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Neue Freie Presse
Morgenblatt
Nr. 13369. Wien, Dienstag, den 12. November 1901

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Concerte.

(Philharmonisches Concert. Oratorium „Saul“ von Händel.)


0003Ed. H. „Was für ein neues Unglück malen Sie denn
0004jetzt?“ pflegte Schwind den Münchener Akademie-
0005Director Piloty zu interpelliren, wenn er in dessen
0006Atelier eine frisch aufgespannte große Leinwand erblickte.
0007Beinahe wagten wir die gleiche Frage an Meister Dvořak,
0008als dessen neues Orchesterstück „Das goldene Spinnrad“
0009uns aus dem Programm der Philharmoniker entgegen-
0010glänzte. Hatte doch jede der drei vorangegangenen symphoni-
0011schen Dichtungen Dvořak’s irgend ein grausiges Unglück
0012zum Gegenstande. In Nr. 1, dem „Wassermann“,
0013sehen wir einen Kobold dem eigenen Kinde den Kopf ab-
0014hauen und ihn der trostlosen Mutter zuschleudern; in
0015Nr. 2, der „Mittagshexe“, ein weibliches Ungeheuer,
0016welches das unschuldige Kind einer Bäuerin erdrosselt: in
0017Nr. 3, der „Waldtaube“, hat eine ungetreue Gattin ihren
0018Mann umgebracht und begeht dann in Verzweiflung einen
0019Selbstmord. Und jetzt Nr. 4, „Das goldene Spinn-
0020rad
“? Da hantiert das unvermeidliche „Unglück“ etwas
0021langsamer, umständlicher, aber nicht weniger haarsträubend.
0022Auf einem Spazierritt durch den Wald verliebt sich der
0023König in ein am Spinnrocken arbeitendes schönes Mädchen und
0024will es heiraten. Aber die böse Stiefmutter, die ihre eigene
0025Tochter dem König zu unterschieben beschließt, lockt die
0026arglose Spinnerin in den Wald, haut ihr Hände und Fuße
0027ab und sticht ihr die Augen aus. Ein wunderthätiger Greis 
0028findet den verstümmelten Leichnam. Durch das Geschenk
0029eines goldenen Spinnrades weiß er die Stiefmutter zur
0030Herausgabe der Hände, Füße und Augen der Ermordeten 
0031zu bewegen, fügt dann die fehlenden Glieder säuberlich
0032wieder an die Leiche, die sofort zu neuem Leben erwacht.
0033Dem heimkehrenden König erzählt aber das goldene Spinn-
0034rad (das auch sprechen kann) haarklein die Ermordung
0035und Wiederbelebung seiner Geliebten. Er findet sie nach
0036langem Suchen im Walde und macht sie zu seiner Ge-
0037malin. Wir erfahren nicht, was aus der bösen Stiefmutter 
0038und ihrer mitschuldigen Tochter geworden. Schade. Eine
0039kleine Hinrichtung zum Schluß hätte recht hübsch zu dem
0040Uebrigen gepaßt.


0041Mit dem „Goldenen Spinnrad“ hat sich der Componist
0042eine schwerere Aufgabe gesetzt, als in den früheren drei
0043Märchen — ja eine unmögliche. Das Schnurren des Spinn-
0044rads, musikalischer Nachahmung zugänglich, wie das Wogen-
0045rauschen im „Wassermann“, mag den virtuosen Tonmaler
0046zunächst verlockt haben — aber die Geschichte selbst? Sie
0047führt zu viele Hauptpersonen vor und zerfällt in zu viele
0048Theilhandlungen, um in Einem Symphoniesatz Raum und
0049Erklärung zu finden. Was Dvořak hier dem musikalischen
0050Ausdrucksvermögen zumuthet, vermag weder der Componist
0051noch der Hörer zu leisten. Trotz der ausführlichen, dem
0052Programm vorgedruckten Erklärung bleiben wir im
0053Unklaren. Das Alles ist von Dvořak gewiß sehr
0054interessant musicirt, aber schlecht erzählt. Immer
0055hinkt man, das Programm vor Augen, der Composition
0056voraus oder nach. Die Musik, auch die geistreichste, leidet
0057immer darunter, wenn ein detaillirtes Programm die Freiheit
0058des Hörers wie des Componisten vernichtet. Eine erzählende
0059Gebrauchsanweisung wie die zum „Goldenen Spinnrad“
0060wird zum Unheil für die Composition, weil sie mißver-
0061ständlich, nur leider unentbehrlich ist. Denn aus dem
0062musikalischen Gedankengang des „Spinnrades“ lassen
0063diese jähen Stimmungswechsel, Absprünge, Rückwendungen
0064und verblüffenden Orchesterklänge sich nimmer erklären.
0065Im Anfang geht Alles glatt und friedlich vor sich. In
0066bequemem Trab, über endlos im Baß sich wiederholenden
0067Staccato-Triolen reitet der König wohlgemuth seines Weges.
0068Ein langsamer Uebergang leitet uns aus dem F-dur-
0069Allegro in ein As-dur-Andante: aus dem Pferdegetrappel
0070in das Schnurren eines Spinnrades, dessen Sextolen-
0071begleitung leider ebenso lange unbeweglich festsitzt wie
0072früher die Triolen des Reiters. Die volksmäßige, nicht 
0073eben originelle Melodie der Spinnerin mündet wieder in
0074das zwischen Polka und Marsch schwankende Reitermotiv.
0075Aber jetzt! Wie sollen wir aus der Musik die bösen Vor-
0076sätze der Stiefmutter verstehen, die an dem Mädchen ver-
0077übten Grausamkeiten mit erleben, den Zusammenhang von
0078dem Allen errathen? Eine Menge „dramatisch“ zugespitzter,
0079in Tempo und Tonart hastig wechselnder Zwischensätze
0080stürzen über einander, Walzerthemen wechseln mit düsteren
0081Larghettos — was bedeutet das Alles? Vergeblich stochern
0082die Zuhörer in dem gedruckten Programm herum, um die
0083Zeile zu finden, die sich mit den eben vorüberjagenden
0084Tacten deckt — eitle Mühe! Endlich leitet ein „Grandioso“
0085überschriebener A-dur-Satz in das ritterliche Hauptthema,
0086das, vom ganzen Orchester fortissimo hinausgejubelt, uns
0087den glücklichen Ausgang verkündet. Das Gruseln ist
0088überstanden.


0089Gegen Programme dieser Art sprechen nicht blos ästhe-
0090tische, sondern auch sehr praktische Bedenken. Wer kann sich
0091für diese halb kindischen, halb widerwärtigen Spukgeschichten
0092begeistern? Wie lange wird man trotz der geistvollen Musik
0093sich dafür interessiren? Der erste Eindruck dieser Musik-
0094märchen mag bestricken, aber wir fürchten für die Dauer
0095und Sicherheit ihrer Herrschaft. An Reiz und Reichthum
0096der Erfindung steht das „Spinnrad“ überdies hinter den
0097früheren Musikmärchen Dvořak’s zurück; es hat nicht die
0098geistvolle Charakteristik des „Wassermann“, noch die ent-
0099zückende Lyrik der „Waldtaube“. Wahrlich. Dvořak hat es
0100nicht nöthig, für seine Musik bei der Dichtkunst (und welcher 
0101„Dichtkunst“!) betteln zu gehen. Seine reiche musikalische
0102Erfindung bedarf keiner Anleihe, keiner Krücke, keiner Ge-
0103brauchsanweisung. Drängt es ihn aber, zur Abwechslung,
0104hinaus aus der wortlosen Instrumentalmusik zu realen
0105Gestalten, dann steht ein weit offenes Thor einladend vor
0106ihm: die Oper. Und hier können wir mit einem fröh-
0107lichen Ausblick schließen: Dvořak’s neue Oper „Russalka“,
0108welche kürzlich in Prag so begeistert aufgenommen worden,
0109soll demnächst im Hofoperntheater zur Aufführung
0110kommen. Da werden wir an rechter Stelle, auf eigenem
0111Boden erblühen sehen, was Dvořak an dramatischer
0112Charakteristik, an glänzender Farbenkunst sein Eigen nennt.


0113Regelmäßig wie die Jahreszeiten melden sich bei uns die
0114großen Orchester-Aufführungen: Anfangs November die Phil[2]-
0115harmonischen, acht Tage darauf die Gesellschafts-Concerte.
0116Letztere haben mit Händel’sSaul“ eine dankenswerthe
0117Wahl getroffen. Obgleich nach Liszt’s Ausdruck „un
0118peu demodé“, bleibt Händel uns doch unentbehrlich;
0119überdies gestattet die große Zahl seiner Oratorien einen
0120reichen Wechsel. Ehedem in Wien liebevoll gepflegt unter
0121van Svieten und Mozart, wurde Händel seit hundert Jahren
0122stark vernachlässigt. Erst der neuesten Zeit gebührt das Ver-
0123dienst, Händel wieder zu Ehren gebracht, ja mehrere seiner
0124schönsten Oratorien gleichsam neu entdeckt zu haben. Im
0125Jahre 1873 führt Brahms als Novität den „Saul“
0126auf, 1885 H. Richter die „Theodora“, und 1889 
0127den „Josua“; 1899 hören wir unter Perger’s Leitung
0128zum erstenmale die „Deborah“. Nach zahlreichen halb
0129geglückten, häufig auch mißglückten neuen Oratorien be-
0130gegnen sich die großen Chorvereine stets von neuem in der
0131Erkenntnis: zu Händel müsse man doch immer wieder
0132zurückgreifen. Die Armuth der neueren Oratorien-
0133Literatur würde Händel den Vorrang erzwingen, thäte dies
0134nicht seine eigene Größe. Seit Jahren sehen wir die
0135neuesten Oratorien regelmäßig verschwinden, sobald sie
0136die erste Neugierde befriedigt haben: Gounod’s 
0137Redemption“, Tinel’sFranciscus“, Massenet’s 
0138Eva“, „Die Seligkeiten“ von César Franck, „Lucifer“
0139von P. Benoit u. s. w. So erschien es denn
0140weise, wieder an Händel’s „Saul“ zu denken, dessen
0141großer dramatischer Zug und eminent populärer Stoff
0142seine Wirkung nirgends verfehlen kann. Das Textbuch,
0143das, abgesehen von seiner ermüdenden Ausdehnung, ge-
0144schickt angelegt und nicht ohne poetische Empfindung aus-
0145geführt ist, behandelt bekanntlich die letzten Regierungs-
0146jahre König Saul’s. Die rührende Gestalt des jugendlichen
0147Helden und Sängers David tritt hier in das Leben
0148Saul’s, welcher dem Jüngling anfangs Freundschaft
0149entgegenbringt, um ihn dann in Zorn und Eifersucht zu
0150verfolgen. David entgeht dem Wurfspeer des Königs und
0151stellt sich, nachdem Saul in der Schlacht gefallen,
0152an die Spitze seines Volkes, das er zu neuem Glanz
0153erhebt. Aus diesem historischen Bilde treten als
0154leuchtende Nebenfiguren die beiden Kinder Saul’s,
0155Jonathan und Michal, heraus. Eine andere handelnde 
0156Person, die hochmüthige ältere Tochter des Königs, Meral,
0157war für die Wiener Aufführung schon von Brahms 
0158gestrichen, der auch die ganze Ouvertüre (eine aus vier
0159ziemlich unvermittelten Sätzen bestehende „Symphonie“)
0160beseitigt hat. Trotz dieser und anderer Kürzungen dauert
0161dieses Oratorium für ein Wiener Mittagsconcert noch
0162immer lang genug. Je weniger man die Hörer mit allerlei
0163gleichartigen und gleichgiltigen Arien ermüdet, desto frischer
0164und dankbarer wird es die Höhenpunkte des Werkes auf-
0165nehmen. Man kennt die beiden blendendsten, gewaltigsten
0166Scenen in „Saul“: das Siegesfest des ersten und die
0167Leichenfeier des zweiten Actes mit dem Trauermarsch in
0168C-dur — Schöpfungen, die Händel selbst kaum über-
0169troffen hat.


0170Der jüngsten Aufführung des „Saul“ gebührt auf-
0171richtiges Lob; zuerst, wie gewöhnlich, den Chören, dann
0172den Solosängern Fräulein Walker und Herrn Naval,
0173wie auch Frau Kury und Herrn Frauscher. Daß
0174Händel den siegreichen Helden David einer Frauenstimme
0175zutheilt, ist oft beklagt worden. Mit dieser Stimmen-
0176Maskerade vermochte uns der kunstreiche Vortrag Fräulein
0177Walker’s ebensowenig zu befreunden wie vordem die kraft-
0178vollere, ungleich wärmere Stimme von Caroline Bettel-
0179heim. Herr F. Löwe dirigirte die Aufführung mit ein-
0180dringendstem Verständniß und großer, nur allzu sichtlicher
0181Hingebung. Sein Dirigenten-Talent fände gewiß noch
0182freudigere Anerkennung, wenn es sich nicht fortwährend
0183durch convulsivische Bewegungen des ganzen Körpers, auch
0184des Kopfes, manifestiren wollte. Wagner’s „unsichtbares
0185Orchester“ war nur für das Theater gedacht; im Concert
0186würden wir uns manchmal mit dem unsichtbaren Dirigenten
0187begnügen. Die Aufführung folgte der Bearbeitung Chry-
0188sander’s
. Von ihm stammen wol auch die in keinem
0189älteren Textbuche vorkommenden, an schlechte Colportage-
0190Romane erinnernden Aufschriften einiger Gesangsnummern:
0191Michel’s und David’s treue Liebe und Muth in der Ge-
0192fahr“, „Saul heuchelt versöhnliche Gesinnung gegen David“,
0193„Die Wendung zum Untergang“, „Saul’s Verzweiflung
0194und Ende“ und was solcher unnützer Geschmacklosigkeiten
0195mehr sind.