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Neue Freie Presse
Morgenblatt
Nr. 10461. Wien, Freitag, den 6. October 1893

[1]

Hofoperntheater.

(„A Santa Lucia“, Oper von Pierantonio Tasca.)


0003Ed. H. Die „Cavalleria rusticana“ zählt, so jung sie
0004ist, bereits eine recht zahlreiche Nachkommenschaft. Der colossale
0005Erfolg dieser Oper, welche in den knappen Rahmen eines
0006Aufzuges eine erschütternde ländliche Tragödie zusammen-
0007preßt, hat auf die jungen Componisten wie ein Allarmschuß
0008gewirkt. Opern mit gewaltigen Leidenschaften und blutigem
0009Ausgang mußten ehedem stolze Könige und Helden ins
0010Treffen führen und, den großen Ereignissen entsprechend,
0011einen großen Raum von 4 bis 5 Acten ausfüllen. Nun
0012sehen wir plötzlich die tragische Oper zu Einem Acte ein-
0013geschrumpft und vom Hoflager oder der Ritterburg ins Dorf
0014herabgestiegen. „Mala vita“, „La festa marina“, „Pagliacci“
0015— ich nenne nur die in Wien bekannten — sind in Text
0016und Musik Abkömmlinge der „Cavalleria“. Ja, selbst die
0017deutschen Tondichter, welche kürzlich die Preisausschreibung
0018des Herzogs von Coburg beschickt haben, offerirten zum
0019größten Theil Rache, Eifersucht, Mord, Selbstmord und
0020Doppelmord — Alles in Einem Act. Die einactige Oper
0021war in Deutschland, Frankreich, Italien von jeher ein un-
0022bestrittener Besitz des Humors, der heiteren oder ausgelassenen
0023Laune. Die neueste Mode verlangt das Gegentheil. Es
0024scheint fast, daß Niemand mehr den natürlichen Frohsinn,
0025das leichtblütige Temperament besitzt für eine komische Oper.
0026Denn von unseren neuesten Operetten, deren angebliche
0027Komik zumeist in Witzkrämpfen mit schmetternder Orchester-
0028Begleitung besteht, kann doch hier nicht die Rede sein. Auch
0029die jüngste kleine Opern-Novität, die wir soeben kennen ge-
0030lernt, gehört zu den Dorftrauerspielen in Taschenformat.


0031Ciccillo, der Sohn des Austernhändlers Totonno, wahr-
0032scheinlich eine Art Cavalier unter der barfüßigen Strand-
0033bevölkerung von Neapel, hat ein armes braves Mädchen,
0034Rosella, verführt und verlassen. Er verleugnet sie und das
0035Kind, das sie ihm vor vier Jahren geboren. Warum? Weil
0036er — so antwortet uns der Dichter — schon als kleiner
0037Junge mit einer gewissen Maria verlobt worden war;
0038richtiger, weil er ein Lump ist. Denn er liebt Maria nicht,
0039vielmehr behandelt er sie mit der schnödesten Gleichgiltigkeit, 
0040wie es diese gar nicht liebenswürdige Person auch vollkom-
0041men verdient. Wir möchten auch fragen, weßhalb Ciccillo,
0042wie er im ersten Act selbst gesteht, von unaufhörlicher Eifer-
0043sucht gequält werde, ohne daß Rosella ihm dazu den
0044leisesten Anlaß gibt? Darauf erhalten wir gar keine Ant-
0045wort. In der verstoßenen Rosella wittert aber Maria immer
0046noch eine gefährliche Rivalin und trachtet, sie zu verderben.
0047Mit Hilfe eines schuftigen Polizeispions hofft sie das leicht
0048zu bewerkstelligen. Sie reizt und verhöhnt Rosella so lange,
0049bis Beide hart an einander gerathen. Maria stößt mit
0050roher Faust Rosella’s kleines Mädchen zu Boden; wie eine
0051Löwin springt die empörte Mutter auf und sticht mit einem
0052Messer nach ihrer Verfolgerin. Der Stoß geht fehl, aber
0053der mit seinen Häschern lauernde Spion Torre bemächtigt
0054sich Rosella’s und führt sie gefesselt auf die Polizei-
0055wache. Dort nehmen Totonno und sein Töchterlein
0056Concettina sich kräftig der Angeklagten an und er-
0057wirken ihre Freilassung. Totonno, der mit einem
0058absichtlich barschen Benehmen sein warmes Interesse für
0059Rosella maskirt, nimmt sie in sein Haus auf, um sie den
0060Nachstellungen der Polizei zu entziehen. Ciccillo tritt auf.
0061Er überhäuft Rosella mit Vorwürfen über ihre jähzornige
0062That, fühlt aber die alte Leidenschaft immer mächtiger er-
0063wachen; er verspricht wieder Lieb’ und Treue, und Rosella 
0064leistet ihm hochbeglückt den gleichen Schwur. Mit ihrem
0065Liebesduett schließt der erste Act. Der zweite spielt ein Jahr
0066später. Rosella hat sich im Hause des alten Totonno als
0067zärtliche Freundin seiner Tochter und musterhaft fleißige
0068Wirthschafterin bewährt. Der rüstige Witwer liebäugelt mit
0069dem Gedanken, Rosella, deren Verhältniß zu seinem Sohne
0070ihm unbekannt geblieben, zur Frau zu nehmen. Nach ein-
0071jähriger Abwesenheit heimkehrend, stößt Ciccillo gleich auf
0072Maria, welche, rachedürstend, ihm unverzüglich die angebliche
0073Verlobung seines Vaters mit Rosella meldet. Von seinem
0074Sohne befragt, gesteht Totonno seine Heiratsabsicht ein und
0075meint auf die Zustimmung seiner Erwählten rechnen zu
0076dürfen. Rosella weiß von alledem nichts. In heftiger
0077Empörung überhäuft Ciccillo das ahnungslose Mädchen mit
0078Vorwürfen ob ihrer Treulosigkeit. Auf ihre immer flehent-
0079licher wiederholte Betheuerung „Es ist nicht wahr!“ ant-
0080wortet er unbeugsam, er werde ihr niemals, niemals glauben.
0081Da eilt Rosella davon und stürzt sich ins Meer. Ciccillo 
0082trägt die Verscheidende auf seinen Armen ans Ufer. Mit
0083den Worten „Es ist nicht wahr!“ stirbt sie.


0084Die Verwandtschaft dieses Librettos mit der „Cavalleria“
0085ist augenscheinlich. Wie Turiddu, so steht auch Ciccillo 
0086zwischen zwei ihn begehrenden Frauen; er ist, wie sein Vor-
0087bild, ein Verführer von sehr beschränktem Verstand und
0088weitem Gewissen. In Rosella, der schwergekränkten ver-
0089lassenen Geliebten, haben wir eine zweite Santuzza. Ro-
0090sella und Ciccillo behaupten, ganz wie Santuzza und Tu-
0091riddu, den Vordergrund der Handlung und absorbiren allein
0092das ganze Interesse des Zuschauers. Alle Uebrigen sind
0093Nebenpersonen. Maria ist, wie die schöne Lola, der böse
0094Dämon im Stücke, nur mit einem andern Resultat: in der
0095Cavalleria“ fällt Turiddu zum Opfer, in „Santa Lucia“
0096die Rosella. Der Chor greift, hier wie dort, nicht activ in
0097die Handlung ein, sondern dient blos zu nationaler Charak-
0098teristik, als ethnographische Staffage der Landschaft. Die
0099Handlung, welche, an rein menschliche Gefühle appellirend,
0100die Sympathie des Zuschauers erregt, ist einheitlich aufge-
0101baut, ohne heftige Sprünge und doch wechselvoll ausgeführt. Nur
0102die Vorgeschichte und manche wichtige Voraussetzung erfor-
0103derten eine deutlichere, minder flüchtige Betonung. Vieles
0104bleibt im Vorüberfluß des Gesanges unverstanden, was im
0105recitirten Schauspiel mit wenigen nachdrücklichen Worten
0106vollständig aufgeklärt wird. Von den sämmtlich recht gut
0107charakterisirten Personen hat eine, nämlich Totonno, sogar
0108einen humoristischen Anflug, der leider in der Musik so gut
0109wie unverwerthet bleibt. In den Händen eines geistreichen
0110Componisten konnte der gutmüthige Polterer und verliebte
0111Alte eine sehr wirksame Figur werden.


0112Der Composition des Signor Tasca läßt sich einiges
0113Gute nachsagen. Der noch sehr junge Maëstro arbeitet
0114mit rühmlicher Sorgfalt; er besitzt Kenntnisse und Ge-
0115wandtheit, insbesondere was Instrumentirung betrifft, diese
0116unverhältnißmäßig starke Seite aller modernen Componisten.
0117Es fehlt ihm nur an Selbstständigkeit der Erfindung —
0118vielleicht werden spätere Jahre sie ihm bringen. Obgleich
0119ich „A Santa Lucia“ dreimal aufmerksam gehört habe,
0120wüßte ich doch nicht eine einzige Nummer zu bezeichnen, die
0121originell oder musikalisch hervorragend wäre. Bald hören wir
0122Verdi, bald Mascagni, am häufigsten ganz allgemein gewor-
0123dene conventionelle Phrasen, welche dadurch noch nicht zu [2]
0124bedeutenden Melodien werden, daß alle Geigen sie unisono
0125mitspielen. Wie alle Jung-Italiener legt Tasca das ganze
0126Gewicht seiner Erfindung auf eminent dramatischen Aus-
0127druck, auf die farbige Illustration der Handlung. Wo diese
0128vorwärtsdrängt, wird der Gesang fast zum Recitativ mit rasch
0129verschwindenden melodischen Ruhepunkten. Man kann Herrn
0130Tasca nicht den Vorwurf machen, daß er irgendwo die drama-
0131tische Wahrheit zu Gunsten einer reizvollen Melodie opfere
0132— wozu freilich gerade er nicht viel Selbstverleugnung nöthig hat.
0133Es ist Tasca hauptsächlich um die dramatische Stimmung
0134zu thun, und diese weiß er, wohlvertraut mit dem orche-
0135stralen Farbenkasten Wagner’s, meistentheils hervorzubringen.
0136So zum Beispiel am Ende des Liebesductts zwischen Ro-
0137sella und Ciccillo, über welches die in hoher Lage tremolirenden
0138getheilten Violinen ein verklärendes Licht breiten, worauf
0139nach einigen heftigen Schlägen der Act pianissimo ausklingt.
0140Verdi hat den Componisten in dem melodischen Inhalt,
0141Mascagni ihn mehr in Aeußerlichkeiten beeinflußt. Wie in
0142der „Cavalleria“ die Ouvertüre durch ein hinter dem Vor-
0143hang gesungenes Ständchen unterbrochen wird, so muß auch
0144in Tasca’s Einleitung das Orchester plötzlich schweigen, um
0145eine hinter der Scene von Mandolinen gezirpte Serenade
0146hören zu lassen. An einem Gebet der Landleute mit Orgel-
0147begleitung aus der Kirche fehlt es auch nicht. So geschickt
0148Tasca die musikalischen Ausdrucksmittel zu dramatischem
0149Ausmalen verwendet — auch diese Kunst scheint be-
0150reits seit Wagner ein erlernbares Gemeingut gewor-
0151den — so schwach zeigt er sich als selbstständiger Melodien-
0152schöpfer. Gleich das fröhliche Marktreiben in der ersten
0153Scene, mit der gesungenen und getanzten Tarantella: wie
0154ungleich lebensvoller und musikalisch reicher hat das schon
0155vor fünfzig ihren Auber in der „Stummen von Portici“
0156geschildert — Auber, der niemals in Italien gewesen!
0157Ciccillo’s Lied in Fis-moll (auch eine Anleihe beim Volks-
0158lied wie in „Cavalleria“ und „Mala vita“ klingt matt und
0159reizlos; und doch legt der Componist ihm eine besondere
0160Wichtigkeit bei, da er es schon in der Ouvertüre und dann
0161in der Sterbescene der Rosella wieder anbringt. Die beiden
0162Cantilenen Totonno’s — die angeblich humoristische „Son
0163vecchio“ und die übertrieben pathetische „E sua madre“ in
0164Des-dur — behelfen sich mit völlig verbrauchtem Material.
0165Das hübscheste Motiv der ganzen Oper erklingt im zweiten 
0166Act in der Scene Rosella’s mit Maria: „Per vostra
0167regola“.


0168So bescheiden auch die musikalische Bedeutung von
0169Tasca’s Oper sei, wir bleiben ihr doch zu aufrichtigem
0170Danke verpflichtet. Denn sie hat eine der genialsten
0171dramatischen Schöpfungen veranlaßt: die Rosella der
0172Bellincioni. Sie reiht sich nicht blos ebenbürtig an
0173die beiden, uns früher bekannt gewordenen Rollen der
0174Bellincioni (Santuzza und Cristina), sie überragt sie noch,
0175insoferne Rosella vom Dichter und Componisten breiter aus-
0176geführt und in wechselvollere Situationen geführt ist, also
0177der Darstellerin einen größeren Spielraum bietet. Es grenzt
0178ans Wunderbare, wie bei der Bellincioni Wort und Ge-
0179berde, Ton und Mienenspiel untrennbar in Eins zusammen-
0180fließen, zu überzeugendster Wahrheit, zu ergreifendster
0181Rührung. Nicht die kleinste conventionelle Geberde, Alles so
0182natürlich und bezeichnend, als ob es anders gar nicht sein
0183könnte! Und in dieser realistischen Wahrheit, selbst im leiden-
0184schaftlichsten Affect bewahrt die Bellincioni Maß und Schön-
0185heitsgefühl! Man müßte ihre Rosella Scene für Scene ver-
0186folgen, um dem Leser ein schwaches Bild von dieser so ein-
0187heitlich großen und zugleich in jedem Detail originellen Kunst-
0188leistung zu geben. Wie liegt der lange stille Kummer so rührend
0189auf ihrem Gesichte in den ersten Scenen ihres stummen Spieles;
0190wie streichelt sie traurig, zärtlich die Locken ihres schlummernden
0191Kindes, als sie von weitem die Stimme Ciccillo’s vernimmt!
0192Dann die elementarische Gewalt, mit der sie flammenden
0193Auges auf Maria losstürzt! Als dann Ciccillo sich ihr
0194nähert, wie weicht sie scheu zurück, nach allen Seiten spähend,
0195um den noch immer Geliebten nicht ins Gerede zu bringen;
0196ungläubig, mit abgewendetem Gesicht, hört sie seine Liebes-
0197betheuerungen, erst allmälig dem immer zärtlicher Zuspre-
0198chenden näher rückend, bis sie endlich überwältigt an seine
0199Brust sinkt, glückstrahlend und doch zugleich mit jener stillen
0200Trauer, die ja den Momenten höchster Seligkeit anhaftet.
0201Im zweiten Act ist sie eine ganz Andere, als zu Anfang des
0202Stückes. Ruhe, Sicherheit, Hoffnung sind nach langen Leiden
0203wieder in ihr Gemüth eingekehrt. Ihr Gang ist freier, ela-
0204stischer, ihre Haltung gehobener; jede Miene scheint zu sagen: es
0205geht jetzt Alles gut, ich werde wieder glücklich sein! Wie anders
0206begegnet sie nun den bösen Reden der Maria; sie schnellt sie
0207mit sicherer Ueberlegenheit von sich und beginnt sogar zu 
0208tanzen, zu singen, der Nebenbuhlerin zum Trotze, Ganz un-
0209vergleichlich spielt und singt Gemma Bellincioni diese Scene.
0210Doch das Unheil meldet sich nur zu schnell. Ciccillo, sich
0211getäuscht wähnend, stößt sie von sich, beschimpft sie. Hier
0212rührt uns die Bellincioni mit den ergreifendsten Lauten,
0213welche einer flehentlich Bittenden, ungerecht Verklagten zu
0214Gebote stehen. Außerordentlich ist ihr Spiel, ihr Blick, ihr
0215Ton in der kurzen Sterbescene. Nur den grellrothen Blut-
0216fleck auf ihrer Stirn hätte ich weggewünscht. Leiden und
0217Sterben, alle Trauer und Vernichtung können wir auf der
0218Bühne mitfühlend ansehen, aber das physisch Gräßliche, die
0219blutige Wunde, stößt uns peinlich ab. In der Probe, wo
0220die Bellincioni diese Scene noch ohne den Blutfleck spielte,
0221machte mir ihr Sterben einen reineren, tieferen Eindruck.


0222Und die Stimme der Sängerin, ist denn davon gar
0223nichts zu berichten? Ich habe, offen gestanden, wenig darauf
0224gehört. In einer so hohen dramatischen Schöpfung wie diese hört
0225der absolut musikalische Wohllaut beinahe auf, etwas Wichtiges
0226zu sein. Schönheit kann man dem Organ der Bellincioni 
0227eigentlich nicht zusprechen; es gleicht jenen Gesichtern, in
0228deren markirten Zügen vorzugsweise der Geist anzieht und
0229fesselt. Die hohen Töne der Bellincioni wirken noch mit
0230voller Gewalt; wir hörten sie wiederholt das zweigestrichene
0231A und B kräftig anschlagen und lange aushalten. Im
0232Medium verräth der mattere, auch häufig tremolirende Klang
0233die Nachwirkung großer Anstrengungen. Aber gleichviel —
0234eine Stimme, die so ungemein modulationsfähig und vom
0235Ausdruck durchgeistigt ist, wird noch lange im Stande sein,
0236Großes zu leisten. In Wien hat Gemma Bellincioni jetzt
0237einen ihrer größten Triumphe gefeiert.


0238Signor Stagno gab den Ciccillo kräftig und wirksam;
0239seine gute Methode vermag theilweise die Schäden einer be-
0240reits vor 25 Jahren gefeierten Tenorstimme zu verdecken.
0241Stagno wurde häufig applaudirt und mußte nach den Act-
0242schlüssen mit der Bellincioni und dem Maëstro Tasca 
0243wiederholt erscheinen. Ein großes Verdienst um die gelungene
0244Aufführung haben Frau Forster (Concettina), Frau
0245Kaulich (Maria), Herr Neidl (Totonno) und Herr
0246Felix (Torre). Die ganze Vorstellung, von einer sehr
0247malerischen Decoration wesentlich unterstützt, zeichnete sich
0248durch eine effectvolle Mise-en-scène und überaus lebendiges
0249Zusammenspiel aus.