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Neue Freie Presse
Morgenblatt
Nr. 12497. Wien, Freitag, den 9. Juni 1899

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Johann Strauß.


0002Ed. H. Als wir vor fünfzig Jahren den älteren Johann
0003Strauß begruben, schloß ich einen Nachruf mit der Klage,
0004Wien habe seinen talentvollsten Componisten verloren. Das
0005Wort verdroß allerlei Musiker und Laien, die nicht begreifen
0006wollten, daß ein schulgerechtes, physiognomieloses Kirchen-
0007oder Concertstück weniger Talent, das heißt geringere Natur-
0008kraft offenbare, als ein melodienreicher origineller Walzer.
0009In diesem Sinne müssen wir auch heute, am Grabe des
0010jüngeren Johann Strauß, die Klage wiederholen, es sei mit
0011ihm das ursprünglichste Musiktalent in Wien hinüberge-
0012gangen. Seine melodische Erfindung quoll so köstlich wie
0013unerschöpflich; seine Rhythmik pulsirte in lebendigem Wechsel;
0014Harmonie und Form standen rein und aufrecht. „Liebes-
0015lieder“ nannte er eine seiner schönsten Walzerpartien. Sie
0016alle hätten so heißen dürfen: kleine Herzensgeschichten von
0017schüchternem Werben, schwärmerischer Neigung, jubelndem
0018Glücksgefühl, dazwischen auch ein Hauch leichtgetrösteter
0019Wehmuth. Wer könnte auch nur die reizendsten von Strauß’
0020zahlreichen Tanzstücken aufzählen! Schade nur, daß jede
0021Ballsaison schonungslos wie Kronos ihre eigenen Kinder
0022aufzehrt, um nachfolgenden Platz zu machen. So kennen
0023wir thatsächlich die frühesten besten Walzer von Strauß 
0024heute so wenig, als stammten sie aus der Zeit Maria
0025Theresia’s. Sie sind nicht veraltet, nur verdrängt und ver-
0026nachlässigt. Eine Walzerpartie aus Hunderten will aber
0027gerade heute ausdrücklich genannt und gerühmt sein, weil
0028sie etwas wie monumentale Bedeutung erlangt hat: „An
0029der schönen blauen Donau.“ Es braucht nur — so schrieb
0030ich davon vor Jahren — irgendwo das Anfangsmotiv auf
0031den drei Staffeln des D-dur-Dreiklanges emporzusteigen,
0032so färbt Begeisterung alle Wangen. Nicht blos eine beispiel-
0033lose Popularität, der Donauwalzer hat auch eine ganz ein-
0034zige Bedeutung erlangt; die Bedeutung eines Citates, eines
0035Schlagwortes für Alles, was es Schönes, Liebes und Lustiges 
0036in Wien gibt. Ein patriotisches Volkslied ohne Worte.
0037Neben Haydn’s Volkshymne, welche den Kaiser und das
0038Herrscherhaus feiert, besitzen wir in Strauß’ „Blauer
0039Donau“ eine andere Volkshymne, welche unser Land und
0040Volk besingt. Wo immer in weiter Ferne Oesterreicher sich
0041zusammenfinden, da ist diese wortlose Friedens-Marseillaise 
0042ihr Bundeslied und Erkennungszeichen. Wo immer bei einem
0043Festmale ein Toast auf Wien, auf Oesterreich ausgebracht
0044wird, fällt das Orchester sofort mit der „Schönen blauen
0045Donau“ ein. Und das ist die denkwürdige Bedeutung,
0046welche diese Composition, jedem Volkslied zum Trotze, all-
0047mälig erlangt hat: ihre Melodie wirkt wie ein Citat.


0048Unser Johann Strauß hat den von seinem Vater ge-
0049schaffenen Wiener Walzer erweitert, bereichert, modernisirt.
0050Strauß hat Schule gemacht, und sie ist fast zum unwider-
0051stehlichen Zwang geworden. Was heute in Walzerform er-
0052klingt, ist meist nur durchtönender Strauß. Unsere Operetten-
0053Componisten mögen sich noch so sehr zusammennehmen, nach
0054ein paar Tacten im Walzertempo haben sie unwillkürlich
0055Strauß copirt. Das heutige Wien ist der Tanzmusik ab-
0056günstig. Bis vor wenigen Tagen stand sie noch auf zwei
0057Augen; seitdem diese sich geschlossen, haben wir nicht nur
0058unseren besten, wir haben unseren einzigen Walzercomponisten
0059verloren.


0060Nachdem Strauß durch volle 25 Jahre seine Melodien-
0061fülle verschwenderisch als Tanzcomponist ausgeströmt, fühlt
0062er sich doch etwas ermüdet und unbefriedigt von so enger
0063Form. Er versuchte es mit dem Theater und schrieb 1871 
0064seine erste Operette „Indigo“. Der Uebergang zur
0065dramatischen Composition fiel ihm nicht leicht. Der regel-
0066mäßige Walzer- und Polka-Rhythmus steckte ihm noch zu fest
0067im Blute. „Indigo“ strotzte von Melodien, aber man merkte
0068ihnen an, daß sie nicht aus dem Text heraus geboren waren.
0069Strauß selber hat mir gestanden, daß meine Vermuthung
0070richtig gewesen und daß sein Textdichter zu meist fertigen
0071Musikstücken nachträglich die Worte gut oder übel unter-
0072legen mußte. Von dieser dilettantischen Methode hat Strauß 
0073in seinen späteren Operetten sich befreit — nicht ohne einige
0074Anstrengung. Er blieb doch jederzeit mehr der rein musika-
0075lisch erfindende, als der dramatisch schaffende Opern-
0076componist. Ein Unglück für „Indigo“ war das unglaublich 
0077alberne, ordinäre Textbuch, ein Unglück, das in Strauß’
0078Bühnenlaufbahn leider nicht allein geblieben ist. Strauß 
0079verfuhr in der Auswahl seiner Librettos zu nachsichtig und
0080zu unselbstständig, hörte willig auf verschiedene Rathgeber, deren
0081letzter dann meistens Recht behielt. Von seinen fünfzehn Operetten
0082sind manche ihrem schlechten Textbuche zum Opfer gefallen
0083und trotz zahlreicher musikalischer Schönheiten rasch von den
0084Bühnen verschwunden. Wie wenig beachteten diese Text-
0085dichter die specifische Natur von Strauß’ Talent, das
0086durchaus heitere, lebensvolle Stoffe brauchte und am freiesten
0087athmete in heimatlicher Luft. Statt dessen drängten sie ihn
0088in exotische Abenteuer, auf italienischen, spanischen, französi-
0089schen Boden. Strauß’ Meisterwerk „Die Fledermaus
0090verdankt ihren anhaltenden, außerordentlichen Erfolg gewiß
0091zumeist der reizvollen Musik, aber diese war nicht denkbar
0092ohne die durchaus lustige, auf Wiener Boden übertragene
0093Handlung. Die Fluth der Strauß’schen Melodie strömt da
0094in einem engen Bette, aber sie füllt es bis an den Rand.
0095Wo, wie in der „Fledermaus“, Scherz und Frohsinn den
0096ganzen Stoff durchdringen und Tanzrhythmen emporwachsen
0097läßt, da spendet Strauß sein Bestes und Echtestes. In
0098sentimentalen oder gar tragischen Scenen stockt sein Puls,
0099und er wird leicht gezwungen, uninteressant, banal. Das
0100beweist manches Stück im „Zigeunerbaron“, nächst der „Fleder-
0101maus“ wol seine beliebteste Operette. Das Textbuch bringt einige
0102neue charakteristische Figuren und interessante Situationen;
0103die Musik ist vortrefflich, so lange sie nicht in Sentimen-
0104talität oder gar in tragischer Leidenschaft sich ergeht, wie im
0105zweiten Finale. Von den früheren Operetten scheinen mir
0106Das Spitzentuch“ und „Der lustige Krieg“ doch gar zu
0107schnell aus dem Repertoire beseitigt; von den späteren der
0108Waldmeister“. Der Text des letzteren ist, bei aller Dürftig-
0109keit der Handlung, durchwegs heiter und harmlos, also gerade
0110recht für Strauß, der eine sehr anmuthige, wenngleich nicht
0111überall auf früherer Höhe stehende Musik dazu gespendet
0112hat. Was selbst in seinen weniger erfindungsreichen Operetten
0113den musikalischen Hörer fesselt und erfreut, ist die echt musi-
0114kalische Empfindung, der natürliche Fluß des Gesanges, end-
0115lich der herrliche Orchesterklang. In der Première des
0116Waldmeister“ äußerte Brahms zu mir, das Strauß’sche
0117Orchester erinnere an Mozart.

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0118Gegen Ende seiner Laufbahn fühlte sich Strauß von
0119dem sehr begreiflichen, trotzdem aber unheilvollen Ehrgeize
0120gestachelt, ein größeres Werk für die Wiener Hofoper zu
0121schaffen. Er nahm einen gewaltsamen Anschwung und com-
0122ponirte den dreiactigen „Ritter Pazman“. Des
0123Wiener Publicums war er sicher und auf die lustigsten seiner
0124Operetten durfte er stolz sein. Aber jede Macht ist an eine
0125Ohnmacht gebunden. Seine Macht lag in den kleinen For-
0126men, den Tanzrhythmen, dem Frohsinn; seine Ohnmacht in
0127den breiten Ensembles, der dramatischen Charakteristik, dem
0128leidenschaftlichen Gefühlsausdruck. Merklich reagirte seine
0129Natur gegen die matte, conventionelle Handlung, die lauter
0130ernsthafte Personen in sentimentalen, oft ans Tragische
0131streifenden Situationen gegen einander führt. Unser Johann
0132Strauß mußte sich verleugnen, sich umzwingen — und das
0133führt selten zu gutem Ende. Mit einer wirklich komischen
0134Oper älterer Form, wie etwa „Czar und Zimmermann“,
0135würde Strauß auch im Hofoperntheater durchgedrungen sein.
0136Aber die langgestreckten, durch keine Recitative oder Prosa-
0137stellen unterbrochenen, durchaus gesungenen Verse zwangen
0138den Componisten zu einem fortlaufenden Arioso, aus dem
0139abgerundete Musikstücke sich nur selten scharf herausheben.
0140Man bewunderte die Geschicklichkeit, womit Strauß in
0141diesen ihm bisher ganz fremden Styl und fremden Ton
0142sich hineingearbeitet hatte. Aber das ist nicht unser Strauß!
0143hörte man während der zwei ersten Acte im Publicum
0144murmeln. Da kam gegen Ende des dritten Actes etwas
0145Unerwartetes: eine prächtige Balletmusik, die weithin glän-
0146zende Perle des Ganzen! Mit den ersten Tacten des Ballets
0147scheinen Strauß plötzlich die Flügel zu wachsen; mit jugend-
0148licher Kraft und Freudigkeit schwingt er sich in die Lüfte;
0149Textbuch und Dichter verschwinden vor seinen Augen —
0150„jetzt bin ich allein Herr!“ Diese köstliche Balletmusik er-
0151neuerte in mir einen alten, wiederholt öffentlich ausge-
0152sprochenen Wunsch: Strauß möchte ein vollständiges Ballet
0153für die Hofoper schreiben, er, der einzige deutsche Componist,
0154der dies mit starker Wirkung und mit spielender Leichtigkeit
0155vermochte! Lange wollte er nichts davon hören. Da, wenige
0156Monate vor seinem Tode, schien er sich plötzlich mit dem
0157Gedanken zu befreunden. Fast als wolle er sich selbst jede
0158Umkehr abschneiden, schrieb er einen bedeutenden Preis
0159aus für das beste Libretto zu einem heiteren Ballet. 
0160Ich hege ein durch Erfahrungen vollauf begründetes Miß-
0161trauen gegen Preisausschreibungen. Sie kosten viel Geld,
0162machen unsägliche Mühe und bringen selten den gehofften
0163Schatz zu Tage. Eine Sündfluth von sieben-, bis achthundert
0164Balletentwürfen ergoß sich verheerend in die Igelgasse. Aus
0165den relativ besten wählte Strauß ein ins Moderne über-
0166tragenes „Aschenbrödel“, das wenigstens im letzten Act
0167(einem Ballfest) seiner glänzenden Specialität entgegenkam.
0168Hier, glaubte ich, hätte Strauß den Anlaß und das Recht,
0169eine Anzahl seiner halbvergessenen schönsten Tänze zu
0170neuem, erhöhtem Leben zu erwecken. Verdankt doch das
0171überaus siegreiche Ballet „Wiener Walzer“ seinen Erfolg
0172zumeist den eingeflochtenen alten Walzern von Lanner und
0173den beiden Strauß. Warum sollte er, der Erfinder, nicht
0174selber thun, was ein fremder Bearbeiter thun durfte? Ich
0175denke, daß Strauß, mit dem ich in Ischl und zuletzt in
0176Wien eingehend über das neue Ballet sprach, schließlich seine
0177Scrupel wegen solcher Auffrischungen überwunden hätte.
0178Fröhlich machte er sich an den Anfang seines letzten,
0179lustigsten Werkes — da klopfte ihm, wie man auf alten
0180Bildern sieht, der Tod mit dem Fiedelbogen auf die
0181Schulter. Das Leben ein Tanz — das Leben ein Traum.


0182Mit Johann Strauß ist nicht blos ein glänzendes
0183Talent, ein Herold des Wiener musikalischen Ruhmes von
0184uns geschieden, sondern auch ein überaus liebenswerther,
0185wahrhafter und wohlwollender Mensch. Es ist nicht möglich,
0186bescheidener von sich selbst zu sprechen und zu denken, als
0187Strauß es that. Seine von den Jahren ungebeugte, elastische
0188Gestalt mit dem vollen Haarbusch und den blitzenden Augen,
0189sie wird in Wien schmerzlich vermißt werden. Ein letztes
0190Wahrzeichen aus fröhlichen, gemüthlichen Tagen, das herüber-
0191leuchtete in unsere unfrohe, zerklüftete Gegenwart.


0192Wir lesen eben von dem Project eines Doppeldenk-
0193males für Lanner und Alt-Strauß. Unser Johann Strauß 
0194darf darauf nicht fehlen; er erst wird den hellen Dreiklang
0195vollständig machen. Lange Zeit war in Wien ein Gesammt-
0196denkmal für Haydn, Mozart und Beethoven geplant: es
0197scheiterte, wenn ich nicht irre, an der technischen Schwierig-
0198keit, zu den Dreien später auch noch Schubert zu gesellen.
0199Wäre ähnliche Besorgniß denkbar für ein Monument
0200Lanner’s mit den beiden Strauß? Keine Angst; es wird
0201kein Vierter kommen.