Neue Freie Presse
Morgenblatt
Nr. 10212. Wien, Freitag, den 27. Januar 1893
[1]Concerte.
(Philharmonisches Concert. Russische Vocalcapelle. Agnes Pyllemann. Böhmisches Quartett.)
0003Ed. H. Genau vor einem Jahre hat uns Hanns
0004Richter mit dem „Don Juan“ von Richard Strauß
0005bekannt gemacht; im letzten Philharmonie-Concert brachte er
0006eine andere Tondichtung dieses Componisten zur Aufführung:
0007„Tod und Verklärung.“ R. Strauß bewährt sich hier neuer-
0008dings als ein glänzender Orchester-Virtuose, dem es nur an
0009musikalischen Gedanken fehlt. Er schiebt in seine Zauber-
0010laterne verschiedene bunte Gläser, deren abwechselnd reizender
0011Schmelz oder flammende Gluth unsere Sinne beschäftigt;
0012was wir uns dabei vorzustellen haben, ob Tod und Teufel
0013oder Tod und Verklärung, sagt uns ein erklärendes Pro-
0014gramm. Auch diesmal sorgt eine vorgedruckte Dichtung
0015dafür, daß wir nicht fehlgehen können; die Musik
0016folgt ihr Schritt für Schritt wie einem Ballet-
0017Libretto. „In der ärmlich kleinen Kammer, matt
0018vom Lichtstumpf nur erhellt, liegt der Kranke auf dem
0019Lager.“ Lang ausgehaltene Moll-Dreiklänge über leisem
0020Schluchzen der Violinen. „Er sinkt erschöpft in den Schlaf;
0021um seine bleichen Züge spielt ein Lächeln wehmuthsvoll.“
0022Sanfte Harfen-Arpeggien, in welche sich ein liebliches Flöten-
0023figürchen mischt, dann eine breite Geigenmelodie. Nach dieser
0024Einleitung, dem gelungensten Theile des Ganzen, sagt uns
0025ein wüthend aufspringendes C-moll-Allegro, daß der Tod
0026sein Opfer nicht länger schlummern läßt, sondern zwischen
0027beiden „ein entsetzenvolles Ringen“ beginnt. Die Musik, in
0028leidenschaftliche Phrasen zerrissen, steigert und verwildert sich
0029später, als Visionen hinzutreten, bis zum grellsten Tumult.
0030Die Pauken werden „mit Holzschlägeln“ bearbeitet; die
0031Posaunenstöße „müssen ungeheuer markant zur Darstellung
0032kommen und sind, die Schallbecher gegen das Publicum ge-
0033richtet, zu blasen!“ Eine grausige Dissonanzenschlacht, in
0034welcher die Holzbläser mit chromatischen Terzenläufen her-
0035unter heulen, während alles Blech erdröhnt, alle Geigen
0036rasen. Wer könnte etwas einwenden, wenn der Componist
0037uns vorhält, daß er ja den entsetzlichen Todeskampf, das
0038Aechzen und Stöhnen, den krankhaften Widerstand des Ver-
0039scheidenden schildern müsse. Nur ganz schüchtern denken wir:
0040muß das wirklich sein? Nachdem die Bilder seines freudlos
0041kämpfenden Lebens an dem Sterbenden vorübergezogen, er-
0042schallt die Todtenglocke. Wir hören das schauerliche Anschlagen
0043des Tamtams durch vierzig Tacte, dann ein langes
0044Arpeggiren zweier Harfen gegen einander über geheimniß-
0045vollem Erzittern der Geigen, endlich ein ausklingendes
0046Pianissimo. Der arme Junge ist von seinen Qualen erlöst, was
0047das Programm mit dem verschönernden Titel „Welt-
0048Erlösung, Welt-Verklärung“ bezeichnet.
0049Wie Strauß’ „Don Juan“, so gehört auch „Tod und
0050Verklärung“ zu den Erzeugnissen der raffinirten Uebercultur
0051unserer Musik. Alle im Gedicht geschilderten Vorgänge sind,
0052wie gesagt, mit blendender Bravour nachgemalt, stellenweise
0053mit wirklich neuen Farbenmischungen; dadurch erklärt sich
0054auch die starke sinnlich-pathologische Wirkung, welche ein so
0055unbarmherziges Nachtgemälde auf die Zuhörer ausübt. Es
0056fehlt dieser realistischen Anschaulichkeit nur der letzte ent-
0057scheidende Schritt: die matterleuchtete Krankenstube mit dem
0058Verscheidenden auf wirklicher Bühne; sein Todeskampf,
0059seine Visionen, sein Sterben — Alles pantomimisch — und
0060dazu die Strauß’sche Musik im Orchester. Das wäre nur
0061consequent und dürfte auch mit der Zeit ernstlich versucht
0062werden. Die Art seines Talentes weist den Componisten
0063eigentlich auf den Weg zum Musikdrama; wir trauen ihm
0064ohneweiters auch jene „edle Verachtung des Gesanges“ zu,
0065welche, vor dreihundert Jahren von Caccini gepredigt,
0066gleicherweise das Entstehen und die Auflösung der Oper
0067kennzeichnet. Uebrigens paßt, was ich im Allgemeinen über
0068den „Don Juan“ bemerkt habe, auch auf „Tod und Ver-
0069klärung“. Das Charakteristische des Symphonikers Strauß
0070besteht darin, daß er mit poetischen, anstatt mit musikalischen
0071Elementen componirt und durch seine Emancipation von der
0072musikalischen Logik eine Stellung mehr neben, als in der
0073Musik einnimmt. Auch bestärkt uns „Tod und Verklärung“
0074in der bereits früher ausgesprochenen Meinung, es werde
0075bei der so raschen und beifälligen Aufnahme des Componisten
0076diese krankhafte Richtung nicht so bald überwunden sein,
0077gewiß aber eines Tages eine gesunde Reaction
0078hervorrufen. In seiner neuesten Novelle richtet Paul
0079Heyse an einen jungen plein-air-Maler folgendes
0080treffende Wort, das auch auf unseren Fall gute
0081Anwendung findet: „Ich erblicke in der neuen radicalen
0082Richtung auf das Charakteristische, worüber das Schöne
0083gänzlich zu kurz kommt, allerdings nur eine Entwicklungs-
0084krankheit unserer Zeit. Dergleichen Erscheinungen darf eine
0085weise ästhetische Pathologie so wenig unterdrücken wollen, wie
0086die rationelle physische Hygiene die Reinigungsprocesse in
0087einem menschlichen Körper hemmen darf, wenn sie recht
0088kräftig auf die Haut schlagen. Es ist wahrscheinlich, daß wir
0089mit unserer schulgerechten Aesthetik nachgerade aufs Trockene
0090gekommen wären ohne diese gewaltsame Reaction. Ich habe
0091viele „Richtungen“, die sich für die allein wahren ausgaben,
0092im Sande verlaufen und neuen, noch „wahreren“ Platz
0093machen sehen, so daß ich mit einiger Ruhe zuschauen
0094kann, wenn heutzutage Alles als akademischer Zopf ver-
0095schrien wird, was einen Gemüthswerth beansprucht oder
0096durch Reiz und Adel der Form entzücken will.“ ...
0097„Tod und Verklärung“, erhielt von einem Theile des
0098Publicums rauschenden Beifall, dem von anderer Seite ver-
0099nehmliches Zischen antwortete. Alle dürften es jedoch wie
0100einen himmlischen Balsam empfunden haben, als unmittelbar
0101darauf die ersten Accorde von Schumann’s Clavierconcert
0102erklangen. Mit Unrecht hat man lange Jahre hindurch dieses
0103Concert zurückgestellt, welches Gedankenreichthum mit sinn-
0104lichem Reiz und edler Form so schön verbindet. Auch
0105Mendelssohn’s G-moll-Concert könnte aus dreißigjährigem
0106Schlummer jetzt wieder einmal erweckt werden. Man hat
0107uns in vormärzlicher Zeit damit überfüttert; jetzt regt sich
0108wieder der Appetit nach diesem den jüngeren Concertbesuchern
0109unbekannten Leckerbissen. Fräulein Ilona Eibenschütz
0110spielte das Schumann’sche Concert virtuos und ausdrucks-
0111voll; es war das Beste, was wir bisher von ihr gehört.
0112Für eine kräftige Auffrischung unseres Musiklebens
0113sorgen jetzt slavische Gäste: russische Sänger im großen
0114Musikvereinssaal, böhmische Quartettspieler bei Bösendorfer.
0115Wer erinnert sich nicht — drei Jahre zurück — an den
0116prächtigen Anblick und den eigenartig reizvollen Gesang von
0117Herrn Slaviansky’s Vocalcapelle? Diesmal ist es seine
0118Tochter, die schöne Frau Nadina Slaviansky-Kleb-
0119nikow, welche, durch Heirat von ihren Eltern getrennt,
0120einen eigenen Sängerchor zusammengestellt und nach Wien
0121gebracht hat. Eine Art Miniatur-Ausgabe der früheren
0122Capelle: nur 12 Knaben und 14 Männer. Es fehlen die
0123Frauen im Chor und die allerliebsten winzigen Mädchen, die
0124sich so schüchtern unter die Flügel der majestätischen Mama
0125Slaviansky duckten. Jetzt ist Nadina die einzige Frauenstimme; [2]
0126sie steht in prachtvollem Nationalcostüm an der Spitze ihrer
0127Sänger, gibt mit leiser Handbewegung den Tact und singt
0128die Soli, welche in den russischen Liedern so hübsch mit dem
0129Chor abwechseln. Ihre kleinen und großen Sänger sind
0130trefflich eingeübt; mit voller Sicherheit singen sie auswendig
0131das ganze lange Programm und bewahren die schönste Ueber-
0132einstimmung in dem häufigen Tempowechsel, wie in allen
0133Schattirungen der Tonstärke. Ueberraschend ist besonders ihr
0134zartes, echoartig ausklingendes Pianissimo. Die Tenor-
0135stimmen sind nicht klangvoll, desto imposanter die berühmten
0136abgrundtiefen russischen Bässe. In den ersten Nummern gab
0137es einige Unreinheiten in den Sopranstimmen; wahrschein-
0138lich in Folge der klimatischen Unbilden und arger
0139Reisemüdigkeit. Dieser schreibt man auch den Weg-
0140fall mehrerer Programm-Nummern zu und die allzu
0141langen Pausen zwischen den Abtheilungen des Concertes.
0142Die vorgetragenen Nationallieder (fast alle in Moll, die meisten
0143in zweitheiligem Tact) sind durchwegs originell in Melodie und
0144Rhythmus, auch interessant harmonisirt; echte Beweisstücke
0145für das intensive musikalische Talent des russischen Volkes.
0146Wie poetisch in Wort und Musik ist nicht gleich der erste
0147Chor „Bei der Pforte von Kaluga“, wie anmuthig das
0148Tanzlied „Der schwarzäugige junge Mann“ und das in
0149immer schnelleren Drehungen sich abwickelnde „Lied Wanja’s“!
0150Merkwürdige Gegenstücke dazu bilden zwei sehr langsam ge-
0151sungene schwermüthige Klagelieder: „Die Schnitterin“ und „Mein
0152Grashalmchen“. In letzterem Lied (das wiederholt werden
0153mußte) frappirte ein von Frau Nadina sehr leise angeschlagenes
0154und lange ausgehaltenes hohes C; es klang wie der feinste
0155Ton einer Glasharmonika. Auch zwei russische Kirchengesänge
0156bekamen wir zu hören, die — ohne Begleitung des Harmo-
0157niums — sehr präcis zusammenklangen. Die endlose Litanei
0158des zweiten sündigte übrigens auf die Geduld unseres Publi-
0159cums, das solchen Vorträgen nur ein musikalisches Interesse
0160und kein liturgisches entgegenbringt. Dem zweiten Concerte
0161der russischen Sänger (am 27. d. M.) wünschen wir den
0162besten Erfolg. Es wirkt immer erfrischend, wenn über die
0163alte Civilisation unserer Concerte sich einmal unvermuthet
0164ein Strom ursprünglicher Volksmusik ergießt.
0165Gleichzeitig mit der Production der russischen Capelle
0166gab bei Bösendorfer Fräulein Agnes Pyllemann ein
0167Concert, das, glaubwürdigen Berichten zufolge, der jungen
0168Sängerin zu hoher Ehre gereichte. Fräulein Pyllemann hat
0169aus ihrem ohnehin überreichen Programm mehrere Lieder
0170wiederholen und noch andere zugeben müssen. Ich habe
0171Fräulein Pyllemann (die sich selbst vortrefflich begleitet) im
0172häuslichen Kreise gehört und mich an dem eigenthümlichen
0173Klangzauber ihrer zarten Stimme ebenso sehr erfreut, wie
0174an ihrem feinen, seelenvollen Vortrag.
0175An zwei Abenden hat das „Böhmische Quartett“
0176sich mit außerordentlichem Erfolge hören lassen. Schmeichel-
0177hafter noch als der brausende Beifall mag ihm die Theil-
0178nahme der Zuhörer gewesen sein, die durch volle dritthalb
0179Stunden andächtig lauschend auf ihren Plätzen verharrten.
0180Die Quartett-Gesellschaft besteht aus vier jungen Leuten
0181von neunzehn bis zwanzig Jahren, die erst im letzten
0182Herbst das Prager Conservatorium verlassen haben. Der
0183Primgeiger Karl Hoffmann wirkt durch auffallend
0184großen Ton, tadellose Reinheit und glänzende Technik.
0185Der treffliche Secondspieler Herr Joseph Suk ist zugleich
0186ein talentvoller Componist und hat kürzlich auf Grund seines
0187Opus 1, eines Clavierquartetts, vom Unterrichtsministerium
0188ein Künstler-Stipendium erhalten. Edler, markiger Ton und
0189solide Technik sind auch den beiden tieferen Instrumenten
0190nachzurühmen: dem Violaspieler Nedbal und dem Violon-
0191cellisten Berger. Enthusiastischer Vortrag charakterisirt das
0192ganze Quartett. Da strömt Alles in jugendlicher Kraft und
0193Wärme dahin, ohne je die Grenzlinie musikalischer Schön-
0194heit zu überschreiten. Ein so herzhaft mitreißendes Quartett-
0195spiel haben wir lange nicht gehört. In feinster Ausarbeitung
0196und Schattirung des Details mögen die vier Prager Künstler
0197immerhin noch vorzuschreiten haben; dafür kennen sie auch
0198noch nicht die daran haftenden Gefahren: das absichtliche
0199Schönmachen einer Production und die Virtuosen-Eitelkeit,
0200welche sich über den Componisten stellen und extra neben
0201der Composition glänzen will. Mit wahrem Genuß hörten wir
0202von diesen begeisterten jungen Künstlern Smetana’s bekanntes
0203E-moll-Quartett, ein Werk, das durch originelle Schönheit
0204der Erfindung wie der künstlerischen Form zu den besten
0205Kammermusiken unserer Zeit gehört. Um ihre vornehmste
0206Absicht gleich vornherein kenntlich zu machen, haben unsere
0207Prager Gäste das erste Concert als „Smetana-Abend“
0208bezeichnet und ausschließlich diesem Meister gewidmet. Den
0209Anfang machte das Clavier-Trio op. 15. Es ist dreisätzig,
0210jeder Satz in G-moll. Der erste, von der Violine allein
0211mit einem pathetischen Recitativ eröffnet, athmet düstere
0212Leidenschaftlichkeit. Anmuthig hebt sich davon die volksthüm-
0213lich anklingende Melodie des zweiten Satzes ab; er ist durch
0214zwei Intermezzi auseinander geschnitten, von denen das
0215zweite, ein Maëstoso in C-moll, nicht recht zum Ganzen
0216passen will. Noch zerrissener durch wechselnde Tempi, Ton-
0217und Tactarten ist das Finale, ein Presto im Sechs-Achtel-
0218Tact, dessen geistreiches, leise hämmerndes Thema eine gleich-
0219mäßigere Verarbeitung erwarten ließ. Das G-moll-Trio
0220Smetana’s steht in formeller Hinsicht hinter dem E-moll-
0221Quartett zurück, enthält aber in jedem Satz wahrhaft geniale
0222Stellen. Den Clavierpart spielte Herr Joseph Jiranek,
0223Professor am Prager Conservatorium, mit Bravour und
0224großer Wärme, nur mit etwas schwer niederfallender Hand.
0225Schon seit seinem zehnten Jahre Schüler und Hausgenosse
0226Smetana’s, hat Herr Jiranek sich in den Musikgeist seines
0227Meisters völlig eingelebt und galt auch als Clavierspieler für einen
0228Doppelgänger desselben. Wir verdanken ihm die Bekanntschaft
0229einer Reihe größtentheils sehr origineller und reizvoller
0230Clavierstücke Smetana’s, deren Existenz uns bisher ein Ge-
0231heimniß gewesen. Nicht weniger als sechzehn solcher Stücke
0232spielte Herr Jiranek in Einem Zug, jedenfalls zu viel in-
0233mitten eines ohnehin langen Concerts. Aber es galt, diese
0234liebenswürdigen kleinen Genrebilder, die unter dem Grab-
0235stein czechischer Titelblätter durch Jahrzehnte begraben lagen,
0236endlich ans Licht zu heben. Clavier-Virtuosen dürften daraus
0237Nutzen ziehen für ihre stagnirenden Concertprogramme.
0238Manche dieser Stücke, besonders die „Träume“, verrathen
0239den Einfluß Chopin’s, andere, mehr virtuosenhafte,
0240das Studium Liszt’s. Eigenartiges blüht aber allenthal-
0241ben, am üppigsten in den „Böhmischen Tänzen“. Der zärt-
0242liche „Ulan“ (Uhlane), die zierlich trippelnde „Slepička“
0243(Henne), die bäuerische Lustigkeit des „Dupák“ (Strampfer),
0244der wirbelnde „Obkročák“ (Umdreher) — wie originell ist
0245das Alles in Rhythmus und Melodie, wie fein und glänzend
0246im Claviersatz!
0247Am zweiten Abend bekamen wir Dvořak’s Streich-
0248quartett op. 80 in E-dur zu hören. Ein erster Satz mit
0249etwas trockenem, aber in der Durchführung geistreich ver-
0250arbeitetem Thema; ein schwermüthiges Andante im Charakter
0251der südslavischen Dumkas; hierauf ein reizendes Scherzo [3]
0252(das Thema leicht anklingend an das Finale von Schu-
0253mann’s B-dur-Symphonie); als Finale ein Allegro voll
0254Leben und Feuer. Das Trio hat nicht die kecke Originalität
0255von Dvořak’s früheren Werken, aber mehr Ebenmaß und
0256combinatorische Kunst. Der exclusiv nationale Charakter
0257tritt in dem späteren Dvořak immer mehr zurück
0258und erscheint nur wie ein Dialekt, leicht abfärbend auf
0259unserer allgemeinen verständlichen, im Grunde Beethoven’-
0260schen Musiksprache. Eine kräftige und sympathische
0261Individualität spricht aus dem dreisätzigen Clavier-
0262quartett op. 11 von Zdenko Fibich. Man stützte ein
0263Weilchen über den Anfang des in E-moll stehenden Allegro
0264moderato: durch fünfzehn Tacte tremoliren die Streich-
0265instrumente ununterbrochen auf einer und derselben Note h,
0266im dritten Tacte fällt ein wunderlich zackiges, abgebrochenes
0267Motiv des Claviers in dieses Tremolo, wie ein Stein in
0268zitternden Wasserspiegel. Das gleicht weniger einem Quartett-
0269thema, als einer Wagner’schen Opernscene, etwa von der
0270Färbung des fliegenden Holländers. Es entwickelt sich jedoch
0271sehr interessante, tüchtige Musik daraus, die uns in an-
0272dauernder Spannung erhält. Wir stoßen auf harmo-
0273nisch Gewaltsames, nicht aber auf fade Redensarten
0274oder conventionell Verbrauchtes. Musikalisch abge-
0275klärter, dabei warm und stimmungsvoll wirkt das
0276Adagio mit Variationen, deren „Coda“ in langgezogener
0277Melodie entzückend schön ausklingt. Das Finale, ein ener-
0278gisches Allegro, fließt in starker Strömung ohne Grübeln
0279und Stocken vorwärts und gewinnt durch sinnige Reminis-
0280cenzen an die früheren Themen einen geistreichen effectvollen
0281Abschluß. Anklänge an slavische Volksmelodien fehlen fast
0282gänzlich in diesem Quartett, das wir als eine werthvolle
0283Bereicherung der modernen Kammermusik willkommen
0284heißen. Die Wiederholung einiger „Böhmischer Tänze“ von
0285Smetana und dessen E-moll-Quartett (auf allgemeines Ver-
0286langen) beschloß diesen Abend, der, gleich dem ersten, einen
0287großen Erfolg des böhmischen Quartetts bedeutet. Wie die
0288Spieler, so haben auch die von ihnen importirten Ton-
0289dichter an den Wiener Musikfreunden ihre Eroberung ge-
0290macht. In der That, die Czechen können stolz darauf sein,
0291in dem Triumvirat: Smetana, Dvořak und Fibich drei
0292Componisten zu besitzen, welche, an classischen deutschen
0293Mustern herangebildet, nationale Eigenart und ursprüngliche
0294Erfindung mit Kunstverstand und Schönheitssinn vereinigen.