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Neue Freie Presse
Morgenblatt
No. 1036. Wien, Sonntag den 21. Juli 1867

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Musikalische Briefe aus Paris. V.

Rossini.


0003Paris, 18. Juli.
0004Ed. H. Als ich vor sieben Jahren in Paris mich von
0005Rossini und Auber verabschiedete, that ich es mit der weh-
0006müthigen Empfindung, die beiden Altmeister unserer modernen
0007Oper wahrscheinlich zum letztenmal gesehen zu haben. Ragten
0008sie doch Beide schon in jene winterlichen Lebenshöhen, wo wir
0009jedes weitere Jahr als ein Almosen anzusehen haben. Wie
0010groß war daher meine Freude, beide Männer rüstig und mun-
0011ter, ja gänzlich unverändert wiederzufinden! Die gewichtige
0012Scala von sieben Jahren hat ihnen wenig angehabt, kaum
0013unterscheiden wir die Octave vom Grundton.


0014Gestatten Sie mir für heute einige Mittheilungen über
0015Rossini. Ein besonders angenehmer Anlaß führte mich vor
0016wenigen Tagen zu ihm. Ich sollte, ein musikalischer Feuillet de
0017Conches, einen fremden Gesandten an dem kleinen Musenhof
0018von Passy einführen. Hauptmann v. Arbter, der ebenso
0019tapfere als liebenswürdige Officier, hatte nämlich im Auftrage
0020Schwind’s für Rossini eine Photographie des Frescobildes
0021mitgebracht, welches eine der Lünetten im neuen Wiener Opern-
0022hause zu Ehren Rossini’s ausfüllt. Ein berühmter Landsmann
0023und specieller Liebling Rossini’s, Julius Schulhoff, hatte sich
0024als Dritter unserer Expedition nach Passy angeschlossen. So stand
0025ich denn wieder vor der wohlbekannten goldenen Lyra an dem
0026Gartenthor der gastlichen Villa! Wie damals, saß der freund-
0027liche alte Herr am Schreibtisch in seinem kleinen Arbeitszim-
0028mer, erhob sich etwas schwerfälligen Leibes, aber mit gewin-
0029nendster Herzlichkeit, und streckte uns die Hand entgegen. Wir
0030drückten ihn bald wieder in den Lehnstuhl und breiteten das
0031Bild von Schwind vor ihm aus. Es gehört zu den anmuthig-
0032sten Compositionen unseres phantasievollen Meisters. Das große
0033Mittelfeld des Halbbogens enthält die drollige Rasirscene aus
0034dem „Barbier von Sevilla“: Figaro, den alten Bartolo 
0035einseifend, hinter ihnen Almaviva mit Rosine am Clavier in
0036verstohlener Umarmung, und seitwärts als boshafter Beobachter
0037der dürre Don Basilio. Auf dem kleineren Felde zur Rechten 
0038dieses Hauptbildes, durch zierliche Arabesken und Figuren davon
0039getrennt, sehen wir Aschenbrödel, das mit rührender De-
0040muth die zum Ball geschmückten Schwestern betrachtet. Das
0041correspondirende linke Seitenbild gehört der Italienerin 
0042in Algier
: die reizende Abenteurerin präludirt träu-
0043merisch auf der Laute, während der Türke mit an-
0044dächtiger Lüsternheit an der halboffenen Thür lauscht.
0045Die schönste Harmonie verbindet diese drei durch maß-
0046vollen Gegensatz einander hebenden Bildchen. Der künstlerische
0047Scharfblick Schwind’s vermied weislich heroische und tra-
0048gische Opernscenen („Othello“, „Wilhelm Tell“), welche die
0049Einheit der Stimmung gestört hätten. Das eigentlich possen-
0050hafte Element, das der „Barbier von Sevilla“ im Mittelbilde
0051voll übermüthigen Humors versinnlicht, besänftigt sich zu beiden
0052Seiten in den halbidealen Figuren Cenerentola’s und
0053Isabella’s zu dem mezzo-carattere des feinen musikalischen
0054Lustspiels. Ein Ton schalkhafter Anmuth und Liebeslust klingt
0055aus dem Ganzen, das sich wie Rossini’sche Musik — beinahe
0056anhört, möcht’ ich sagen.


0057Lange und mit sichtlichem Vergnügen betrachtete der greise
0058Maestro das Bild; sowol das Kunstwerk selbst, als die schmei-
0059chelhafte Aufmerksamkeit Schwind’s freuten ihn offenbar noch
0060viel mehr, als er zeigte. Es ist schon sehr viel, wenn Rossini 
0061einmal eine ihm gebrachte Huldigung nicht sofort in Spaß ver-
0062kehrt und mit ironischem Spott verscheucht. Aber plötzlich, als
0063wolle er absichtlich an Höheres erinnern, fragte er, ob denn
0064Mozart’s Denkmal in Wien schon vollendet sei? Und
0065Beethoven’s? Wir drei Oesterreicher sahen etwas verlegen
0066drein. „Ich erinnere mich sehr genau an Beethoven,“
0067fuhr Rossini nach einer Pause fort, „obwohl es bald ein halbes
0068Jahrhundert her ist. Bei meinem Aufenthalt in Wien habe
0069ich mich beeilt, ihn aufzusuchen.“ — „Und er hat Sie nicht
0070vorgelassen, wie Schindler und andere Biographen ver-
0071sichern.“ — „Im Gegentheil,“ corrigirte mich Rossini, „ich
0072ließ mich durch Carpani, den italienischen Dichter, mit dem
0073ich zuvor auch Salieri besucht, bei Beethoven einführen, und
0074dieser empfing uns sofort und sehr artig. Freilich währte der
0075Besuch nicht lange, denn die Conversation mit Beethoven war
0076geradezu peinlich. Er hörte an dem Tage besonders schlecht und
0077verstand mich nicht trotz des lautesten Sprechens; obendrein 
0078mag seine geringe Uebung im Italienischen ihm das Gespräch
0079noch erschwert haben.“ Ich bekenne, daß diese Mittheilung
0080Rossini’s, deren Treue durch mancherlei Details noch zweifel-
0081loser hervortrat, mich wie ein unerwartetes Geschenk erfreute.
0082Stets hatte mich dieser Zug in Beethoven’s Biographie ver-
0083drossen und die musikalische Jacobiner-Partei dazu, welche die
0084brutale germanische Tugend, einen Rossini von der Schwelle
0085zu weisen, verherrlicht. Also die ganze Geschichte nicht wahr.
0086Wieder ein Beispiel, mit welcher Sorglosigkeit falsche That-
0087sachen hingestellt und nachgeschrieben werden, welche dann mit
0088unglaublicher Schnelligkeit zur historischen Wahrheit verhärten.
0089Und dies Alles, während man noch mit leichter Mühe von den
0090lebenden Hauptpersonen authentische Aufklärungen erlangen
0091könnte!


0092Gerne folgten wir Rossini’s Einladung, uns hinab ins
0093Erdgeschoß zu führen. Wir traten in den lichten, geräumigen
0094Salon mit dem freskengeschmückten Plafond und den hohen
0095Fenstern, zu welchen Rosenbüsche hereinnicken. In der Mitte
0096des Salons ein Pleyel’scher Flügel. Rossini hat bekannt-
0097lich in den letzten Jahren mit Vorliebe das Clavier cultivirt,
0098und dies verspätete Virtuosenthum gibt ihm Stoff zu fort-
0099währenden Scherzen (worunter viele stereotype). Er begann
0100gleich zu klagen, daß Schulhoff ihn als Pianisten nicht
0101wolle aufkommen lassen. „Freilich übe ich nicht täglich Scalen,
0102wie ihr jungen Leute — denn wenn ich Tonleitern über das
0103ganze Clavier mache, so falle ich entweder rechts vom Sessel
0104herab oder links.“ Auf Schulhoff’s Bitten spielte uns
0105Rossini einen seiner Clavierspässe, das „Offenbach-Capriccio“.
0106Ein Italiener — so lautet die Genesis dieses Stückes —
0107äußerte einmal bei Rossini, Offenbach habe den bösen
0108Blick, und man müsse das Gettatore-Zeichen (Ausstrecken des
0109zweiten und fünften Fingers) vor ihm machen. „Also sollte
0110man vor Offenbach auch folgenderweise spielen,“ scherzte Ros-
0111sini und improvisirte am Piano eine äußerst neckische Kleinig-
0112keit, deren Melodie er mit gabelförmig ausgestreckten zwei
0113Fingern der rechten Hand vortrefflich ausführte. Ich bemerkte
0114einige feine, originelle Modulationen, worauf Rossini so gefäl-
0115lig war, mir seine Harmonisirung des alten Marlborough-
0116Liedes vorzuspielen. Es ist erstaunlich, wie gerade Rossini, dem
0117modulatorische Spitzfindigkeiten stets so fernlagen, dies [2]
0118Volkslied mit einem Reichthum geistreicher Harmonien und
0119enharmonischer Ueberraschungen ausgestattet hat. Auch in eini-
0120gen anderen Gesangs- und Clavierstücken, die ich in einer
0121seiner Soiréen hörte, ist mir die neue Vorliebe Rossini’s für
0122distinguirte Bässe und lebhaftere Modulationen aufgefallen.
0123Weit entfernt, diesem niedlichen Nachfunkeln einer im Grunde
0124längst erloschenen Flamme ungebührlichen Werth beizulegen,
0125scheint es mir doch interessant, daß der Styl des 75jährigen
0126Sängers von Pesaro überhaupt noch einer neuen charakteristi-
0127schen Wendung fähig war.


0128Im Laufe des Winters gibt Rossini sechs bis acht
0129musikalische Soiréen in seiner Stadtwohnung, Chaussée d’Antin
0130Nr. 2. Für einen Künstler von so eminentem Schönheitssinne
0131in der Musik ist die Ausschmückung seiner Wohnung auffallend
0132styllos, mit einem Stich ins Barocke. Neben einem Kupfer-
0133stich der Madonna della Sedia hängt irgend ein decolletirtes
0134Pariser Ideal, daneben die Wand entlang broncene Schüsseln
0135mit Heiligengeschichten in getriebener Arbeit. Auf der Commode
0136erhebt sich ein Crucifix aus einem Gewühl japanesischer Fi-
0137gürchen und chinesischer Bilder, für welche Rossini sehr einge-
0138nommen scheint. Von Porträts bemerkte ich nur auf dem
0139Kaminsims die kleinen Photographien des Königs von Portu-
0140gal und der Adelina Patti. Von Letzterer spricht der Maestro
0141mit bewundernder Hochschätzung und nimmt sie immer aus,
0142wenn er das gänzliche Aussterben der großen Gesangskünstler
0143beklagt. „Sehen Sie da,“ sagte er, nach dem neuen Opern-
0144hause zeigend, das sich gerüstumkleidet vor seinen Fenstern er-
0145hebt, „wir werden bald ein neues Theater haben, aber Sän-
0146ger haben wir jetzt schon nicht mehr. Wird es Ihnen besser
0147ergehen, wenn einmal das neue Opernhaus in Wien fer-
0148tig ist?“


0149Die Soiréen des berühmten Maestro sind in Paris Ge-
0150genstand allgemeinen Ehrgeizes. Die ausgezeichnetsten Personen
0151bemühen sich darum oft mehr, als um eine Einladung in die
0152Tuilerien, und die Journale versäumen nicht, am folgenden
0153Tage davon zu berichten. Ich habe dem letzten dieser Musik-
0154abende noch beiwohnen können und gestehe, mehr Ehre als Ver-
0155gnügen dabei empfunden zu haben. Rossini’s Wohnung reicht
0156für die Zahl der Gäste nicht entfernt aus; die Hitze war un-
0157beschreiblich und das Gedränge so groß, daß es jedesmal ver-
0158zweifelter Anstrengungen bedurfte, wollte eine Sängerin (zumal 
0159von dem Gewicht einer Madame Sax) von ihrem Sitze zum
0160Clavier gelangen. Eine juwelenfunkelnde Damenschaar hält den
0161ganzen Raum des Musikzimmers dicht besetzt; an den offenen
0162Thüren desselben stehen regungslos geklemmt die Herren. Mit-
0163unter schleicht ein Bedienter mit Erfrischungen durch die ver-
0164schmachtenden Reihen, aber seltsamerweise sieht man nur we-
0165nige (meist fremde) Gäste ernstlich zugreifen. Die Hausfrau,
0166sagt man, sieht es nicht gern. Ueber die jetzige Madame Ros-
0167sini weiß ich nichts Anderes zu melden, als daß sie reich ist
0168und einmal schön war. Eine kühn gemeißelte Adlernase ragt
0169noch wie ein übrig gebliebener Thurm aus dem Schutt ihrer
0170einstigen Schönheit. Den Rest bedecken Brillanten.


0171Das Programm des Concertes (fast ausschließlich Ros-
0172sini’sche Musik, wie begreiflich) bildeten italienische und fran-
0173zösische Gesangsstücke, von den ersten Kräften der Oper: Mad.
0174Sax, Mad. Battu, Faure und Anderen vorgetragen. Zwei
0175neue Rossini’sche Clavierstücke (von einem jungen Virtuosen
0176Diemer gespielt) fielen weniger durch originellen Gehalt als
0177durch ihre gehäuften Schwierigkeiten auf. Sie führten die
0178seltsamen Titel: „Tiefer Schlaf und plötzliches Aufwachen“,
0179Tatarischer Bolero“. Die Gesangsstücke sind ernsthafter und
0180schöner, nicht selten originell, immer musterhaft in der Be-
0181handlung der Stimme. Zwei seiner Gesangsstücke begleitete der
0182Hausherr selbst am Clavier mit entzückender Delicatesse. Sonst
0183sitzt er an solchen Abenden meist schweigsam und ermüdet in dem
0184kleinen Eintrittszimmer mit seinem alten Collegen Caraffa 
0185oder irgend einem anderen Hausfreund und ist froh, wenn ihn
0186die Vergötterungsmeute ein Weilchen in Ruhe läßt.


0187Ich bedauere, Rossini’s neue Messe nicht kennen gelernt
0188zu haben; es soll dies Werk (das wie die übrigen vom Com-
0189ponisten gehütet und der Veröffentlichung entzogen ist) sehr
0190bedeutende Schönheiten enthalten. „Das ist keine Kirchenmusik
0191für euch Deutsche,“ meinte Rossini ablehnend, „meine heiligste
0192Musik ist doch nur immer semi-seria.“ Seine Napoleons-
0193Hymne (für die Preisvertheilung am 1. Juli) nennt er
0194„Kneipenmusik“, seine Opern „veraltetes Zeug“. Es ist über-
0195haupt mit dem berühmten Maestro nicht ernsthaft zu reden;
0196er fühlt sich nur behaglich in gemächlichem Scherz und leichten
0197Neckereien, und wenn er über seine Compositionen spottet,
0198so bleibt es immer zweifelhaft, ob er mehr sich oder die An-
0199deren zum Besten hat. Man mag das Uebertriebene dieser 
0200grotesken Selbstverleugnung tadeln, es liegt ihr aber un-
0201streitig ein Motiv oder Gefühl zu Grunde, das man
0202bei näherem Einblick in die Verhältnisse anerkennen muß.
0203Rossini lebt nämlich inmitten einer ununterbrochenen Vergöt-
0204terung und Verhätschelung. Es gibt wenig Männer auf Erden,
0205denen in solcher Weise gehuldigt und nur gehuldigt wird. Sein
0206Zimmer ist nie leer von Besuchern; die höchsten Notabilitäten
0207des Adels, des Reichthumes, der Kunst kommen und gehen.
0208Er wird überhäuft mit kostbaren Geschenken und zarten Auf-
0209merksamkeiten; von 100 Menschen glauben 99 ihm Schmei-
0210cheleien sagen zu müssen. Würde Rossini all diese bewundern-
0211den Worte mit jenem gestreichelten, eitel-bescheidenen Lächeln
0212hinnehmen, das so vielen Celebritäten eigen ist, die gleichsam
0213mit einer Hand abwehren und mit der anderen eincassiren, so
0214wäre in seinem Hause nicht eine Viertelstunde lang zu existi-
0215ren. Man müßte vor Weihrauch ersticken. Ernsthaftes Miß-
0216billigen oder Ereifern liegt nicht in Rossini’s Charakter; er
0217schlägt also lieber mit einer gutmüthigen Selbstbespöttelung
0218dem Anbeter das Weihrauchfaß aus der Hand und ergötzt sich
0219an dessen Verlegenheit. „Wie soll ich Sie nur nennen,“ hauchte
0220ihn jüngst eine schöne Dame an, „großer Meister? oder Fürst
0221der Tonkunst? oder göttliches Genie?“ — „Am liebsten wäre
0222mir,“ erwiderte Rossini zutraulich schmunzelnd, „Sie nennten
0223mich: mon petit lapin!“ („Mein Mauserl“ auf gut Wienerisch.)


0224Rossini macht keine Besuche, bringt keinen Abend außer
0225Hause zu, war seit 20 Jahren nicht im Theater und hat na-
0226türlich auch die Ausstellung nicht gesehen. Spazierenfahren,
0227Besuche empfangen und ein wenig Musik bilden seine ganze
0228Beschäftigung. Zum „Ehrenpräsidenten“ der großen musikali-
0229schen Jury über die Preiscantaten und Friedenshymmen ließ
0230er sich willig wählen, unter der ausdrücklichen Bedingung, daß
0231er nie zu erscheinen und nicht das Mindeste zu thun brauche.
0232Er erklärte sich scherzend bereit, unter denselben Bedingungen
0233auch noch in andere Comités gewählt zu werden. Ganz ernst-
0234haft nimmt der heitere Maestro vielleicht gar nichts, als die
0235Pflege seiner Gesundheit. Er schont sich aufs zärtlichste und
0236hegt großen Abscheu vor dem Sterben. Wehe, wenn ihm ein
0237Besucher seine Siesta oder sonst einen wichtigen Leibesack ver-
0238zögert! „Allez-vous-en,“ rief er jüngst so einem Unglücklichen
0239zu, „ma célébrité m’empête!“