanke, daß man durch Herumbessern an einer solchen
0070Mißgeburt wie die Oper zu der Vorstellung des er-
0071habensten aller Kunstwerke gelangen könne, sei eine
0072logische Verirrung. „Wagner hat die Musik erlöst!
0073Ja, die Erlösung der Musik! Die Erlösung des
0074inneren Menschen! Das war die große That Wagner’s.“
0075In dem Entwicklungsgang Wagner’s erblickt Chamberlain
0076eine so absolute Causalität und Untrennbarkeit, daß er die
0077Behauptung wagt, man könne, ohne die beiden Jugendwerke
0078(„Feen“ und „Liebesverbot“) erforscht zu haben, den „Rienzi“
0079nicht begreifen. Ebenso steht es außer Zweifel, „daß Parsifal
0080und der Nibelungenring auf das allerengste und unzertrenn-
0081lichste zusammenhängen“. Man sieht, zu welchen Paradoxen
0082das ausschließlich auf Wagner concentrirte Denken führt.
0083Anstatt sich über die mächtig angewachsene Wagner-Verbreitung
0084und -Verehrung zu freuen, lieben es bekanntlich die Wagnerianer,
0085auf die Opernbühnen und das Publicum gewaltig zu schimpfen.
0086So auch Chamberlain. Er beklagt Werke wie „Tannhäuser“
0087und „Holländer“, „weil unsere Opernbühnen gänzlich unfähig
0088seien, einen dramatischen Gedanken zur Darstellung zu
0089bringen“. Wir, die wir die trefflichsten Tannhäuser-
0090Aufführungen unter Wagner selbst und seinen besten
0091Schülern in Dresden, München und Wien erlebt, müssen
0092uns von Chamberlain sagen lassen, daß diese Oper uns
0093„ein gänzlich unbekanntes Werk“ geblieben sei, weil wir
0094nicht im Sommer 1891 in Bayreuth waren. Auch Lohengrin
0095werde „überall verständnißlos bewundert“. „Das tiefste Wesen
0096der Tragik und Komik sei zu voller Deutlichkeit und tiefster
0097Bedeutung erst in Wagner’s Tondrama, speciell in den
0098Meistersingern, gelangt. Shakespeare und Wagner sind die
0099zwei größten germanischen Dramatiker.“ Also nicht blos
0100Mozart, Beethoven und Weber, auch Schiller und Goethe
0101sind wesenlose Schatten neben Wagner. Wir haben, wie ge-
0102sagt, diese Melodie seit zwanzig Jahren schon so oft gehört,
0103daß sie uns keinen Eindruck mehr macht, am wenigsten einen
0104guten. Schopenhauer, der ja immer citirt werden muß, wenn
0105von Wagner die Rede ist, Schopenhauer schrieb einmal über
0106den Philosophen Herbart: „Mir ist bei seinen Schriften
0107stets die Geduld ausgegangen, denn einen solchen Gedanken-
0108gang mitzumachen, ist für mich die größte Pönitenz.“ Genau
0109so ergeht es mir mit den neuesten Wagner-Philosophen, die
0110doch noch lange keine Herbarts sind.
0111„Wagner, wie ich ihn kannte“, heißt ein von
0112Ferdinand Praeger verfaßtes und aus dem Englischen
0113übersetztes Buch, das über Wagner’s Leben und Charakter
0114manches Neue und Interessante bringt. Praeger, ein ge-
0115borener Leipziger und ungefähr im gleichen Alter mit
0116Wagner, lebte seit 1834 als Musiklehrer und Journalist in
0117London, wo er vor einigen Jahren gestorben ist. Daß er
0118ein volles Recht hatte, sich einen intimen Freund Wagner’s
0119zu nennen, beweisen zahlreiche, sehr herzliche Briefe des
0120Letzteren. Glühender Verehrer der Wagner’schen Musik, wußte
0121es Praeger durchzusetzen, daß Wagner 1835 als Dirigent
0122der Philharmonischen Concerte nach London berufen wurde
0123und diesem Ruf folgte. Da waren denn die Beiden unzertrennlich
0124zusammen, und Wagner überströmte von Erzählungen aus seiner
0125Jugendzeit. Später hat ihn Praeger in Zürich, in München, in
0126Luzern und Bayreuth wiederholt besucht. Praeger liebt und preist
0127die Wagner’sche Musik mit aufrichtiger naiver Empfindung,
0128ohne sich mit selbstgefälligem Philosophiren und Kritisiren
0129vorzudrängen. Der speciell künstlerische, reflectirende Theil
0130des Buches tritt stark zurück hinter den biographischen,
0131einfach erzählenden. Das ist der Hauptvorzug dieser Schrift, [2]
0132in der man häufige Wiederholungen und Weitschweifigkeiten
0133dem hohen Alter des Verfassers gerne nachsieht. Neues
0134und Wichtiges erfahren wir über Wagner’s Antheil an der
0135Dresdener Revolution im Jahre 1848, worüber „alle Wagner-
0136Biographen gänzlich im Dunklen sind, und zwar durch Wagner’s
0137eigene Schuld“. Wagner hält nämlich in seinen Schriften,
0138die ja sonst ein fast vollständiges biographisches Material
0139bieten, jede Aufklärung über seinen Antheil an der Revolution
0140zurück. Praeger schreibt: „Wagner war ein activer Mit-
0141helfer an der 1849er Revolution, trotz der Mühe, die er
0142sich später gab, dieses zweifelhaft zu machen, zu verwischen
0143oder doch zu etwas ganz Geringfügigem zu verwandeln.
0144Während der ersten Zeit seines elfjährigen Exils sprach er
0145zu jeder Zeit mit Eifer über die Erhebung in Sachsen und
0146den thätigen Antheil, den er dabei gezeigt, vor und während
0147der Mai-Tage, und trotzdem hatte er die Schwäche, selbst
0148gegen mich in späterer Zeit diesen Antheil ganz zu leugnen
0149oder doch bis aufs wenigste zu verkleinern, während ich ja
0150doch Documente seines Eingeständnisses der activen Theil-
0151nahme von seiner eigenen Hand besaß.“ Praeger erzählt
0152nun sehr eingehend in mehreren Capiteln die Geschichte
0153des Dresdener Mai-Aufstandes. Wagner war ein
0154Mitglied der Reformverbindung, in deren Sitzung am
015518. Juni 1848 er eine revolutionäre Rede ablas, deren
0156Inhalt die Abschaffung des Königthums und an dessen Stelle
0157die Republik vorschlug. In dieser Rede, welche vom Re-
0158formverein gedruckt und in zahlreichen Exemplaren vertheilt
0159wurde, hat Wagner die großartige Naivetät, es möge der
0160König von Sachsen selbst sein Land zur Republik erklären.
0161Der bekannte Scherz der „Fliegenden Blätter“ von der
0162„Republik mit dem Großherzog an der Spitze“ ist demnach
0163bei Wagner bitterer Ernst gewesen. August Röckel, das
0164eigentliche Haupt des Aufstandes, war auf den Rath der
0165Freunde (Wagner, Bakunin, Heubner) nach Prag geflüchtet,
0166wohin ihm Wagner am 3. Mai folgende Zeilen schrieb:
0167„Komm’ augenblicklich zurück. Du bist jetzt gerade nicht in
0168Gefahr, aber man fürchtet, daß die allgemeine Aufregung
0169einen unpräparirten Ausbruch verursachen könne.“
0170Röckel macht sich sogleich auf den Weg und kommt am
01715. Mai nach Dresden. Er findet alle Läden geschlossen, das
0172Straßenpflaster aufgerissen, überall Barricaden aufge-
0173richtet. Auf einer Barricade trifft er Wagner mit einem
0174jungen Wiener, Namens Haimberger, der sich
0175später als Violinspieler in London forthalf. Wagner hatte
0176eben Fouragewagen nach Dresden geleitet und war von einer
0177bedeutenden Anzahl bewaffneter Bauern begleitet. Wagner
0178und Röckel beschließen, Pechkränze zu bereiten, welche beim
0179Anrücken des Militärs in Brand gesteckt werden müßten.
0180Röckel wird gefangen genommen und man findet in seinen
0181Taschen mehrere Briefe Wagner’s, darunter den oben er-
0182wähnten. Röckel, Heubner und Bakunin wurden auf den
0183Königstein transportirt, ursprünglich zum Tode verurtheilt,
0184später zu lebenslänglicher Gefängnisstrafe begnadigt. Wagner
0185wäre demselben Schicksal verfallen, hätte er nicht rechtzeitig
0186die Flucht ergriffen, zunächst nach Weimar, dann durch
0187Liszt’s Vermittlung nach Paris. „Es war der pure Zufall,“
0188sagt Wagner selbst, „daß ich nicht mit Bakunin und Heubner
0189zugleich gefangen genommen wurde.“ Röckel’s Gefängniß-
0190haft währte fast 13 Jahre, genau so lange wie
0191Wagner’s Exil, das erst durch die Amnestie 1862 auf-
0192gehoben wurde. In der bekannten „Mittheilung an meine
0193Freunde“ (1851) schreibt Wagner: „Ich habe mich
0194wirklich nie mit Politik abgegeben.“ Das gerade
0195Gegentheil ist wahr. Praeger erblickt in Wagner’s Theil-
0196nahme am Barricadenkampf einen neuen Beweis, wie die
0197geistige Aufregung selbst einen nicht Kampflustigen so exaltiren
0198kann, daß er wahren Heldenmuth zu haben scheint. Denn
0199Wagner sei persönlich durchaus nicht tapfer oder helden-
0200müthig gewesen. Wenn er aufgebracht war, ließ ihn seine
0201Heftigkeit das Maß der Klugheit vergessen und Drohungen
0202ausstoßen, die er jedenfalls nicht hätte ausführen können.
0203Ausführlicher und liebevoller als alle übrigen Wagner-
0204Biographen schildert Praeger Wagner’s erste Frau. Diese
0205aufopfernde, edle Dulderin, welche von den Wagner-Aposteln
0206sehr oberflächlich, wo nicht geringschätzig behandelt und ins-
0207besondere gegen die brillantere Cosima in Schatten gestellt
0208wird, erhält erst durch Praeger’s Erzählungen ihre volle
0209Bedeutung. Wagner war 23 Jahre alt, als er in Magde-
0210burg die schöne und liebenswürdige Minna Planer, die
0211erste Liebhaberin des dortigen Theaters, heiratete. Sie war die
0212Tochter eines Mechanikers, dessen Geschäft schlecht ging; ohne
0213besondere Neigung zum Theater wurde Minna Schauspielerin,
0214um als älteste Tochter ihrer Familie zu helfen. Im Schauspiel
0215wie in der Tragödie ausgezeichnet, war sie doch im häus-
0216lichen Leben ganz die emsige, bescheidene, deutsche Hausfrau.
0217„Wagner ließ sich von ihr lieben.“ Ihre beiden Naturen
0218waren gänzlich verschieden; er war heftig, ehrgeizig und
0219hartnäckig, sie hingegen sanft, leicht überredet und zufrieden.
0220Er wollte die Welt erobern und sie dann zu seinen Füßen
0221sehen; sie war ohne Ehrgeiz und glücklich in ihrem Haus-
0222halte, besonders in ihrer Sorgfalt für ihren Mann. Von
0223Anfang ihrer Verbindung folgte sie ihm blindlings,
0224lieh ein williges Ohr seinen Ausbrüchen gegen seine
0225Zeitgenossen, seinen weit ausholenden Dissertationen
0226über Kunst; Alles hörte sie mit ruhiger Ergebenheit
0227an, obschon sie ihm nicht folgen konnte. Während Wagner
0228zu keiner Zeit seines Lebens seine Ausgaben zu controliren
0229verstand und sich nichts versagen konnte, war sie immer
0230darauf bedacht, zu sparen. Jahrelang lebten sie in Noth,
0231aber nie kam eine Klage über die Lippen der Frau. Kamen
0232bessere Zeiten, so hatte sie nur Einen Gedanken: ihm jeden
0233Genuß zu verschaffen, der ihm Freude bereiten konnte. Seit
0234Magdeburg folgte ihm das Elend auf jedem Schritt, zuerst
0235nach Königsberg, dann nach Paris. Aber wo Er weilte, da
0236sah Minna ihre Heimat und in ihm ihren Herrn und
0237Meister. Nach einem Tag unfreiwilligen Fastens in Paris
0238entschloß sich Wagner, Minna zur Verpfändung ihres
0239nicht sehr kostbaren Geschmeides zu rathen. Man
0240denke sich seine Scham, als er erfuhr, daß seine
0241Frau schon seit einiger Zeit, eins nach dem andern, ihre
0242Ringe, Ketten und Armbänder habe verkaufen müssen, um die
0243tägliche Nahrung zu schaffen. Sie ward in dieser Noth zur
0244wahren Heldin. Nicht allein half ihre Gemüthsruhe die
0245ärgerliche Heftigkeit ihres nervös aufgeregten Mannes zu
0246beschwichtigen — alle und jede Arbeit im Hause wurde von
0247ihr mit der größten Bereitwilligkeit verrichtet; sie scheuerte,
0248wusch die Wäsche, kochte und flickte; dabei verheimlichte sie
0249so viel als nur möglich Alles, was ihn nur unangenehm
0250berühren könnte. Alle Opfer, die sie ihm damals brachte
0251— so schließt Praeger seine Schilderung — wurden Wagner
0252erst klar, als ihr beiderseitiges Los sich gänzlich zum Bessern
0253gewendet hatte. Ihr „beiderseitiges“ Los? Das
0254kann nicht genau sein. Minna hat zwar die Leidensjahre der
0255Entbehrung und des Exils mit Wagner durchgekämpft, aber
0256von seiner Glücksperiode, von seinem Glanze, seinem Reichthum,
0257seinem Weltruhm hat sie nichts genossen. Wagner ist auf den
0258Ruf König Ludwig’s allein nach München gegangen, wo Frau
0259v. Bülow, seine nachmalige Frau, seine Wirthschaft besorgte, wäh-
0260rend Minna, fern von ihm, einsam ihre letzten Jahre ver-
0261trauerte. Und die Ursache dieser Trennung? Praeger läßt sie
0262uns ziemlich deutlich erkennen, wenn er auch, offenbar aus
0263Schonung für Wagner, sich etwas zurückhaltend ausdrückt.
0264Bei seinem Besuche in Zürich 1856 bemerkte er, daß die
0265Beziehungen Wagner’s zu seiner liebenswürdigen Verehrerin,
0266Frau v. Wesendonk, und die täglichen Besuche derselben die [3]
0267Eifersucht Minna’s erweckt hatten. Der Freund läßt es an
0268Warnungen nicht fehlen und erinnert Wagner bedeutungs-
0269voll an zwei bekannte Stücke „Die gefährliche Nachbarschaft“
0270und „Das öffentliche Geheimniß“. Bald nach seiner Abreise
0271erhält er in Paris ein Telegramm von Wagner: „Der Teufel
0272ist los hier; ich komme zu dir nach Paris, erwarte mich
0273auf der Straßburger Station.“ Wagner kam aber nicht,
0274sondern schrieb am nächsten Tage: „Gottlob, Alles ist so
0275ziemlich wieder im Geleise und fürs Erste gibt’s Ruhe —
0276aber die Bösartigkeit der Leute!“ Im Jahre 1864 trennten
0277sich die beiden Gatten für immer. Minna’s Briefe an Praeger
0278könnten wol über diesen traurigen Punkt Aufschluß geben,
0279aber Praeger „hält es nicht für nöthig, dieselben zu veröffent-
0280lichen“. Wagner selbst schreibt: „Warum konnte sie nicht
0281begreifen, daß sie nicht mit mir rechten sollte, wie mit
0282anderen Individualitäten? Konnte ich mich binden und
0283ketten wie ein gewöhnlicher Spießbürger? ... Ja, es
0284kommt mir so vor, als ob nach Allem ich mit ihr viel zu
0285nachsichtig und geduldig gewesen bin.“ Und später: „Ich sehe
0286jetzt erst deutlich, daß ich Minna verzogen habe, doch ärgere
0287ich mich, wenn ich daran denke.“ Das ist ein merkwürdiger
0288Charakterzug Wagner’s, aber kein schöner. „Minna,“ so wieder-
0289holt Praeger nachdrücklich, „Minna war der gute Engel Wag-
0290ner’s, und die großen Werke, die er schuf, verdanken alle einen
0291Theil der liebenden Sorgfalt dieses Weibes.“ Wagner soll zwar
0292nach der Trennung erst recht eingesehen haben, „wie viel er
0293Minna schuldete für jahrelange liebende Pflege“, aber wir
0294finden nicht die leiseste Erwähnung, daß er versucht hätte, sie
0295zurückzurufen, als „der junge Sonnengott“ ihm in München
0296ein so glänzendes Los bereitete.
0297Als einer der hingebendsten Freunde Wagner’s wird
0298Praeger nicht müde, alle großen und schönen Charakterzüge
0299desselben in helles Licht zu rücken. Dazu gehört in erster
0300Linie Wagner’s erstaunliche Willenskraft. Wie er in be-
0301drängtester, scheinbar hoffnungslosester Zeit schon den Grund-
0302bau seiner monumentalen Tetralogie aufführt und mit un-
0303begreiflich stolzer Sicherheit des Gelingens alle die Pläne
0304entwirft, die sich später in Bayreuth realisiren sollten, das
0305können wir in Praeger’s Erzählungen bewundernd verfolgen.
0306Sein Recht auf Glaubwürdigkeit beweist aber Praeger, indem
0307er auch die Widersprüche und Schattenseiten in Wagner’s
0308Charakter nicht verheimlicht. „Mit der wachsenden Er-
0309kenntniß seiner eminenten Begabung,“ erzählt Praeger,
0310„und später durch die ganz unerwartet glückliche Lage
0311wuchs in Wagner ein an Stolz grenzendes Gefühl, welches
0312ihn frühere Verbindungen und Verhältnisse mit unter-
0313geordneten Naturen vergessen ließ. Er nahm von seinen
0314Freunden die hingebendsten Opfer an, ohne die geringste
0315Anerkennung und Dankbarkeit zu zeigen. Wenn er es für
0316seine Pflicht hielt, gerade herauszusprechen, dann kümmerte
0317er sich gar nicht darum, ob seine schroffe, beißende Kritik die
0318tiefsten Wunden schlug, und doch war er selbst aufs empfind-
0319lichste gereizt und verletzt durch den geringsten Tadel.“ Seinen
0320Hang zum Luxus nennt Wagner selbst „sardanapalisch“.
0321Praeger kommt wiederholt darauf zu sprechen, daß Wagner
0322von Entsagung keine Idee hatte — nicht in seinen groß-
0323artigen Bühnen-Unternehmungen, nicht im gewöhnlichen
0324Leben. Seine Bedürfnisse übersteigen immer seine Mittel,
0325und das Vermögen eines Monte Christo wäre ihm, wie
0326er oft selbst gestand, nicht zu viel gewesen. Er sehnte sich
0327unaufhörlich nach einem Reichthum, der ihm gestattete, allen
0328luxuriösen Bedürfnissen die Zügel schießen zu lassen. In
0329seinen Bequemlichkeiten, Stoffen, kostbaren Essenzen etc.
0330kannte er keine Einschränkung, mochte auch seine Barschaft
0331nicht entfernt dazu ausreichen. Aus dem Bedürfniß, alle
0332möglichen Genüsse als Luxus zu besitzen, hatte er sich das
0333Schnupfen angewöhnt und plagte sich mit dem Rauchen.
0334Er duldete nur Seide auf dem bloßen Körper, trug blos
0335seidene Schlafröcke und hatte sogar das Futter und alle
0336Taschen seiner Kleider von Seide. Das gab einmal eine
0337förmliche Lustspielscene bei einem Modeschneider in London,
0338der dem Componisten versicherte, daß selbst die reichsten und
0339vornehmsten Lords nur Baumwolle dazu brauchten. „Ja,
0340ja,“ rief Wagner in komischer Wuth, „das ist der Geist des
0341Jahrhunderts, Alles nur Flittergold; wie Geibel sagt vom
0342Grabe: „Blumen draußen, drinnen aber Weh.“
0343Interessant und treffend — allerdings sehr verschieden
0344von Wagner’s gedrucktem Urtheile — ist seine Aeußerung
0345über Liszt als Tondichter: „Liszt hat zu spät angefangen,
0346ernstlich zu componiren, trotz eines gewissen Talentes merkt
0347man immer, daß das jugendliche Aufbrausen sich nicht durch
0348solide Reflexion geklärt hat; die Schlacken sind nicht vom
0349edlen Metall getrennt; er hat sein Gebräu nicht abgeschäumt“.
0350Ueber den jungen König Ludwig schreibt Wagner an Praeger:
0351„Für jetzt kann ich dir nur sagen, daß der König mich
0352unglaublich lieb hat; ihn zu leiten und seinen strebenden
0353Geist zu formiren, ist jedoch keine leichte Aufgabe. Doch ist
0354es eine Pflicht! Er ist ein so schöner Jüngling, daß er den
0355Christus vorstellen könnte, ein Thema, das mich immer
0356wieder reizt — vielleicht bringt es mich noch dazu.“ Das
0357Allerwagnerischeste ist aber folgender Ausruf in einem Briefe
0358vom 25. November 1870: „Mir scheint es, als ob das
0359ganze deutsche Kaiserreich deßwegen nur ins Leben gerufen
0360wurde, damit endlich mein Ziel (die Aufführung der
0361„Nibelungen“) erreicht würde!“
0362Wer den neuesten vortrefflichen Aufsatz Kuno Fischer’s
0363gelesen hat: „Arthur Schopenhauer, ein Charakterproblem“,
0364dem müssen merkwürdige Analogien zwischen Schopenhauer
0365und Wagner aufgefallen sein. Auch Wagner ist in vielen
0366Stücken ein Charakterproblem. Auch bei ihm, wie bei
0367Schopenhauer, ist der Widerstreit zwischen seinen Worten und
0368Werken unleugbar. „Wer, wie Schopenhauer, eine Heils-
0369und Erlösungslehre aufstellt,“ schreibt Kuno Fischer, „der
0370muß, was er lehrt, in dem eigenen Leben verkörpern, einem
0371Leben voller Weltentsagung, voller Mitleid und Liebe, nicht
0372weil die Pflicht es gebietet, sondern weil der eigene religiöse
0373Genius dazu drängt.“ Ueber den Pessimismus Schopen-
0374hauer’s heißt es weiter: „Man wende uns nur nicht ein,
0375daß Schopenhauer in seinem Leben sich oft sehr unglücklich
0376gefühlt habe, daß er nach seinem eigenen Bekenntnisse schon
0377mit vierundzwanzig Jahren ein ausgemachter Pessimist ge-
0378wesen sei. Gerade seine Passionsgeschichte zeugt wider ihn.
0379Er hat in hohem Grade die Fähigkeit des Leidens gehabt
0380und darum auch erfahren, aber die Kraft und Freudigkeit
0381des Leidens und Ertragens in gar keinem. Wo haben die
0382Leiden Schopenhauer’s, deren Ausdruck meistens Klagen und
0383Verwünschungen waren, je den Charakter der Aufopferung
0384und Hingebung gehabt? Der Zwiespalt zwischen seinem Cha-
0385rakter und seiner Lehre vom Weltelend und der Welt-
0386entsagung, zwischen dem Leben, das er geführt, und der pessi-
0387mistischen Askese, die er gelehrt, liegt am Tage. Die Genies
0388sind eben keine Pessimisten, und wenn sie es tausendmal
0389versichern; denn sie müssen schaffen und hoffen ...
0390Während Schopenhauer der größte Welt- und Menschen-
0391verächter war, ließ er sich durch die Scheinwerthe der Welt
0392blenden. Er war blind für die Schwächen seiner Bewunderer
0393und dienstwilligen Werkzeuge. Nur durften diese dem Meister
0394gegenüber nicht auch die Kritiker spielen wollen; dann wurde
0395ihnen heimgeleuchtet. Es gab in der Welt eigentlich nur
0396Einen Gegenstand, der unserem Pessimisten heilig war: seine
0397Werke. „Meinen Fluch über Jeden, der etwas daran wissentlich
0398ändert, sei es eine Periode oder auch nur ein Wort, eine
0399Sylbe, ein Buchstabe, ein Interpunctions-Zeichen!“
0400Paßt dies Alles nicht auf Richard Wagner?