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Neue Freie Presse
Morgenblatt
Nr. 10974. Wien, Mittwoch, den 13. März 1895

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Concerte.


0002Ed. H. In ihrem letzten Concertprogramm hatte die
0003Gesellschaft der Musikfreunde je einen Chor von Pale-
0004strina
und von Orlando Lassus angekündigt, im
0005letzten Augenblick aber auch diese äußerst homöopathische
0006Ehrenbezeigung für die beiden großen Tondichter zurück-
0007genommen. Der römische und der niederländische Meister,
0008durch gleiche Schule und gleiche Ziele mit einander ver-
0009bunden, sind es bekanntlich auch durch das gleiche Todesjahr
00101595 — eine Analogie mit Sebastian Bach und Händel,
0011welche wieder dasselbe Geburtsjahr 1685 vereint. Alle
0012größeren Concert- und Chorvereine haben sich eifrig erwiesen,
0013die 300. Wiederkehr von Palestrina’s und Lassus’ Todesjahr
0014zu feiern. Sie thaten damit ihre Pflicht, so gut sie konnten,
0015ohne sich durch die allerdings ungewöhnliche Anstrengung
0016dieses Studiums abschrecken zu lassen. Die beiden deutschen 
0017Großmeister, deren zweihundertjähriges Jubiläum wir vor
0018zehn Jahren gefeiert haben, machten uns freilich das Fest-
0019programm leichter. Bach und Händel leben mit ihren
0020Meisterwerken in der Nation fort; die Concertvereine durften
0021den „Messias“, den „Makkabäus“ oder das „Alexander-
0022fest“ wählen, die „Matthäus-“ oder die „Johannes-Passion“,
0023es war immer ein dem Publicum Wohlbekanntes und Hochwill-
0024kommenes. Mit Lassus und Palestrina hingegen machen wir
0025jetzt, nach 300 Jahren, eigentlich erst Bekanntschaft. In
0026Wien namentlich, das in der Pflege des a capella-Gesangs
0027so weit hinter den deutschen Musikstädten zurücksteht, sind
0028wir für diesen Kunstzweig des sechzehnten und siebzehnten
0029Jahrhunderts fast allein auf das Studium der Partituren
0030angewiesen. Und diese ersetzen am allerwenigsten bei Pale-
0031strina den lebendigen Gehörseindruck. Wer kennt nicht die
0032Schilderungen von der überwältigenden Wirkung der Mar-
0033cellusmesse oder die Improperien Palestina’s in der Sixti-
0034nischen Capelle! Da wirkt diese von keinem Instrumente
0035begleitete Gesangsmusik wie eine himmlische Offenbarung;
0036sie hört auf, ein persönliches Kunstwerk zu sein, und fließt
0037als sinnlich-geistiges Fluidum mit der gottesdienstlichen Feier
0038zusammen. Sie ist die ideale Kirchenmusik, die Kirchenmusik 
0039im strengsten Sinne, die, selbstlos, unterwürfig, den indi-
0040viduellen Charakter des Künstlers zurückdrängt, ohne welchen
0041wir eine moderne Tondichtung uns nicht denken können.
0042Ein älterer Aesthetiker hat als höchste Tugend einer Kirchen-
0043musik bezeichnet, daß man sie (als Composition) „gar nicht
0044merke“. In diesem Sinne ist für eine Palestrina-Feier die
0045Kirche der richtige Ort, nicht der Concertsaal, wo die
0046ästhetische Andacht herrscht über die religiöse. Die
0047Gemeinde unserer Musikfreunde ist nicht die Kirchen-
0048gemeinde; sie darf ihr eigenes Recht wol geltend machen.
0049Und diesem Rechte entspricht die Pflicht unseres ersten Musik-
0050institutes, den dreihundertjährigen Gedenktag Palestrina’s
0051und Lassus’ nicht unbemerkt vorübergehen zu lassen. Damit
0052hat sich die Gesellschaft der Musikfreunde in ihrem ur-
0053sprünglichen Programm ohnehin recht knickerisch und kleinlich
0054abgefunden. Nun mußten wir noch die Enttäuschung erleben,
0055daß auch diese Minimalfeier für Palestrina und Lassus im
0056Concert wegblieb. Ein im Saal vertheilter hoch- und scham-
0057rother Zettel begründete den Wegfall damit, daß eine
0058Anzahl Chorsänger an der Influenza daniederliegen. Diese
0059Entschuldigung wollte Niemandem recht einleuchten. Stand
0060doch unser „Singverein“ in imposanter Stärke auf dem
0061Podium und entfaltete in Humperdinck’s „Wallfahrt“
0062und dem „Triumphlied“ von Brahms den schönsten
0063Vollklang. Mit der Hälfte dieses Chors haben
0064andere Städte eine würdige Palestrina-Feier zu Stande ge-
0065bracht. Die „ungenügende Anzahl“ konnte somit kein ernstes
0066Hinderniß bedeuten, falls überhaupt die a capella-Chöre gut
0067studirt waren. Allein wir bekommen ja in vier Wochen noch
0068ein außerordentliches Gesellschaftsconcert! Da die Influenza
0069doch nicht als Orgelpunkt so lange fortbrummen wird,
0070dürfen wir hoffen, die Direction werde ihr Versprechen
0071nachträglich einlösen. Sie könnte dann schicklicherweise ein
0072Uebriges thun durch Hinzufügung auch einer weltlichen 
0073Composition sowol von Palestina wie von Lassus. Eines
0074der Madrigale Palestrina’s, am besten ein Stück aus seinem
0075Hohen Lied“, würde den Hörern eine hochwillkommene
0076Probe geben von seiner „profanen“ Musik. Palestina,
0077welcher diese „Cantica canticorum“ dem Papste Gregor XIII. 
0078widmete, bekennt sich zwar (ob aus voller Ueberzeugung?)
0079zu der katholischen Auslegung, welche die Liebeslieder 
0080Salamonis in die göttliche Liebe Christi zu seiner Braut,
0081der Seele, umdeutet: weltliche Gedichte, Liebeslieder bleiben
0082sie nichtsdestoweniger, und die schönsten aus dem Schatzkästlein
0083Palestrina’s. Noch merklicher als in Palestrina regt sich in
0084Orlando Lassus auch der weltliche Tondichter.*) Der
0093vielgereiste, an den verschiedensten Höfen gefeierte Meister,
0094in welchem niederländische, italienische, zuletzt deutsche Ein-
0095wirkungen zusammenflossen, zeigt, gegen Palestrina gehalten,
0096eine modernere Färbung und größere Hinneigung zu pro-
0097fanen Stoffen. Seine Madrigale waren hochgefeiert und
0098seine scherzhaften und komischen Chöre so allgemein beliebt,
0099daß man die ganze Gattung nach ihm „Orlandiaden“
0100nannte. Ihn auch von dieser Seite kennen zu lernen, würde
0101unseren Musikfreunden zu Nutz’ und Vergnügen und dem
0102großen Niederländer nicht zum Nachtheil gereichen. Also
0103hoffen wir auf das Erlöschen der Influenza!


0104Das zusammengeschmolzene, immer noch recht bunt-
0105scheckige Programm wurde durch Sebastian Bach’s 
0106G-moll-Orgelfuge eingeleitet, welche Herr Joseph Labor 
0107klar und sicher mit Vermeidung aller unpassenden Register-
0108Effecte ausführte. Daß übrigens Orgel-Soli im Concert-
0109saale meist einen anfremdenden, starren Eindruck hervor-
0110bringen, ist nichts Neues. Auf Bach folgte unmittel-
0111bar — Humperdinck! Seine Idee, Heine’s „Wall-
0112fahrt nach Kevlaar“ als Ballade für Soli, Chor und Or-
0113chester zu componiren, war nicht ganz so glücklich, wie der
0114Einfall mit Hänsel und Gretel. Der Text ist überall sinn-
0115getreu behandelt, aber stark auseinandergezogen und
0116aufgebauscht, um dem Stück zu anständiger Concert-
0117länge zu verhelfen. In dem sinnlichen Ausmalen
0118geht wol der Componist mitunter zu weit. Bei der Erzäh-
0119lung, daß Mancher, der auf Krücken nach Kevlaar gewallt,
0120„jetzo tanzet auf dem Seil“, fällt das mächtig anwachsende
0121Crescendo mit den flink hüpfenden Violin- und Clarinett[2]-
0122figuren, welche diese wunderbare Verwandlung mit der An-
0123schaulichkeit von etwas Gegenwärtigem zu schildern versucht,
0124völlig aus dem epischen Ton des Gedichtes. Ebenso das
0125H-dur-Fortissimo des Chores und der Blechinstrumente zu
0126den Worten: „Da lag dahingestreckt ihr Sohn, und der war
0127todt.“ Die ganze Composition läßt uns völlig gleichgiltig;
0128sie hat kein musikalisches Leben, weder melodische noch
0129rhythmische Kraft. Die Singstimmen folgen mit ihrem
0130gleichmäßigen Wechsel von Viertel- und Achtelnoten
0131pendelartig dem Versmetrum; diesen blutleeren Gesang
0132glaubt der Componist prächtig aufzufrischen durch eine
0133gekünstelte Orchester-Begleitung, welche geschäftig mit
0134kleinen Imitationen, Figurationen und wechselnden In-
0135strumenten experimentirt. Deutsche Erbsünde. Mit solcher
0136peinlichen Filigranarbeit im Orchester rettet man
0137keine Melodie, in der nichts steckt. Nicht Ein Tact
0138offenbart schöpferische Kraft; die „Wallfahrt“ trägt ebenso-
0139wenig einen persönlichen Stempel, ebensowenig eine charak-
0140teristische Physiognomie, wie Humperdinck’s kurz zuvor auf-
0141geführte „Humoreske“. Es mangelt diesem Componisten bei
0142großer technischer Geschicklichkeit durchwegs an eigener Er-
0143findung. Und das ist entscheidend. Als der gefeierte Jo-
0144melli
in einem Streit über das Talent Piccini’s den
0145Ausschlag geben sollte, that er es mit dem feierlichen Aus-
0146rufe: „Questi è inventore!“ Mit diesen drei Worten
0147dachte der ältere Meister, seiner Bewunderung für Piccini 
0148den kräftigsten Ausdruck zu leihen. In der That hat er
0149damit das Wesentliche der künstlerischen Production, das in
0150der Musik mehr als in jeder andern Kunst ein fortwährend
0151Neuesschaffen und Erfinden ist, treffend bezeichnet. Wer in
0152der Musik kein „Erfinder“ ist, wem die geheimnißvolle
0153Kraft versagt, in Tönen und aus Tönen selbstständig
0154Schönes, Neues zu schaffen, der kann ein technischer Virtuose,
0155ein geistreicher Experimentator werden — ein musikalisches
0156Genie nimmermehr. Die „Wallfahrt“ und die „Hu-
0157moreske“, in denen erst der richtige, persönliche Humper-
0158dinck sich uns präsentirt, ohne Hänsel und Gretel,
0159kinderlos, melodienlos — sie haben die Vermuthung be-
0160stätigt, die ich nach seiner Oper über den Umfang seines
0161Talents auszusprechen wagte. Damit war ich weit entfernt,
0162Werth und Wirkung speciell von „Hänsel und Gretel“ zu 
0163unterschätzen. Ich gehöre nicht zu den „Thoren“, denen, nach
0164Goethe, niemals einfällt, „wie sich Verdienst und Glück
0165verketten“. Die neue Idee, ein Kindermärchen mit bekannten
0166Kinderliedern zur Oper zu machen, das war das „Glück“;
0167im raschen Ergreifen und Ausführen lag das „Verdienst“.
0168Die beiden Elemente sind hier nicht mehr zu trennen; sie
0169verschmelzen sich zu dem „Stein der Weisen“: dem Erfolg.
0170Was hat nicht noch Alles beigetragen zu diesem ungeheuren
0171Erfolg! Welcher Glücksfund für alle großen und kleinen
0172Bühnen: eine Oper ohne Tenor, ohne dramatische Prima-
0173donna, ohne Costümprunk und mit zwei Kinderrollen, um
0174welche sich die jungen Sängerinnen raufen! Trotzdem bleibt
0175es dabei, daß die nicht von Humperdinck componirten Kinder-
0176lieder die ganze melodische Essenz seiner Oper ausmachen
0177und alles Uebrige geschickte Nachbildung Wagner’scher Decla-
0178mation und Instrumentirung ist. Nein, Humperdinck ist kein
0179„Inventore“. ... Die von Director Gericke sorgfältig
0180einstudirte „Wallfahrt nach Kevlaar“ erfreute sich der sehr
0181lobenswerthen Mitwirkung von Fräulein Josephine Statzer 
0182und Herrn Dippel.


0183Herr Hugo Becker — ein so eminenter Künstler,
0184daß ihn zu loben weder nothwendig noch schicklich ist —
0185spielte ein Violoncell-Concert von Haydn. Mit einer so ver-
0186alteten, nüchternen Gelegenheits- oder Gefälligkeits-Compo-
0187sition wird es dem besten Violoncellisten schwer, Effect zu
0188machen. Das sind lauter Gedanken und Nichtgedanken, die
0189hundertmal von Papa Haydn ausgesprochen und seither durch
0190Tausende von Händen gegangen sind. Kein glänzendes
0191Orchester-Zwischenspiel erweckt uns aus dem leichten Schlum-
0192mer dieser Violoncell-Solos, keine energisch contrastirende
0193Stimmung hebt die einzelnen Sätze von einander. Gewiß,
0194die dankbarsten Verehrer von Haydn’s Quartetten werden
0195eingestehen, daß wir diesem Violoncell-Concert entwachsen
0196sind, welches weder Pietät noch Virtuosität zu neuem Leben
0197erwecken können. ... Die Besucher des Gesellschaftsconcerts,
0198denen das Wasser der Langweile bereits ziemlich hoch an den
0199Hals stieg, wurden erst ganz zuletzt durch Brahms’ starke
0200Faust herausgezogen. Man gab ihnen den ersten Satz —
0201leider nur den ersten — des „Triumphliedes“, das, ein
0202Monument erstaunlicher Kunst und patriotischer Begeisterung,
0203in fernste Zeiten hineinragen wird.

Fußnoten
  • *)Noch in neuesten Musiklexikons und Handbüchern der Musik-
    geschichte finde ich den alten Irrthum festgehalten, daß Lassus eigent-
    lich Ronald de Lattre geheißen habe. Diese auf die Autorität
    Dehn’s hin nachgeschriebene Angabe ist von Edmond van der
    Straeten
    endgiltig widerlegt. Im sechsten Bande seines Werkes
    La musique aux Fays-Bas“ (1882) bringt dieser holländische Musik-
    forscher authentische Nachweise über die Familie des Componisten, die
    „Familie Lassus“.