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Neue Freie Presse
Morgenblatt
Nr. 11806. Wien, Dienstag, den 6. Juli 1897

[1]

Johannes Brahms.

(Erinnerungen und Briefe.) IV.

(Schluß.)


0004Ed. H.*) Brahms’ allgemeine Bildung war viel um-
0007fassender und tiefer, als man nach flüchtiger Bekanntschaft
0008vermuthen mochte. Was in seiner harten, entbehrungsvollen
0009Jugend ihm verwehrt geblieben, hat er später mit an-
0010dauernder Energie nachgeholt. Eine bewunderungswürdig
0011rasche Auffassung und ein ebenso außerordentliches, nie ver-
0012sagendes Gedächtniß unterstützten ihn in seinen Studien.
0013Oft erfuhr man erst nach Jahren, wenn ein Stichwort
0014zwingenden Anstoß gab, wie fest beschlagen er war in
0015literarischen Dingen. Mit seiner Belesenheit zu prunken,
0016fiel ihm nicht ein; er versteckte sie lieber. Der reine Gegen-
0017satz zu Liszt, der in seinen musikalischen Aufsätzen fort-
0018während mit Dante, Shakespeare, Goethe, Michelangelo,
0019Albrecht Dürer herumwirft, auch mit Plato, Spinoza,
0020Kant und Hegel, von denen er schwerlich ein Capitel selbst
0021gelesen hatte. Vollends zuwider waren Brahms jene neuesten
0022Musikkritiker, die sofort Schopenhauer und Nietzsche citiren,
0023sobald sie eine neue Oper oder Symphonie anschneiden.
0024Wie genau kannte Brahms unsere classische Literatur, wie
0025tief hatte er ihre Meisterwerke in sich aufgenommen.
0026Manche seiner literarischen Sympathien waren mir nicht
0027ganz erklärlich, so z. B. daß er immer und immer wieder
0028bis in sein Alter Jean Paul lesen konnte und die humo-
0029ristischen Romane von Swift und Fielding. Letztere in
0030deutscher Uebersetzung. Für fremde Sprachen besaß er kein
0031Talent, hat niemals, auch nur für den allerdürftigsten
0032Hausgebrauch Französisch oder Englisch erlernt. Der neuesten
0033Literatur näherte er sich mit sehr zurückhaltender Auswahl.
0034Es ist ja unzweifelhaft das Uebel der neuen Bücher, daß
0035sie uns verhindern, die alten wieder zu lesen. Die realisti-
0036schen Erzeugnisse unserer Modernsten erregten Brahms’
0037Widerwillen; hingegen las er mit nie abwelkendem Genuß 
0038die Novellen Gottfried Keller’s und die Dichtungen seines
0039Freundes J. V. Widman in Bern.


0040Auch die Politik — sonst das gemiedene und ver-
0041schmähte Aschenbrödel der Künstler — verfolgte Brahms 
0042aufmerksam. In einem seiner Briefe finde ich sogar leiden-
0043schaftliche Theilnahme an einem speciell österreichischen
0044Zwischenfall. Er schreibt mir aus Wiesbaden im Juni 1883:


0045„Liebster Freund! Ich muß mein Hurrah Jemandem
0046zurufen, mein fröhliches, kräftiges Hurrah den Professoren
0047für ihren Brief an Rector Maaßen.**) Man muß so viel
0052Oesterreicher sein wie ich, die Oesterreicher so lieben wie ich,
0053um jeden Tag beim Zeitungslesen traurig zu sein, dann
0054aber auch einmal, wie jetzt, so ernstlich erfreut zu werden!
0055Regelmäßig lese ich leider nur das „Fremden-Blatt“, das
0056eine prinzeßliche Freundin hier hält und mir schickt. Ich
0057bin immer noch Lamezan dankbar für die Ohrfeige, die er
0058dem Blatt diesen Winter gab. Wenn ich nur die confiscirten
0059Nummern kriegte, ich abonnirte auf die „Neue Freie Presse“!


0060Und Freund Billroth will immer noch nicht Wag-
0061nerianer werden? Wozu wartet er so lang, einmal muß er
0062doch daran.“


0063Ein guter Oesterreicher war Brahms geworden und
0064zugleich ein treuer Reichsdeutscher geblieben. Mit wärmster
0065Theilnahme und Aufmerksamkeit las er die historischen
0066Werke von Sybel und Treitschke, zuletzt Oncken’s 
0067Buch über Kaiser Wilhelm. Für Bismarck hegte er eine
0068leidenschaftliche Verehrung, ließ sich gern jedes seiner Bild-
0069nisse schenken, liebte seine Reden und kannte Alles, was
0070über den Eisernen Kanzler geschrieben war. Noch drei
0071Wochen vor seinem Ende, als die tückische Krankheit ihm
0072jede Lebensfreudigkeit geraubt hatte, klagte er seinem treuen
0073Freunde Herrn Arthur Faber, er könne Gelesenes nicht
0074mehr behalten. „Nur über Bismarck möchte ich lesen; schick’
0075mir das Buch von Busch: „Bismarck und seine Leute.“


0076Rodenberg’s „Deutsche Rundschau“ zählte ihn zu ihren
0077dankbarsten Lesern. Ueber das Juni-Heft 1894, welches
0078einen Theil meiner Memoiren brachte, schrieb mir Brahms 
0079aus Ischl: „Für deinen lieben und lustigen Gruß aus
0080Karlsbad danke ich schön, und noch viel schönerer für dein
0081letztes schönstes Heft. Ich sagte dir schon und es war auch
0082diesmal so: jedem neuen Hefte sehe ich mit Bedenken ent-
0083gegen, und jedes überrascht mich auf das unerwartetste und
0084beste. Ich könnte und möchte von manchem Einzelnen an-
0085fangen, nicht zuletzt von der Schilderung früherer klein-
0086bürgerlicher und städtischer Verhältnisse — aber ich hoffe,
0087wir plaudern hier oder dort nächstens.“


0088Von modernen Malern waren es insbesondere zwei,
0089welche Brahms in hohen Ehren hielt: der Altmeister Adolph
0090Menzel und der in unseren Tagen zur Berühmtheit ge-
0091langte Max Klinger. Die Sympathien waren gegen-
0092seitig. Der trotz seines hohen Alters stets frische, bewegliche
0093Menzel hat Brahms wiederholt in Wien besucht und ihn in
0094Berlin ganz ausnehmend gefeiert, Klinger fühlte sich von
0095Brahms’ Musik zu vielen seiner merkwürdigsten Schöpfungen
0096entzündet. Nach Empfang von Klinger’s neuestem Album
0097Phantasien“ schrieb mir Brahms sofort:


0098„Lieber Freund! Die neueste Brahms-Phantasie nur
0099anzuschauen, ist mehr Genuß, als die zehn letzten zu hören.***) 
0103Da ich sie die aber nicht gut bringen kann, so bitte ich
0104dich, bei mir vorzusprechen — auch einige Zeit mitzu-
0105bringen, denn sie dauert mindestens so lange, wie besagte
0106zehn letzte oder frühere.“


0107So sehr mir an Klinger’s Illustrationen die geniale
0108Kühnheit imponirte, das Entzücken Brahms’ vermochte ich
0109doch nicht überall zu theilen; am wenigsten über die Titel-
0110blätter der bei Simrock erschienenen Lieder. Zu einem fach-
0111männischen Urtheil durchaus unberufen, konnte ich doch
0112meine Empfindung nicht verhehlen, daß hier das einseitig
0113Realistische und gewaltsam Charakteristische allzusehr die
0114Schönheit zurückdrängt, ja ohne innere Nöthigung verletzt
0115habe. Ich konnte nicht begreifen, warum z. B. Homer als
0116abstoßend häßlicher Alter mit weißen Haarbüscheln auf dem
0117splitternackten elenden Leib dargestellt sein mußte — oder
0118weßhalb die reizende Melodie eines Brahms’schen Liedes
0119sich bei Klinger nicht in einer soliden Mädchengestalt, son[2]-
0120dern in einer recht derb alltäglichen widerspiegle? „Du hast
0121nicht Unrecht,“ entgegnete Brahms, „aber das Alles stört
0122mich nicht — es ist doch genial!“ Ich mußte an Eitel-
0123berger
denken, der einmal in wilder Oppositionslaune
0124ausrief: „Die verwünschte Schönheit, die hat alles Unheil
0125in die Malerei gebracht!“


0126Seiner Dankbarkeit und Verehrung für Max Klinger 
0127gab Brahms einen bleibenden Ausdruck durch die Widmung
0128seiner „Vier ernsten Gesänge für eine Baßstimme“,
0129op. 121. Von ihm, der mit Dedicationen stets auffallend
0130sparsam, ja in den letzten zwanzig Jahren fast gänzlich
0131zurückhaltend gewesen, galt diese Widmung nicht wenig, sie
0132ward um so bedeutungsvoller, als die „Vier ernsten Ge-
0133sänge“ sein allerletztes Werk blieben. Ja, diese nicht blos
0134„ernsten“, sondern trostlosen Todes- und Verwesungsklänge
0135präludirten, ohne daß Brahms es ahnte, seinen Abschied
0136vom Leben. Als eine Art Requiem für den Meister selbst
0137hat sie Herr Sistermans nacheinander in fast allen deutschen
0138Städten vorgetragen, welche ihren Concerten oder Musik-
0139festen eine Trauerkundgebung für Brahms einfügten. Gewiß
0140werden diese „Vier ernsten Gesänge“ immer als eine be-
0141stimmte Vorahnung seines eigenen Todes empfunden und
0142gedeutet werden, obgleich Brahms sie noch bei voller Ge-
0143sundheit geschrieben hat. Ich dachte sie mir in unmittelbarem
0144Zusammenhange mit dem ihn tief erschütternden Tode Clara
0145Schumann’s. Aber auch diese Vermuthung muß ich heute
0146für irrig erklären. Brahms’ intimer Freund, Herr Alwin
0147v. Beckerath
, einer der kunstsinnigsten Musikförderer
0148im Rheinlande, schreibt mir darüber aus Crefeld:
0149Brahms kam (im Mai 1896) direct aus Bonn,
0150von Frau Schumann’s Begräbniß, herüber nach Honef,
0151auf den Landsitz meines Schwagers Weyermann, wo wir
0152mit Barth aus Hamburg und einigen Meininger 
0153Musikern vereint ein kleines Privat-Kammermusikfest feierten.
0154Am ersten Tage war Brahms sehr erregt, bald wirkten aber
0155die schöne stille Natur und das häusliche Behagen wohl-
0156thuend auf ihn, und er blieb statt einen Tag, wie er an-
0157fangs beabsichtigte, volle fünf Tage. Am zweiten Tage theilte 
0158er Barth mit, er habe etwas Neues, und er möchte es uns
0159in aller Stille einmal zeigen. Wir gingen klopfenden Herzens
0160mit ihm auf ein abgelegenes Zimmer, wo ein Pianino
0161stand, und dort führte er uns die „Vier ernsten Gesänge“ aus
0162dem Manuscript vor. Er war dabei selbst so ergriffen, wie
0163ich’s nicht für möglich gehalten hätte. „Die habe ich mir
0164zu meinem Geburtstage geschrieben,“ sagte er.
0165Sie sehen hieraus, daß diese Composition in keinem ursäch-
0166lichen Zusammenhang mit Clara Schumann’s Tod steht.
0167Außer den „Vier Gesängen“ brachte er noch neue herrliche
0168Orgelvorspiele mit. Wir waren Alle tief erschüttert und ein
0169trübes Ahnen füllte mein Herz — leider hat es Recht
0170behalten.“


0171Am Ausgang seines Lebens hatte Brahms rasch nach-
0172einander zwei schmerzliche Verluste zu verwinden: im
0173Februar 1894 starb Billroth, im Mai 1896 Clara
0174Schumann
. Es entsprach ganz seiner starken, festgefügten
0175und schweigsamen Natur, daß Brahms darüber möglichst
0176wenig reden oder hören mochte. Sobald er Billroth’s Tod
0177erfahren, kam er augenblicklich theilnehmend zu mir, gestand
0178aber, daß er etwas „wie ein Gefühl der Befreiung“ darüber
0179empfinde, das traurige Hinwelken unseres Freundes, dieses
0180Riesen an Geist und Körperkraft, nicht noch länger ansehen
0181zu müssen. Er spricht dies auch später noch (Ischl 1895)
0182in einigen Zeilen an mich aus, die sich auf meine in der
0183Neuen Freien Presse“ veröffentlichten Billroth-Erinnerungen 
0184beziehen:


0185„Laß mich dir recht herzlich danken für die innige
0186Freude, die mir deine Billroth-Aufsätze gemacht haben.
0187Das ist ein selten schönes Todtenopfer und ein Zeichen von
0188Freundschaft, wie es nur ein guter Mensch geben kann.
0189Auch Fernerstehende werden deine Worte mit Wonne lesen,
0190mit doppelter aber Jeder, dem Billroth theuer war.


0191Mich aber laß bekennen, weßhalb sie mir besonders
0192wohl thaten: sie haben mich befreit von dem Andenken an
0193den kranken Billroth; erst jetzt bin ich von der peinlichen
0194Empfindung und Erinnerung der letzten Jahre frei ge-
0195worden und denke und liebe den Mann, wie ich ihn früher
0196kannte und wie du ihn so liebevoll schilderst. ...“


0197Billroth und Brahms verband die innigste persönliche
0198Freundschaft; Billroth empfand überdies eine enthusiastische
0199Verehrung für Brahms’ Compositionen. Wie er nicht müde
0200wurde, dieselben mit mir vierhändig durchzuspielen, so pflegte
0201er auch nach jeder Aufführung eines neuen Brahms mir
0202brieflich den davon empfangenen Eindruck zu schildern. Ich
0203hatte einmal Brahms von diesen bei aller Begeisterung doch
0204so genau eingehenden schönen Musikbriefen Billroth’s ge-
0205sprochen, und da äußerte der sonst gar nicht Neugierige oder gar
0206Lobgierige den Wunsch, etwas von diesen ungedruckten freund-
0207schaftlichen Kritiken zu sehen. Ich raffte schnell drei bis vier
0208von Billroth’s Briefen zusammen und schickte sie Brahms.
0209Einen Augenblick zu spät erschreckte mich die unbestimmte
0210Erinnerung, es stecke in einem dieser Briefe ein für Brahms 
0211verletzendes Wort. Billroth machte nämlich, Brahms mit
0212Beethoven vergleichend, die Bemerkung, daß unser Freund
0213neben den großen Vorzügen auch manche persönliche Schwäche
0214seines Vorbildes theile: er sei wie Beethoven oft rücksichts-
0215los und verletzend schroff gegen seine Freunde und könne
0216ebensowenig wie Beethoven sich von den Nachwirkungen einer ver-
0217wahrlosten Erziehung völlig losmachen. Ganz trostlos darüber,
0218so unvorsichtig gegen meine zwei besten Freunde gehandelt
0219zu haben, mußte ich obendrein befürchten, daß Brahms in
0220einer seiner sarkastischen Anwandlungen Billroth ob jenes
0221Ausspruches vielleicht necken und in Verlegenheit bringen werde.
0222Brahms rettete mich schnell aus meiner peinlichen Stimmung.
0223Seine Antwort auf meinen entschuldigenden Brief ist ebenso
0224würdig und aufrichtig, wie höchst bezeichnend für seinen
0225Charakter:


0226„Lieber Freund! Du brauchst dich nicht im geringsten
0227zu beunruhigen. Ich habe den Brief von Billroth kaum ge-
0228lesen, gleich wieder in den Umschlag gethan und nur leise
0229den Kopf geschüttelt. Ich soll nichts gegen ihn erwähnen —
0230ach, lieber Freund, das geschieht leider ganz von selbst nicht
0231bei mir! Daß man auch von alten Bekannten und Freunden
0232für etwas ganz Anderes gehalten wird, als man ist (oder [3]
0233also in ihren Augen: sich gibt), das ist mir eine alte Er-
0234fahrung. Ich weiß, wie ich früher in solchem Fall erschreckt
0235und betroffen schwieg, jetzt schon längst ganz ruhig und selbst-
0236verständlich. Das wird dir gutem und gütigem Menschen
0237hart oder herbe scheinen — doch hoffe ich, noch nicht zu weit
0238vom Goethe’schen Wort abgekommen zu sein: Selig, wer
0239sich vor der Welt ohne Haß verschließt. — Recht herzlich
0240dein J. Brahms.“


0241Die beiden letzten Briefe, die ich von Brahms besitze,
0242haben eine lange Vorgeschichte. Sie betreffen einige Briefe
0243Robert Schumann’s (aus der Heilanstalt Endenich bei
0244Bonn) an seine Frau und an Brahms. Letzterer, der meine
0245schwärmerische Verehrung für Schumann, den Tondichter
0246und den Menschen, kannte, hatte mir die Briefe vor mehr
0247als zwanzig Jahren zur Abschrift mitgetheilt. Gern hätte
0248er sie gedruckt gesehen, diese rührenden Mittheilungen, welche
0249uns den kranken Schumann wie in einem mild verklärenden
0250Lichte zeigen. Er bat deßhalb Clara um ihre Einwilligung.
0251Sie gab dieselbe brieflich nach einigem Zögern, zog sie jedoch
0252später mit der ihr eigenen Aengstlichkeit wieder zurück. Da
0253weder Brahms noch ich gegen die Empfindungen der ver-
0254ehrten Frau im entferntesten ankämpfen wollten, sprachen
0255wir nicht weiter von der Sache. Erst nach Clara’s Tode
0256fiel die Rede wieder darauf; ich äußerte brieflich gegen
0257Brahms den Wunsch, es möchten doch diese letzten Aeuße-
0258rungen Schumann’s nicht verloren gehen für seine treue
0259Gemeinde. Auf meine Ausführungen antwortete Brahms 
0260(Juli 1896 aus Ischl) vorläufig mit folgendem Billet:
0261„Von ganzem Herzen mit dir einverstanden, schicke ich dies
0262nur voraus, weil es wol ein etwas länglicher Brief wird,
0263der mein Ja wiederholt, und mich zugleich der Gedanke
0264beschäftigt, an Marie Schumann zu schreiben. — Also: bis
0265gleich! Herzlichst dein J. B.“


0266Wirklich ließ der „längliche Brief“ (er traf mich Ende
0267Juli in Heringsdorf) nicht lange auf sich warten. Der-
0268selbe lautet:


0269„Liebster Freund! Alles, was du schreibst, ist richtig
0270und wahr und dich wie mich angehend. So sage ich nur 
0271kurz, daß eine Darstellung Robert Schumann’s in Endenich 
0272aus deiner Feder stets mein sehnlicher Wunsch war. Ich
0273hatte wie du die Zustimmung Clara’s. Dann kam N. N.
0274dazwischen und ihre Sinnesänderung. Mich traf sie empfind-
0275licher wie dich — aber deinetwegen, was ich, wie Manches
0276der Art, still zu verwinden suchte.


0277Vertraulicher Umgang mit Frauen ist schwer, desto
0278ernster und vertraulicher, desto schwerer. Als mildernd muß
0279man in diesem Falle durchaus gelten lassen, daß Frau Schu-
0280mann ihren Mann damals nicht sah und es begreiflich ist,
0281daß sie nicht gern über den Kranken hörte. Jetzt ist Marie 
0282die Besitzerin alles schriftlichen Nachlasses und darf darüber
0283verfügen. Wieder bitte ich, zu bedenken, wie schwierig ihre
0284oder der drei Schwestern Lage ist — solchem Eigenthum
0285gegenüber!


0286Ich glaube nicht, daß sie etwas thun werden, ohne
0287mich um Rath zu fragen; ob sie aber auf meinen Rath
0288etwas thun, weiß ich nicht. Jedenfalls möchte ich Marien
0289unsere Sache vorstellen und sie bitten, uns das übrige
0290Material (Endenich angehend) zu überlassen oder zunächst
0291freundlich zuzustimmen, daß du alles in Händen Habende
0292benützen darfst.


0293Nun ist mein dringender Wunsch, du möchtest mit der
0294Veröffentlichung deiner Arbeit nicht eilen. Es ist
0295doch möglich, daß wir alles dahin Gehörige bekommen,
0296dann aber: Ich bin der Einzige, der mit Schumann zu
0297jener Zeit oft verkehrte, und du bist der Einzige, dem ich,
0298statt der eigenen Feder, meine Erinnerungen anvertrauen
0299möchte. Es kommt ja nichts Merkwürdiges dabei heraus,
0300aber — wollen wir nicht ein paar ruhige Stunden daran
0301wenden?


0302In ernster Freundschaft dein J. Brahms.“


0303Man sieht, ihm selbst lag die Angelegenheit auf dem
0304Herzen. Er berichtet mir über dieselbe aus Karlsbad An-
0305fangs September vorigen Jahres mit folgenden Zeilen:


0306„Beiliegendes Schreiben von Marie Schumann hätte
0307ich dir längst geschickt, wenn ich deiner Adresse sicher ge-
0308wesen wäre. Ich hatte seinerzeit deinen Brief an Marie ge-
0309schickt und dazu gebeten, uns übriges Material, Endenich 
0310angehend, anzuvertrauen. Dem Passus von „uns Kindern“
0311hatte ich eigentlich vorgebeugt und gesagt: sie dürfen dir
0312und mir einige Empfindlichkeit in der Sache wol nachsehen.
0313Frauenzimmer u. s. w.


0314Vielleicht finden wir bei uns in Wien noch Geeignetes
0315— sonst haben wir unser Möglichstes gethan.“


0316In dem von Brahms eingangs erwähnten Briefe ant-
0317wortet ihm Fräulein Marie Schumann (Frankfurt,
031817. August) zustimmend: „Thun Sie, was Sie im An-
0319denken an unsere Mutter für das Rechte halten, und das
0320soll mir gelten.“ Dem Wunsche jedoch, noch andere Briefe
0321Schumann’s zu erhalten, begegnet sie mit den Worten:
0322„Ich muß erst in Ruhe das Material selbst durchgelesen
0323und einen Ueberblick gewonnen haben, ehe ich etwas aus
0324den Händen gebe. Dazu braucht es aber einiger
0325Jahre
.“


0326So verblieb es denn bei der Veröffentlichung jener
0327wenigen Briefe, welche Brahms mir vor so vielen Jahren
0328mitgetheilt hatte und denen Joachim noch ein sehr werth-
0329volles Stück beifügte. („Aus Robert Schumann’s letzten
0330Tagen“, „Neue Freie Presse“ vom 27. October 1896.)


0331Man mußte Brahms lange kennen, um auf den Gold-
0332grund seines verschlossenen Wesens zu gelangen. Er war in
0333Wohlthaten ebenso unermüdlich, wie unerschöpflich in der
0334Kunst, sie geheim zu halten. Wie manchem jungen Musiker
0335hat er unaufgefordert geholfen mit einem „in beliebiger
0336unbestimmter Zeit zurückzuzahlenden Darlehen“, dessen er
0337selbst sich niemals erinnern wollte! Er ließ es auch an
0338moralischer Hilfe, an Förderung und Empfehlung aufstre-
0339bender Talente nicht fehlen. Sehr verschieden von gewissen
0340weltberühmten Künstlern, die eher noch mit Geld als mit
0341ihrer Protection aushelfen, am liebsten aber mit keinem
0342von beiden. Brahms freute sich an jedem verdienten Erfolg
0343eines Andern. Man weiß, wie energisch er die allgemeine
0344Würdigung Dvořak’s beschleunigt hat. Als Ehrenpräsident [4]
0345des „Wiener Tonkünstlervereins“, an dessen geselligen Abenden
0346er gern und regelmäßig theilnahm, betrieb er eifrig Preis-
0347ausschreibungen, insbesondere für Kammermusik, um junge
0348Talente an die Oberfläche zu bringen. Da bewies er bei
0349Durchsicht der eingelaufenen anonymen Manuscripte einen
0350erstaunlichen Scharfblick, aus dem Gesammt-Eindruck und
0351technischen Einzelheiten den Autor zu errathen, oder, falls
0352dieser noch nie hervorgetreten, wenigstens die Schule, den
0353Lehrer desselben. Im vorigen Jahre interessirte sich Brahms 
0354sehr lebhaft für ein anonymes Quartett, dessen Componisten
0355er durchaus nicht zu errathen vermochte. Mit Ungeduld er-
0356wartete er die Eröffnung des versiegelten Zettels. Darauf
0357stand der bisher gänzlich unbekannte Name: Wilhelm
0358Rabl
. Ihm ward auf Brahms’ Vorschlag der Preis
0359zuerkannt, das Stück öffentlich aufgeführt und an Simrock 
0360empfohlen, der es sofort druckte.


0361Nicht immer von höflichen Manieren, besaß auch
0362Brahms eine wohlthuende Höflichkeit des Herzens. Wie er-
0363götzte es ihn, wenn er Anderen eine Freude machen konnte,
0364vollends eine geheimnißvoll überraschende! So fand ich ihn
0365an einem Sonntag Vormittags eifrig beschäftigt, mehrere
0366Flaschen Champagner in einen Korb zu packen. „Die sind
0367für ..., dessen neues Orchesterstück heute aufgeführt wird.
0368Wenn er nach dem Concert sich mit seiner Familie zu Tische
0369setzt, soll er eine Freude haben!“


0370Kurz vor seiner letzten Krankheit besuchte ihn die Frau
0371eines in Böhmen lebenden ausgezeichneten Componisten.
0372Brahms sprach ihr zu, wie sehr es die künstlerische Lauf-
0373bahn ihres Mannes fördern würde, nach Wien zu über-
0374siedeln. „Ja“, seufzte die Frau, „wenn das Leben in Wien nur
0375nicht so kostspielig wäre für eine zahlreiche Familie!“ — „Wenn
0376es an nichts Anderm hängt,“ entgegnete Brahms, „so nehmen
0377Sie ohneweiters von meinem Vermögen, so viel Sie brauchen;
0378ich selbst bedarf sehr wenig.“ Die gute Frau brach vor
0379Rührung in so heftiges Weinen aus, daß sie nicht antworten
0380konnte.


0381In Brahms lebte ein stark entwickeltes Rechtlichkeits-
0382gefühl, das vielleicht strengen Juristen mitunter allzu
0383empfindlich erscheinen mochte. Eine charakteristische Geschichte,
0384deren Anfänge ich miterlebte, deren Ausgang ich aber erst
0385in Brahms’ allerletzten Tagen erfuhr, mag dies bestätigen.
0386Ich traf einmal bei Brahms eine blasse, interessante Frau
0387von etwa 40 Jahren, die geschiedene Gattin eines (wenn ich
0388nicht irre, in Bayern lebenden) pensionirten Officiers. Diese
0389Dame, deren nervöse Einsamkeit nur durch leidenschaftliches
0390Musiciren ein flackerndes Leben empfing, schwärmte für
0391Brahms’ Compositionen und nicht weniger für den Compo-
0392nisten selbst. Dieser besuchte sie auch manchmal in ihrer
0393nah gelegenen Wohnung auf der Wieden, mehr von rein
0394menschlicher Theilnahme geleitet, als aus persönlicher Sym-
0395pathie. Eines Tages, es mag 25 Jahre her sein, erzählte
0396mir Brahms, Frau Amalie M. sei gestorben und habe ihm
0397einige Musikalien vermacht, hübsch gebundene Hefte
0398Brahms’scher Clavier-Compositionen aus dessen erster Periode.
0399Jedes Titelblatt zeigte in zierlicher Handschrift den Namen
0400der Erblasserin. Brahms bot mir diese Hefte an, die ich
0401dankbar entgegennahm und noch heute besitze. Dann hat er
0402nie wieder von dieser Verehrerin gesprochen. Erst drei Tage
0403vor seinem Tode erzählte der Schwerkranke seinem Freunde
0404Simrock, er sei von Frau Amalie damals testamentarisch
0405zum Universal-Erben ihres ziemlich beträchtlichen Vermögens
0406eingesetzt worden. Diese Verfügung habe er als ein schweres
0407Unrecht gegen den geschiedenen Gatten der Verstorbenen
0408empfunden, sei unverzüglich zum Notar geeilt und habe in
0409einer rechtskräftigen Urkunde auf die Erbschaft zu Gunsten
0410des Gatten verzichtet. Dieser wurde sofort verständigt, kam
0411nach Wien, besuchte Brahms und nahm dankend die ihm
0412freiwillig cedirte Erbschaft entgegen.


0413Wer sich in Brahms liebevoll eingelebt hat, dem ist jetzt
0414zu Muthe, als habe unsere Musik ihr Rückgrat verloren.
0415Doch nicht seiner hohen Bedeutung als Tondichter gelten
0416diese flüchtigen Erinnerungsblätter. Sie sollen nur zur
0417Charakteristik des edlen, seltenen Menschen beitragen, an dem
0418sein engerer Freundeskreis nicht weniger verloren hat, als
0419die musikalische Welt an dem Künstler.

Fußnoten
  • *)Siehe Nr. 11797, Nr. 11799 und Nr. 11801 der „Neuen
    Freien Presse“ vom 27., 29. Juni und 1. Juli.
  • **)Professor Maaßen ist im Jahre 1883 in einer Debatte des
    niederösterreichischen Landtages, in welchem er als Rector die Uni-
    versität vertrat, zu Gunsten einer czechischen Volksschule in Wien ein-
    getreten. Anm. der Red.
  • ***)Brahms, op. 118. Phantasien für Pianoforte. — Zu diesen
    sieben Phantasien rechnet Brahms offenbar die drei Intermezzi,
    op. 117, hinzu.