Neue Freie Presse
Morgenblatt
Nr. 10879. Wien, Mittwoch, den 5. December 1894
[1]Concerte.
0002Ed. H. Das zweite Gesellschaftsconcert
0003bot eine interessantere Mannigfalt von Tonstücken und Per-
0004sonen, als die ihm vorausgegangene zweite Production der
0005Philharmoniker. Diese bescheerte uns die „Egmont“-
0006Ouvertüre, Liszt’s Es-dur-Concert und Bruckner’s C-moll-
0007Symphonie Nr. 2, welche bereits in den Jahren 1873 und
00081876 hier aufgeführt worden ist — also bekannte Werke.
0009Es bleibt somit nur der Erfolg zu constatiren, welchen
0010Herr Richard Epstein mit dem virtuosen Vortrage
0011des Liszt’schen Clavierconcertes errungen hat.
0012Im Gesellschaftsconcert concentrirte sich der Antheil
0013des Publicums zumeist auf Herrn Eugen d’Albert. Zuerst
0014trat er als Componist und Dirigent mit zwei neuen
0015größeren Tonwerken auf. Das „Vorspiel“ zu seiner Oper
0016„Der Rubin“ — dem Umfange nach eine stattlich aus-
0017gewachsene Ouvertüre — besteht aus zwei Theilen. Ein
0018langes Adagio, das eine sanfte Melodie von Flöten und
0019Oben über Harfen-Arpeggien ausführt, gilt offenbar der
0020in einen Rubin verzauberten Prinzessin; wir begegnen dem
0021Hauptmotiv wieder im zweiten Acte bei der Entzauberung
0022der Schönen durch den jungen Asaf. Ein rasches Lustspiel-
0023Allegro schließt sich an, das den kühnen Abenteurer Asaf
0024charakterisiren dürfte, worauf als Gesangsthema das erste
0025(Prinzessin-) Motiv in rhythmischer Verkürzung wieder auf-
0026genommen und lebhaft durchgeführt wird. Das ganze Stück
0027ist klar und verständlich gegliedert und effectvoll instrumen-
0028tirt. Viel Originalität und aus dem Innern quellende
0029Schöpferkraft konnte ich darin nicht entdecken. Bedeutender,
0030schwerer faßlich ist die zweite Composition d’Albert’s,
0031ein sechsstimmiger Chor mit Orchester-Begleitung: „Der
0032Mensch und das Leben“. Der Inhalt des Gedichtes
0033von Otto Ludwig liegt in der ersten Strophe ausgeprägt,
0034welche dem Ganzen wie eine Thesis vorausgeschickt und am
0035Schlusse wiederholt wird: „Mensch, du armer, lebengehetzter,
0036ewig hoffender, ewig enttäuschter Tantalus!“ Unverkennbar
0037ist die schon im Text begründete Verwandtschaft der Com-
0038position d’Albert’s mit dem „Schicksalslied“, zum Theile
0039auch mit dem „Parzenlied“ von Brahms. Ludwig’s
0040Gedicht gleicht einer Paraphrase der Hölderlin’schen
0041Ode von dem beklagenswerthen Los der Menschen,
0042„denen es gegeben ist, auf keiner Stätte zu ruhen“.
0043Sehr natürlich, daß d’Albert für den gleichen Vorwurf die
0044gleichen Farben gewählt hat wie Brahms. Nur linderte er
0045nicht, wie dieser in dem herrlichen Nachspiele des Schicksals-
0046liedes, die uns erdrückende Verzweiflung durch einen trösten-
0047den Ausblick. d’Albert, sagte ich, malt mit denselben Farben;
0048das gibt noch nicht dasselbe Bild oder ein gleich gutes.
0049Brahms’ „Schicksalslied“ ist ein herrliches Vorbild, aber ein
0050sehr gefährlicher Nachbar. An solche Werke erinnert nur mit
0051Vortheil, wer ihnen sehr nahe kommt. d’Albert greift zu
0052größeren Dimensionen und reicheren Mitteln als Brahms
0053(vier Hörner, drei Trompeten, drei Flöten, drei Pauken,
0054Tuba, Contrafagott, Harfe), erreicht aber nicht die er-
0055schütternde und zugleich erhebende Wirkung des Brahms’schen
0056Werkes, weil die gleiche Kraft und Tiefe des musikalischen
0057Gedankens fehlt. Mit dieser sich nothwendig aufdrängenden
0058Vergleichung sollen aber die Vorzüge von d’Albert’s Ton-
0059dichtung nicht geschmälert sein. „Der Mensch und das Leben“ ist
0060ein Werk reifer Kunst, von großer Auffassung des Ganzen und
0061vornehmem Ernst in jeder Note. Unter den jüngeren Componisten
0062Deutschlands nimmt d’Albert gewiß einen hohen Rang ein. Er
0063vereinigt künstlerischen Ernst und Aufrichtigkeit mit voll-
0064kommener Beherrschung aller Kunstmittel. Erstaunlich, wie
0065der Neunundzwanzigjährige, der bis vor Kurzem ganz der
0066Virtuosenlaufbahn angehörte, zu so früher Meisterschaft ge-
0067langen konnte. Was auch in seinen neuesten Werken uns
0068noch immer abgeht, ist der Stempel der Persönlichkeit, die
0069individuelle Physiognomie. In seiner Instrumentalmusik ver-
0070nehmen wir zwar nicht die Worte, aber die Stimmen
0071Brahms’ und des späteren Beethoven; in der Oper (soweit
0072ich nach dem Clavierauszug des „Rubin“ urtheilen kann)
0073die Stimme Wagner’s. Es scheint bei d’Albert sich derselbe
0074Seelenproceß vollzogen zu haben, nur früher, wie bei Liszt
0075und Rubinstein. Die Uebersättigung an der Virtuosität,
0076worin alle drei Meister eine noch höhere Stufe und größeren
0077Ruhm nicht mehr erreichen konnten, entfachte in ihnen die
0078glühende Sehnsucht nach eigenem Schaffen und nach gleicher
0079Anerkennung als Tondichter. Liszt und Rubinstein haben im
0080reiferen Mannesalter, d’Albert schon als Jüngling nach der
0081Palme des Tondichters gelangt in den größten, schwierigsten
0082Musikformen. Soweit wir d’Albert bis heute kennen, über-
0083trifft er Liszt und Rubinstein an gediegener ernster Schu-
0084lung, in contrapunktischer Kunst, in Beherrschung der Form
0085und des polyphonen Styls. Er erreicht sie aber nicht an
0086sinnlicher Kraft und Eigenart. Uebrigens steht d’Albert als
0087Componist im Anfang seiner Laufbahn und läßt noch einen
0088weiten Ausblick offen. Diesen hier nur ganz allgemein wieder-
0089gegebenen Eindruck hat mir auch d’Albert’s Es-dur-Quartett
0090(op. 11) bestätigt, das kürzlich von dem Böhmischen Quartett-
0091verein mit großem Beifall gespielt worden ist. Es scheint
0092mir bezeichnend, daß der weitaus gelungenste und
0093effectvollste Satz derjenige ist, welcher durch geschickteste
0094Mache und geistreiche Zuspitzung wirkt: das Scherzo. Alle
0095vier Instrumente mit Sordinen, die zwei oberen Geigen in
0096Terzen pianissimo, geisterhaft auf und nieder sausend, bald
0097von abgerissenen Pizzicato-Tönen geneckt, bald von breiten,
0098gehaltenen Baßnoten gestützt — ein Stück von glänzender
0099Aeußerlichkeit. Das Scherzo, von dem „Böhmischen Streich-
0100quartett“ ganz unübertrefflich vorgetragen, mußte wiederholt
0101werden, während die drei anderen Sätze, welche nach tieferer
0102Gemüthserregung streben, nur schwachen Eindruck erzielten.
0103Besäße d’Albert halb so viel Sinnlichkeit wie reflectirende
0104Kraft, so viel melodische Mitgift wie erworbene Kunst, alle
0105Herzen wären sein.
0106In einer kürzlich erschienenen autobiographischen Skizze
0107betont d’Albert mit starkem Nachdruck sein „unverfälschtes
0108Deutschthum“, das bisweilen wegen seines französischen
0109Namens und seiner englischen Geburt angezweifelt wird.
0110Gewiß, den echt deutschen Charakter seiner Compositionen
0111kann Niemand anfechten. Weniger vermag mich seine Polemik [2]
0112gegen die deutschen Opernbühnen zu überzeugen. d’Albert
0113sagt, daß „vielleicht mit Ausnahme von Karlsruhe“ (wo
0114d’Albert’s „Rubin“ mit Erfolg aufgeführt wurde) „auf
0115deutschen Bühnen kein Werk seines eigenen Werthes willen
0116angenommen wird“. Das möchte ich doch bezweifeln; freilich
0117rechne ich zu dem „eigenen Werth“ einer Oper auch den Vorzug
0118der Bühnentauglichkeit und Wirksamkeit. d’Albert klagt, daß nur
0119wer sich in die Gunst eines Intendanten einschmeichelt oder
0120die Schulden eines allmächtigen Capellmeisters tilgt, in
0121Deutschland eine Oper anbringt, „während der größte
0122Schund, die „Medici“, „Freund Fritz“ etc.“ überall ge-
0123geben wird. Ich bin kein Verehrer von „Freund Fritz“ und
0124„Medici“, aber an noch größerem „Schund“ — wenn schon
0125das harte Wort gestattet ist — leiden wir in Deutschland keinen
0126Mangel; er hat nur ein anderes Gesicht. Es ist ein wunder-
0127liches, ungerechtes Vorurtheil, welches meint, daß in Deutschland
0128mehr neue französische und italienische Opern gegeben werden,
0129als neue deutsche. Die Zahl der letzteren ist mindesten
0130drei- bis viermal so groß, aber die deutschen Novitäten ver-
0131mögen sich selten zu erhalten, während die fremden meistens
0132auf dem Repertoire verbleiben. Daran sind doch nicht gerade
0133die Theater-Directoren schuld. Sehr groß ist die Zahl der
0134deutschen Opern-Novitäten, die in den letzten dreißig Jahren
0135aufgeführt worden sind, seit Gounod’s „Faust“, A. Thomas’
0136„Mignon“ und Bizet’s „Carmen“; aber „Faust“, „Mignon“
0137und „Carmen“ erweisen sich bis heute noch lebenskräftig,
0138während von den gleichzeitig erschienenen deutschen Opern die
0139meisten kaum noch dem Namen nach gekannt sind. Man verfolge
0140nur unsere Musikzeitungen. An der Hand der Theater-
0141Statistik darf man die Behauptung wagen, daß es den
0142neuen deutschen Opern viel schwerer ist, am Leben zu bleiben,
0143als ins Leben zu treten. Anfänger bringen freilich ein erstes
0144Werk, auch ein werthvolles, überall nur mühevoll zur An-
0145nahme; einem berühmten und gefeierten Künstler jedoch wie
0146d’Albert kann dies unmöglich schwer fallen, wenn seine Oper
0147überhaupt lebensfähig ist.
0148d’Albert’s Selbstbiographie hat mich nicht sowol von
0149seiner Person, als vom Gesellschaftsconcert abgelenkt. Ich
0150kehre zu diesem zurück, um d’Albert die höchste Bewunderung
0151für seinen Vortrag des Es-dur-Concerts von Beethoven
0152auszudrücken. An Kraft und Zartheit, an glänzender
0153Technik und eindringendstem lebendigen Verständniß der
0154Composition, welcher von d’Albert nicht die kleinste moderne
0155Fälschung oder eigenwillige Deutung widerfuhr, war die
0156ganze Leistung unübertrefflich. Der Künstler feierte mit
0157diesem Stück, was doch kaum die Hälfte seiner Virtuosität
0158in Anspruch nimmt, einen Triumph ohnegleichen.
0159Zwei Chöre mit Orchesterbegleitung von Hugo Wolf,
0160„Elfenlied“ und „Der Feuerreiter“, haben großen Beifall
0161gefunden und sind auch das Beste, was ich von diesem auf
0162eng begrenztem Gebiete unendlich fruchtbaren Componisten
0163kenne. Hugo Wolf betreibt die Lieder-Composition im
0164Großen, nicht heft-, sondern bandweise, darin ein Rivale
0165des Grazer Balladenfabrikanten Martin Plüddemann, welcher
0166in einer eigenen Broschüre gegen die schnöden Verleger
0167wettert, deren Zurückhaltung ihn nöthige, für seinen nächsten
0168großen Balladenband eine vorläufige Subscription einzuleiten.
0169Hugo Wolf componirt nicht blos Gedichte, sondern sozusagen
0170ganze Dichter. Ein Band Goethe, 51 Gedichte (Preis
017125 Mark), ein Band Mörike, 53 Gedichte (Preis 25
0172Mark) u. s. w. Unser Componist liebt es leidenschaftlich,
0173die Clavierbegleitung zur Hauptsache, den Gesang zum An-
0174hängsel zu machen, mitunter auch die Begleitung zu einer
0175Art bissigem Störefried der Gesangspartie. Wie jedes selbst-
0176bewußt und revolutionär auftretende junge Talent verfügt Wolf,
0177der angebliche Erfinder des „symphonischen Liedes“, über eine
0178kleine enthusiastische Partei. Sie erblickt in Hugo Wolf den
0179Richard Wagner des Liedes wie in Bruckner den Richard
0180Wagner der Symphonie. Der Ruhm dieser beiden Neuerer
0181soll also, wenn wir es recht verstehen, darin liegen, daß
0182jeder aus seiner Kunstgattung (Lied, Symphonie) etwas
0183macht, was sie nicht sein soll. Mit den zwei obgenannten
0184Chor-Compositionen vollzieht Wolf den ersten Schritt, wenn
0185auch nicht zu größerer Form (denn beide Stücke sind ur-
0186sprünglich für eine Singstimme mit Clavierbegleitung er-
0187schienen), so doch zu reicheren Mitteln. Sein Versuch ist
0188geglückt. Beide Stücke gehören jener schildernden, malenden
0189Gattung an, welche dem Talent dieses Componisten am
0190willigsten entgegenkommt. Die gut declamirte und meistens
0191stimmgemäß gesetzte Chorpartie bewegt sich über einem
0192blendenden, raffinirt effectvollen Orchester. Im „Elfenlied“
0193sind die subtilsten Künste, im „Feuerreiter“ die grellsten der
0194modernen Instrumentirungskunst mit Erfolg aufgeboten.
0195An manchen Stellen des „Feuerreiters“ überwuchert leider
0196der Orchesterlärm so stark, daß man kein Wort versteht, was
0197doch gerade in der Ballade nicht ganz gleichgiltig ist. Im
0198Gesellschaftsconcert hat Herr Hugo Wolf sich zum ersten-
0199male einem größeren, nicht ausschließlich wölfisch gesinnten
0200Publicum mit Glück vorgestellt. Unzweifelhaft ein Mann
0201von Geist und Talent, hat er sich nur zu hüten vor Ueber-
0202hebung und vor „guten Freunden“.
0203Die letzte Nummer des Gesellschaftsconcerts war dem
0204Andenken Rubinstein’s gewidmet. Drei Chöre aus seiner
0205geistlichen Oper „Der Thurm zu Babel“ machten, von
0206Gericke dirigirt und vom „Singverein“ vortrefflich ge-
0207sungen, einen überaus erfrischenden Eindruck. Es ist der
0208Gesang der drei auswandernden Völkerstämme. Zuerst
0209intoniren die Semiten einen feierlichen Gesang von idealisirt
0210hebräischem Gepräge; es folgt ein Unisono-Chor der Hamiten,
0211wahre Mohrenmusik in athemversetzendem Zweivierteltact, von
0212wilden Trommelschlägen begleitet, ein Stück äußerster musi-
0213kalischer Realistik, aber an dieser Stelle der „geistlichen
0214Oper“ zweifellos berechtigt. Von diesen zwei vorangehenden
0215Chören wesentlich verschieden und gleichsam über ihnen
0216schwebend in süßem heiteren Frieden ertönt der Gesang der
0217Japhetiten, ein vierstimmiger Vocalsatz beinahe volksthümlich
0218deutschen Charakters, welchen in der zweiten und dritten
0219Strophe eine reichere Begleitung belebt und steigert. In
0220diesen drei Chören hat Rubinstein, der ja in nationaler
0221Charakteristik besonders glücklich war, ein lebensvolles, farben-
0222reiches Bild hingestellt, ein musikalisches Stück Völker-
0223Psychologie. In Compositionen dieser Art wird Rubin-
0224stein seine Bedeutung und seine Gewalt über die Zuhörer
0225lange behaupten.