Neue Freie Presse
Morgenblatt
Nr. 13073. Wien, Dienstag, den 15. Januar 1901
[1]Musik.
(Fünftes Philharmonie-Concert.)
0003Ed. H. Die versprochene Eröffnungsnummer, C. M.
0004Weber’s „Overtura Chinesa“ (später als „Turandot“
0005umgetauft), war plötzlich abgesetzt. Schade. Wer hatte auf
0006diese hier unbekannt gebliebene Composition Weber’s sich
0007nicht gefreut! Beinahe hundert Jahre alt, wird sie gerade
0008jetzt wieder jung: ein Stück actuellster Politik in den chine-
0009sischen Wirren. Zu Anfang blos Trommel und Piccolo, als
0010Ankündigung einer wunderlich monotonen chinesischen Original-
0011Melodie von vierzehn Tacten, musikalisches Zopfwiegen und
0012Zopfschütteln. Hierauf Triangel, Becken, große Trommel,
0013die ein lustig siegesfrohes Spectakel vollführen. Passionirte
0014Zeitungsleser — und wer wäre dies heute nicht? —
0015hätten da leibhaftig unsere Truppen in Peking ein-
0016rücken gesehen, an ihrer Spitze hoch zu Roß den
0017Grafen Waldersee. Sein grüner Federbusch war ja
0018nicht zu verkennen. Aber die kurze Weber’sche Ouvertüre
0019mußte fallen, damit die sehr corpulente Manfred-Symphonie
0020von Tschaikowsky mehr Luft bekomme. Vielleicht begegnen
0021wir der wilden Komik dieser chinesischen Ouvertüre doch
0022noch im Concertsaale, bevor Peking geräumt wird. Nachdem
0023also dem Programm nach chinesischem Muster der Kopf
0024abgesäbelt war, rückte Mendelssohn’s A-moll-
0025Symphonie an die erste Stelle. Die liebenswürdige form-
0026schöne Tondichtung wurde entzückend vorgetragen: nur die
0027Einleitung „Andante con moto“ (!) erschien mir
0028entschieden zu langsam. Doch ist über ein Tempo nachträg-
0029lich schwer zu richten und zu streiten. Musikalische Ge-
0030schwornengerichte müßten da aus dem Gedächtniß entscheiden.
0031Das fehlte uns gerade noch! Bekanntlich verlangte Mendels-
0032sohn ausdrücklich, daß die einzelnen Sätze dieser Symphonie
0033gleich aufeinander folgen sollen, ohne die gewöhnliche längere
0034Unterbrechung. Offenbar war er seinerzeit durch allzu lange
0035Pausen und allzu eifriges Schwätzen auf dieses Heilmittel
0036verfallen, das leider auch seine Gefahr einschließt. Der Hörer
0037hält an der Gewohnheit und dem Anspruch, zwischen den
0038einzelnen Sätzen einer großen Symphonie sich zu sammeln,
0039nachfühlend, nachsinnend; er empfindet das eilige „Attacca“
0040als eine unnöthige Anspannung. Mendelssohn hat diese
0041Vorschrift auch weder bei seinen früheren Symphonien, noch
0042bei der späteren in A-dur für zweckmäßig erachtet.
0043Was die große Novität des Concertes, Tschaikowsky’s
0044Manfred-Symphonie, betrifft, so bekenne ich, daß ich mit
0045einiger Befangenheit sie erwartet habe. Schumann’s
0046Manfred ist mir so unabtrennbar eng ans Herz gewachsen,
0047daß die Wahl desselben Stoffes mich gegen den jüngeren
0048Componisten mit einer Regung von Eifersucht erfüllte. Wie
0049Schumann’s Manfred das Drama von Byron Schritt vor
0050Schritt begleitet, so folgt auch Tschaikowsky’s Symphonie
0051ihm in gleicher Ordnung. Der erste Satz Tschaikowsky’s
0052entspricht in seiner düsteren Verzweiflungsstimmung voll-
0053kommen der kürzer, tiefer und mächtiger gefaßten Ouvertüre
0054Schumann’s. Der zweite Satz bringt die „Alpensee“, der
0055auch Schumann ein selbstständiges Orchesterstück von zauberi-
0056scher Schönheit widmet. Dem „Manfred in den Abruzzen“
0057entspricht bei Schumann nur der „Alpenkuhreigen“ und
0058das idyllische Vorspiel in F-dur. Tschaikowsky’s Finale endlich
0059schildert wie bei Schumann die Beschwörung der Astarte
0060und Manfred’s Tod. Also die ganze Disposition dieselbe.
0061Aber so wenig Byron’s „Manfred“ den so oft vorgebrachten
0062Vergleich mit Goethe’s Faust verträgt, so wenig gebührt
0063Tschaikowsky’s Manfred der Rang neben dem Schumann’-
0064schen. Dieser packt uns mit einer Seelengewalt, die stark
0065und geheimnißvoll nachzittert, so oft wir nur an ihn denken.
0066Und nicht einmal der lebendig scenischen Darstellung bedarf
0067diese Musik. Zuerst im Concertsaale bekam Wien den
0068Schumann’schen Manfred zu hören — Lewinsky sprach,
0069Herbeck dirigirte den Manfred — und der Eindruck war
0070so tief und erschütternd, daß die spätere Bühnenaufführung
0071im Burgtheater ihn kaum zu steigern vermocht hat.
0072Nur scheinbar bin ich von Tschaikowsky’s Novität ab-
0073gewichen; es ist unmöglich, an Schumann’s Dichtung vorbei-
0074zukommen; unmöglich, nicht zu vergleichen. Kein Zweifel,
0075daß Tschaikowsky den Schumann’schen Manfred gekannt
0076hat, als er an denselben Stoff herantrat. Aber er war
0077nicht der Mann, vor einer Rivalität mit Schumann zurück-
0078zutreten, über welchen er ja nach dem Zeugniß seines Freundes
0079Laroche „kühler urtheilte“. Von modernen Tondichtern war
0080nicht Schumann sein Ideal, sondern Berlioz, dessen
0081„Childe Harold“ auf Tschaikowsky’s Manfred-Symphonie un-
0082verkennbar und stark abgefärbt hat. Entscheidend für die
0083Wahl gerade dieses Stoffes wirkte unbedingt der Byron-
0084Cultus, welchen Tschaikowsky mit dem dichtenden und musi-
0085cirenden jungen Rußland theilte. Anton Rubinstein, der
0086Gründer und Director des Petersburger Conservatoriums,
0087pflegte Tschaikowsky, wie dieser selbst erzählt, „für seine
0088Zuneigung zur neuen Richtung und für seine Versuche, in
0089die Fußstapfen Berlioz’ und Wagner’s zu treten, gründlich
0090die Leviten zu lesen“. Die Passion für Wagner währte
0091nicht lange; fast schlug sie ins Gegentheil um, als Tschai-
0092kowsky in Bayreuth die Nibelungen hörte. Wie hat er als
0093Berichterstatter sich abgequält, seiner Ueberzeugung treu zu
0094bleiben und sie doch möglichst abzuschwächen und zu ver-
0095schleiern! Berlioz hingegen bewahrte er treue Verehrung;
0096ohne den Childe Harold ist seine Manfred-Symphonie
0097kaum denkbar. Nebst den französischen Elementen vermischen
0098sich auch deutsche mit dem angeborenen russischen Musikgeist
0099Tschaikowsky’s. Ausgedehnt und anspruchsvoll, wie kein
0100zweites Werk dieses Tondichters, zählt doch der Manfred
0101keineswegs zu seinen besten. „Was ungeheuer, ist darum
0102nicht groß,“ sagt Grillparzer. Ungleich und brüchig sind
0103auch die besten Tondichtungen Tschaikowsky’s — Eugen Onegin,
0104die Pathetische Symphonie, die Orchester-Suite in G-dur —
0105aber in ihnen behaupten musikalischer Reiz und naive Em-
0106pfindung siegreich die Oberhand. Nicht so in der Manfred-
0107Symphonie. Das ist leider nebelhafte, ungesunde, psycho[2]-
0108logisch überreizte Musik. Unersättlich in dem Bestreben,
0109Manfred’s Verzweiflung maßlos breit und nachdrücklich zu
0110schildern, bewirkt der Componist schließlich, daß wir Zuhörer
0111uns noch unglücklicher fühlen als sein Held. Nur selten
0112huscht in diesem Nachtbild eine freundliche Gestalt auf, um
0113rasch wieder zu verschwinden und den grauen Unholden
0114wieder das Feld zu überlassen. Das aufmerksame und fein-
0115fühlige Publicum unserer Philharmonie-Concerte schenkte
0116der lieblichen „Alpensee“ dankbaren Beifall, blieb aber kalt
0117bei den übrigen Sätzen. In dem unaushaltbar langen
0118Finale, mit seiner Schilderung des Höllenbacchanales sehen
0119wir schließlich die Symphonie zu einer Höhe des Ungeschmacks
0120gedeihen, welcher die aufrichtigsten Freunde Tschaikowsky’scher
0121Musik kaum Stand halten können. Was uns allein in dieser
0122trostlosen Musik wach und dankbar erhält, ist der Reiz der
0123genialen Instrumentirung. Aber wie so oft bei den gleichen
0124Zauberkünsten Berlioz’ drängt sich uns die Frage auf:
0125Was wird denn eigentlich instrumentirt?
0126Tschaikowsky’s „Manfred“ ist vielleicht ganz nur zu
0127verstehen, wenn man der seltsamen Erlebnisse sich erinnert,
0128welche an der von Haus aus melancholischen Seele des
0129Componisten rüttelten. Die Geschichte seiner so wunderlichen
0130kurzen Ehe ist bei uns wenig bekannt und darf deßhalb
0131einem ihm befreundeten englischen Schriftsteller wol nach-
0132erzählt werden. Im Jahre 1877 vermälte sich Tschaikowsky
0133mit einem Fräulein, das er sechzehn oder siebzehn Jahre
0134früher bei ihren Verwandten kennen gelernt hatte. Von
0135dieser Heirat wußten nur sehr Wenige. Wie überrascht war
0136die musikalische Welt nach Tschaikowsky’s Tod, in seinem
0137Testament eine „Gattin Antonina“ mit einer mäßigen
0138Sustentation bedacht zu finden! Man kannte Tschaikowsky
0139als schüchtern, von fast krankhafter Abneigung gegen die
0140Weiber. Seine Freunde riethen ihm, zu heiraten, allein er
0141blieb nervös und zaghaft, selbst als Antonina ihm mit-
0142theilte, daß sie als Schülerin ins Conservatorium eintreten
0143wolle. „Es wäre doch besser, wenn Sie heirateten!“ meinte
0144Tschaikowsky und ging. Antonina, die ihn jahrelang
0145heimlich geliebt hatte, entschloß sich, nach ausgiebigem
0146Kirchenbesuch und Beichten, ihm zu schreiben und ihre
0147Hand anzubieten. Er antwortete, und es schien
0148dies seit ihrer Bekanntschaft seine glücklichste Zeit.
0149Doch machte er bald wieder Schwierigkeiten und wies auf
0150sein Alter von fünfzig Jahren. Sie antwortete, daß neben
0151ihm zu sitzen, ihn sprechen oder spielen zu hören, Alles sei,
0152was sie wünsche. Wieder zögerte er und bat um einen Tag
0153Aufschub. Dann erklärte er ihr, er habe nie geliebt; indessen,
0154da sie das erste Mädchen sei, das ihm überhaupt gefallen,
0155wolle er einen Vorschlag wagen. Wenn brüderliche Liebe und
0156rein geschwisterliches Zusammenleben ihrem Ideal ent-
0157spräche, möge sie ihn heiraten. Nachdem dieser sonderbare
0158Vorschlag in vollkommen ruhiger Weise durchsprochen war,
0159schied er mit der Frage: „Also?“ Sie schlug ihre Arme
0160um seinen Nacken, und er floh eiligst. Bei seinen Besuchen
0161an den nächsten Nachmittagen vermied er aber jede Zärtlich-
0162keit; er küßte nur ihre Hand und verblieb bei dem gewohnten
0163„Sie“. Nach einer Woche nahm er für einen Monat Urlaub,
0164um seine Oper „Eugen Onegin“ zu beenden. Frau Tschai-
0165kowsky behauptet, dieses Werk sei von der Liebe dictirt und
0166alles früher oder später von ihm Componirte kalt. Die
0167Vermälung fand am 27. Juli 1877 statt, elf Tage nach
0168Tschaikowsky’s Rückkehr nach Moskau. Die Folgen einer so
0169wunderlichen Heirat waren vorauszusehen. Tschaikowsky’s
0170krankhafte Nervosität nahm überhand, damit auch eine tiefe
0171Abneigung gegen seine Frau. Was immer sie that, mißfiel
0172ihm. Nach sechs Wochen war er des ehelichen Lebens über-
0173drüssig. Unter dem Vorwande, eine Wassercur im Kaukasus
0174zu brauchen, reiste er zu seiner Schwester, welche ohne
0175Zweifel ihm empfahl, zu seiner Frau zurückzukehren. Aber drei
0176Wochen später, mitten im November, schützt er eine Ge-
0177schäftsreise vor. Ahnungslos begleitet seine Frau ihn zur
0178Bahnstation. Hier verläßt ihn fast der Muth. Zitternd wie
0179ein Trunkener nimmt er Abschied von ihr, umarmt sie
0180wiederholt und stößt sie endlich mit dem Ausrufe „Gott be-
0181fohlen!“ von sich. Er hat sie nie wiedergesehen. Dem ehe-
0182lichen Leben abgeneigt, leichtgläubig wie ein Kind und äußerst
0183reizbar, hatte er (vielleicht unter fremdem Zuthun) die
0184Ueberzeugung gefaßt, es müsse die Ehe verhängnißvoll werden
0185für seine künstlerische Laufbahn. Antonina war ohne Zweifel
0186ein beklagenswerthes, unschuldiges Opfer; aber sie verstand
0187das eigenthümliche Wesen ihres Gatten und hat sich niemals
0188darüber beklagt.