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Neue Freie Presse
Morgenblatt
Nr. 11595. Wien, Donnerstag, den 3. December 1896

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Zum hundertsten Geburtstag Karl Loewe’s.


0002Ed. H. Am 30. November d. J., genau hundert Jahre
0003nach Karl Loewe’s Geburt, ist in Kiel das Denkmal des
0004geist- und gemüthvollen Balladen-Componisten enthüllt
0005worden. Es fügte sich schön, daß Eugen Gura, der vor-
0006nehmste Interpret Loewe’scher Gesänge, gleichzeitig in Wien 
0007eintraf und seinem Lieblings-Componisten eine glänzende
0008Huldigung darbringen konnte. Er hat gestern im Bösen-
0009dorfer-Saale ein eigenes „Loewe-Concert“ gegeben, dessen
0010Programm, ausschließlich aus Loewe’schen Gesängen gebildet,
0011eine zahlreiche Hörerschaft entzückte. Loewe’s Balladen sind
0012bei seinen Lebzeiten fast nur im häuslichen Kreise von be-
0013gabten und begeisterten Dilettanten gesungen worden. Schon
0014im Jahre 1842 klagte R. Schumann (in seiner Kritik 
0015des Oratoriums „Huß“), daß Loewe fast schon zu den
0016Verschollenen gehöre, trotz seiner regen, fortgesetzten
0017Productivität. In der That verlebte Loewe seine
0018letzten zwanzig Jahre wie ein Geheimniß und sein
0019Tod (1869) erregte wenig Aufmerksamkeit. Bei uns
0020haben in den Fünfziger-Jahren zwei warmherzige Sänger,
0021deren Namen aber kaum über Wien hinausgedrungen,
0022Ernst Förchtgott und Rudolph Panzer, mit ihren
0023Vorträgen für Loewe bescheidene Propaganda gemacht. Mit
0024diesen Beiden sind auch Loewe’s Balladen in Wien ver-
0025stummt für lange Zeit. Da traten im Jahre 1882 in
0026Berlin einige Kenner und Verehrer des Meisters zusammen
0027und stifteten auf Anregung des Predigers Dr. Max
0028Runze einen eigenen „Loewe-Verein“. Ihr Werk begann
0029schnell schöne Früchte zu tragen. Unter den Sängern war
0030es vor Allen Meister Gura, dessen Vortrag Löwe’scher
0031Balladen allerwärts zündete und heute noch, wo bereits
0032sein Sohn als Opernsänger wirkt, unübertroffen dasteht.
0033Nächst Gura sind insbesondere Georg Henschel in London 
0034und Albert Bach in Edinburgh seit Jahren als treffliche
0035Loewe-Sänger rühmlichst thätig. Alle drei Sänger haben nicht 
0036blos musikalisch zu Loewe’s Ruhm beigetragen, sondern auch
0037in klingender Münze sehr reichlich zu seinem Denkmal.
0038Die jetzt von der Jubiläumsfeier sich fortpflanzende Be-
0039wegung führt uns auch eine wenig verbreitete interessante
0040Schrift in Erinnerung: die von C. H. Bitter heraus-
0041gegebene Selbstbiographie Karl Loewe’s.


0042Sie ist allerdings nicht „Selbstbiographie“ in vollem
0043Umfang und strengem Sinne. Nur die erste Abtheilung
0044des Buches enthält eine von Loewe selbst dictirte Erzählung
0045seines Lebens; sie bezieht sich wesentlich auf seine Jugend-
0046geschichte bis zur Uebersiedlung nach Stettin. Ueber sein
0047späteres Leben erfahren wir das Wichtigste aus einer Reihe
0048chronologisch zusammengestellter Briefe, welche die zweite
0049Abtheilung des Buches bilden. Eine dritte Abtheilung
0050endlich bringt uns die Aufzeichnungen der Tochter Loewe’s
0051über seine letzte Lebenszeit.


0052Johann Karl Gottfried Loewe wurde, das Jüngste von
0053zwölf Geschwistern, am 30. November 1796 in dem Städtchen
0054Löbejün bei Halle geboren. Von seinem Vater, der dort
0055Cantor und Lehrer war, erhielt er eine streng religiöse
0056Erziehung und die Grundlage seiner musikalischen Bildung.
0057Das schöne, tiefe Gemüth Loewe’s verräth sich schon in der
0058Weise, wie er von seiner arbeitsamen und doch so glück-
0059lichen Kindheit erzählt. Er mußte überall wacker mithelfen
0060im Hause, einkaufen, Wasser tragen, Kartoffeln ausgraben,
0061sogar den Pferdemist aufsammeln, der im Obstgarten als
0062Dünger verwendet wurde. „Mit welchem Vergnügen,“
0063ruft er aus, „ruhte ich während der warmen Sommernächte
0064in den kleinen Strohhüttchen, in denen ich das reifende
0065Obst bewachen mußte!“ Die schönsten Stunden brachten
0066ihm aber die Winterabende. „Wenn die Mutter den ganzen
0067Tag unermüdlich für uns geschafft hatte und der Abend
0068zu dunkeln begann, dann setzte sie sich an den großen
0069Ofen, mein Platz war zu ihren Füßen und meinen Kopf
0070legte ich in ihren Schoß. So saßen wir eine zeitlang halb
0071träumend da. „Jetzt laßt mich gehen,“ sagte sie dann zum
0072Vater und zu den Geschwistern, und dann fing sie, die ich
0073vor Allen liebte, an zu erzählen — wunderschöne Erinne-
0074rungen aus ihren Jugendjahren, alte, längstverklungene Ge-
0075schichten, die noch immer wie seltsame Märchen vor meiner
0076Seele stehen. Meine Augen streiften dann oft aus den 
0077Fenstern unserer Wohnstube, die auf einen alten, verfallenen
0078Kirchhof hinausgingen, über dessen zerfallende Hügel und
0079morsche Kreuze hinaus und gruben sich in das dunkle Laub
0080der alten Linden ein. Wenn so die Mutter endlich still
0081geworden war und ich mich fester an ihre Knie drückte,
0082dann pflegte ich auch zu bitten: „Mama, nun spiele noch
0083etwas“; dann nahm sie lächelnd die Violine, mit der mein
0084Vater in der Schule den Gesang leitete, und spielte auf ihr
0085die schönsten Melodien. Nie hatte sie Unterricht im Violin-
0086spiel gehabt, doch sang ihr Ton mir so tief ins Herz hin-
0087ein!“ Diese Jugend-Eindrücke fühlen wir wie ein fernes
0088Echo aus manchen der schönsten Balladen Loewe’s nach-
0089klingen.


0090Sehr hübsch schildert er auch sein Leben als Chor-
0091schüler in der kleinen, stillen Residenz Köthen. „Dieser
0092aus sechzehn Schülern bestehende Chor mußte durch drei-
0093maliges Singen auf den Straßen, vor den Thüren der
0094wohlhabenderen Einwohner seine Existenz ersingen. Die
0095abenteuerliche, althergebrachte Tracht dieser kleinen Sänger
0096bestand aus einem dreieckigen Hut und einem langen
0097schwarzen Mantel, vom Hinterkopf herab hing aber ein ehr-
0098würdiger Zopf.“ Von Köthen kam der dreizehnjährige Loewe 
0099nach Halle, wo der alte, berühmte Theoretiker Türk sich
0100eifrig der musikalischen Ausbildung des Knaben widmete.
0101Nach Türk’s Tod wendete er sich wieder den wissenschaft-
0102lichen Studien zu und bezog 1817 die Universität, um nach
0103dem Lieblingswunsche seines Vaters Theologie zu studiren.
0104In diese Studentenzeit fallen seine ersten Balladen, welche
0105sein intensives und eigenartiges Talent bereits vollständig
0106offenbarten. Seine Bekanntschaft mit C. M. Weber und
0107Hummel verhalf ihm im Jahre 1820 zu einer Anstellung in
0108Stettin als Musikdirector, Cantor an der Jacobskirche und
0109Gymnasial-Lehrer. Nun führte er auch seine Braut, Julie
0110v. Jacob, heim. In Stettin blieb er bis zum Jahre 1864,
0111also volle 44 Jahre, in rastloser, fruchtbringender Thätig-
0112keit. Er stiftete daselbst einen Gesangverein, bildere zahl-
0113reiche Schüler und machte sich um das Musikleben seiner
0114neuen Heimat außerordentlich verdient. Sein vierjähriger
0115Aufenthalt in dem weltentlegenen Stettin war nur durch
0116kleinere Reisen unterbrochen, die er zur Ferienzeit unter-
0117nahm, um in verschiedenen deutschen Städten seine Balladen [2]
0118vorzutragen und der Aufführung seiner Oratorien bei-
0119zuwohnen.


0120Von diesen musikalischen Reise Loewe’s erhalten wir
0121ein getreues, lebhaftes Bild durch die Briefe Loewe’s.
0122Sie sind größtentheils an seine zweite Frau gerichtet (die
0123erste war ein Jahr nach ihrer Vermälung gestorben), außer-
0124dem an den Dichter L. Giesebrecht, den Pastor Kefer-
0125stein
und einige andere intime Freunde. Wer in diesen
0126Briefen bedeutende Gedanken über Musik, eingehende oder
0127auch nur eigenthümliche Urtheile über Künstler und Kunst-
0128werke erwartet, dürfte nicht seine Rechnung dabei finden.
0129Nicht entfernt sind diese Mittheilungen mit Mendels-
0130sohn’s
reichhaltigen Reisebriefen zu vergleichen; es sind
0131ganz eigentlich Familienbriefe und beschäftigen sich am meisten
0132mit der Person des Schreibers selbst. Trotzdem machen diese
0133schlichten, warm empfundenen und lebhaft erzählten Mit-
0134theilungen einen günstigen Eindruck, denn sie sind der
0135unmittelbarste Abdruck einer edlen, liebenswürdigen Natur.
0136Ein besonderes Interesse für uns haben Loewe’s Briefe aus
0137Wien. Sie überfließen fast vor Lob und Entzücken, so
0138glücklich fühlte sich Loewe in Wien. Er erfuhr an sich den-
0139selben eigenen Zauber, den Wien auf alle Tonkünstler zu
0140üben pflegt; von Beethoven an, der für „einige Monate“
0141nach Wien gekommen war und es zeitlebens nicht wieder
0142verließ, bis auf den träumerischen, stillen Schumann, der
0143mir im Januar 1847 gestand, er würde sich am liebsten
0144in Wien bleibend niederlassen, wenn er da einen fruchtbaren
0145Wirkungskreis fände.


0146Loewe kam nach Wien im Juli 1844. So gewaltig hat
0147sich seither Vieles verändert, daß man mitunter seinen Augen
0148nicht traut. So reist Loewe zum Beispiel fünf Tage lang
0149von Prag nach Wien (über Znaim); „unter fünf Tagen,“
0150schreibt er, „ist die Reise nicht möglich, wenn man sich
0151nicht über die Gebühr anstrengen will.“ In Wien findet
0152er das Leben „billig, auch wenn man sich nichts ab-
0153gehen läßt“! Sein Mittagmal mit Wein kostet einen
0154Drittelgulden und ist so ausreichend, daß er „mit dieser
0155Malzeit, zwischen zwei und drei Uhr genossen, vollständig
0156befriedigt zu Bette gehen kann“. Er beneidet die Wiener,
0157welche nur zehn Stunden (!) zu fahren brauchen, um ihre
0158Villen zu erreichen. Zuerst besucht Loewe Frau v. Goethe, 
0159deren Sohn Walther sein Schüler gewesen; sie gehen
0160mit einander zu Dr. Becher, Professor Fischhof und
0161anderen Musik-Notabilitäten. Am meisten gefällt sich Loewe 
0162in dem gastfreien, anregenden Hause des Hofrathes
0163Vesque v. Püttlingen (Hoven), wo ihm zu Ehren eine
0164Soirée gegeben wird. „Alles brannte auf meinen Vortrag,“
0165schreibt Loewe seiner Frau, „und das ist wahr, die Wiener
0166verstehen mich und verstehen auch zu hören; sie sind so
0167gespannt aufmerksam! Die Domestiken werden gewarnt, von
0168Außen nicht die Thür berühren zu lassen, und es rührt
0169sich kein Auge im Kopfe. Ich sang „Der Wirthin Töchter-
0170lein“, „Heinrich der Vogler“, „Die nächtliche Heerschau“ und
0171das „Hochzeitslied“. Mein Ruf breitet sich hier nach und
0172nach aus. Wenn ich einen Winter hier zubringen könnte,
0173würde mir vor den schönsten Erfolgen nicht bange sein.
0174Wäre ich zehn Jahre jünger, dann bliebe ich hier, aber so
0175ist es nichts mehr für mich. Ich sehe in Wien nur bestätigt,
0176was mir sonst immer klar ahnte, daß ich von vornherein in
0177größere Verhältnisse hätte eintreten müssen. Vesque sang
0178auch sechs seiner Lieder von Heine mit einer angenehmen
0179Stimme, geistreichem Vortrag und vortrefflichem Spiel.
0180Unter den Herren, die ich hier kennen lernte,“ erzählt Loewe 
0181weiter, „befindet sich auch ein junger, talentvoller Referen-
0182darius, der die Zither sehr artig spielt. Es ist dies ein In-
0183strument, das ich noch nicht kannte; er heißt Alexander
0184Baumann
und will mir einen Operntext schreiben: „Don
0185Quixote“. Baumann glaubt, daß ich eine ungeheure Ader
0186für komische Musik in mir habe; das wäre ihm mächtig im
0187Hochzeitslied“ klar geworden. Er gilt viel bei Hofe; dabei
0188ist er bildhübsch, hat zu Allem Talent, ist witzig, geistreich
0189und sehr gebildet.“ Auch die materiellen Genüsse weiß Loewe 
0190zu würdigen, und genau wie Robert Schumann nach
0191einem Diner bei Vesque schreibt, „von solcher Kochkunst
0192hatte ich bisher keinen Begriff“, bekennt Loewe den
0193„Respect“, den er bei Vesque’s Schwiegervater, Herrn
0194v. Plappart, vor der Wiener Küche bekommen. Vesque und
0195Baumann führen ihn nach Vöslau zur Frau v. Pereira,
0196wo „Dessauer einige seiner schönen Compositionen ganz
0197herrlich sang“. Am 8. August, Mittags, gab Loewe in
0198Streicher’s Claviersalon ein Privatconcert vor hundert bis
0199hundertundzwanzig eingeladenen Zuhörern, da ein öffent-
0200liches Concert nicht zu Stande zu bringen war. „Die
0201Wiener sind herrliche Leute, aber sie sagen in ihrer gemüth-
0202lichen Art: Zur Sommerszeit könnte auch Gott Vater ein
0203Concert geben, es „kam Kaner“. Ruhm, Ehre und Freude
0204genießt Loewe vollauf in Wien, er bedauert nur, nicht fünf-
0205zehn Jahre früher hingekommen zu sein: „Ihr herrlichen
0206Wiener habt von mir nur noch einen Nachklang ver-
0207gangener Tage.“ Mit schwerem Herzen nimmt er Abschied
0208von Wien, um über Linz, Prag und Dresden nach Stettin 
0209zurückzukehren.


0210Mit der Reise nach London im Sommer 1847 waren
0211Loewe’s künstlerische Wanderungen beendigt. Die Aufzeich-
0212nungen seiner Tochter Helene über Loewe’s letzte Lebenszeit
0213beschließen das Buch und vollenden uns das Bild dieser
0214liebenswürdigen, eigenthümlich abgeschlossenen Künstlernatur.
0215Loewe lebte in Stettin in angenehmen geselligen Verhält-
0216nissen; unter seinen intimeren Freunden tritt besonders
0217Ludwig Giesebrecht hervor, der den Text der meisten
0218Oratorien Loewe’s gedichtet hat. Nachdem Loewe im Jahre
02191864 einen Schlaganfall erlitten, erfolgte seine Pensionirung.
0220Er empfand sie als eine bittere Kränkung und faßte bald
0221darauf den schweren Entschluß, Stettin zu verlassen und
0222nach Kiel zu übersiedeln. Dort hat er, umgeben von der
0223liebevollsten Pflege seiner nächsten Angehörigen, den Rest
0224seines Lebens verbracht. Am 20. April 1869 machte ein
0225zweiter Schlaganfall seinem Leben ein Ende. Loewe’s zweite
0226Frau ist im November vorigen Jahres, neunzig Jahre alt,
0227in Unkel am Rhein gestorben, wohin sie mit ihrer Tochter 
0228und den Enkelinnen aus Kiel übersiedelt war. Die Freude
0229ist ihr doch noch geworden, die Vorbereitungen zu dem
0230Denkmal und die wachsende liebevolle Anerkennung ihres
0231Gatten zu erleben.


0232Karl Loewe hat über 150 Compositionen veröffentlicht;
0233außerdem hinterließ er eine Anzahl größerer ungedruckter
0234Compositionen, welche wol schwerlich das Licht der Oeffentlichkeit
0235erblicken werden. Ein stiller Seufzer über die Vergänglichkeit
0236musikalischer Kunst, über so viel verlorene Mühe und Liebe
0237entwindet sich wol Jedem, der das lange Verzeichniß von
0238Loewe’s Werken durchblättert. Da finden wir Sym-
0239phonien, Sonaten, Streichquartette, Clavierstücke, welche,
0240seit Decennien gedruckt, doch eigentlich nie recht bekannt ge[3]-
0241worden sind. Loewe’s Opern und Oratorien können heute
0242für verschollen gelten. Einige dieser Oratorien haben aller-
0243dings bei Lebzeiten des Componisten in wiederholten Auf-
0244führungen einen respectablen Erfolg errungen, so z. B. „Die
0245Siebenschläfer“, „Johannes Huß“, „Die Zerstörung Jeru-
0246salems“, „Die Apostel von Philippi“ und „Guttenberg“;
0247von den Opern ist eine von Raupach gedichtete: „Die drei
0248Wünsche“, an einigen Bühnen mit Beifall gegeben worden.
0249So viel schöne Einzelheiten sich auch in diesen größeren
0250Werken finden, so wenig können sie verhehlen, daß weder
0251die Oper noch das Oratorium Loewe’s eigentliches Fach
0252war. Ihr Styl kommt uns heute seltsam veraltet vor. Hin-
0253gegen läßt sich mit Zuversicht hoffen, daß Loewe’s Balla-
0254den
ein theures, lebendiges Eigenthum der Nation bleiben
0255werden. Die Balladen-Composition ist Loewe’s künstlerische
0256Specialität; er ist darin geradezu einzig, wie Schubert 
0257im Liede. Ein merkwürdiger Zufall will es, daß diese bei-
0258nahe gleichalterigen Tondichter (Schubert war genau zwei
0259Monate jünger als Loewe) auch in ihrem allerersten Werke
0260zusammentreffen: Die Composition des „Erlkönig“ ist sowol
0261bei Schubert wie bei Loewe Opus 1; Beide haben auch
0262dieselbe Tonart, G-moll. Der Balladen-Componist Loewe 
0263stand schon in seinen ersten Versuchen ausgeprägt und fertig
0264da. In dem wunderbar richtigen Treffen der Stimmung
0265des Gedichtes war darüber kaum ein Fortschritt möglich;
0266doch hat sich Loewe später noch bedeutendere Aufgaben ge-
0267stellt und sie mit gereifterer Kunst gelöst, wie dies die
0268farbenglühenden Schilderungen im „Mohrenfürsten“, „Archi-
0269bald Douglas“, „Die verfallene Mühle“ u. s. w. glänzend
0270darthun. Für den Sänger gehören diese Balladen keines-
0271wegs zu den leichten Aufgaben; sie verlangen nebst einem
0272bedeutenden Stimmumfange vor Allem deutliche Aussprache
0273und einen phantasievoll nachdichtenden, fein schattirten Vor-
0274trag. Wie dankbar und effectvoll aber die Loewe’schen Balladen
0275für den tüchtigen Sänger sich erweisen, das haben wir
0276soeben wieder von Gura erfahren. Es wäre zu wünschen,
0277daß nach seinem Beispiel auch jüngere berufene Kräfte sich
0278dieser schönen und lohnenden Aufgabe wieder zuwenden
0279möchten.