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Neue Freie Presse
Morgenblatt
No. 1219. Wien, Mittwoch den 22. Januar 1868

[1]

Hofoperntheater.

(„Oberon“, „Figaro’s Hochzeit“. Fräulein Ehnn.)


0003Ed. H. Nach längerer Pause und mit theilweise ver-
0004änderter Besetzung hörten wir „Oberon“ und die „Hochzeit
0005des Figaro“. In beiden Vorstellungen that der Zuhörer wohl
0006daran, sich mehr an die Schönheit der Musik als an den
0007Styl der Darstellung zu halten, welche im besten Falle gelun-
0008gene Einzelheiten bot. Auf beiden Opern lastet überdies, dicht
0009wie auf wenigen, der Staub und Rost der Salvi’schen Sce-
0010nirung. Man kann von der gegenwärtigen, mit Novitäten
0011vollauf beschäftigten Direction nicht verlangen, daß sie jetzt, in
0012den letzten Tagen unseres ehrwürdigen Opernhauses, die alten
0013Stücke noch neu scenire. Aber im neuen Hause werden sie
0014hoffentlich eine zweite Jugend erleben. Insbesondere ist „Obe-
0015ron“ eine der schwierigsten Aufgaben für die Regie. Diese
0016hat hier den Dichter nicht blos ordnend und schmückend zu
0017begleiten, sie muß selbstständig, productiv eintreten, um seinen
0018Fehler nach Möglichkeit zu verbessern. Das Ziel ist würdig
0019und lohnend: die Rettung einer der edelsten Tondichtungen,
0020die je unter dem Gerölle eines verderblichen Librettos seufzte.
0021C. M. Weber war nicht blind für die auffallendsten dieser
0022Fehler, aber es war zur Aenderung zu spät, für die Londoner
0023Aufführung wenigstens, die er um wenige Tage überlebte.
0024„Die Einführung so mancher Hauptschauspieler,“, schrieb We-
0025ber
an den Textdichter Planché, „die Weglassung der Musik
0026in den wichtigsten Momenten, alles dies nimmt dem „Obe-
0027ron
“ den Namen einer Oper; es wird ihn für alle übrigen
0028Theater in Europa unfähig machen. Das ist sehr schlimm
0029für mich.“ Für eine Regie von mehr als bloßer Routine
0030öffnet sich hier ein bedeutendes Feld. Nur vorläufig möchten
0031wir die Frage anregen, ob sich nicht Manches von der schö-
0032nen Balletmusik aus Weber’s verschollener „Sylvana“ zur
0033Ausstattung pantomimischer Scenen im „Oberon“ verwenden
0034ließe, der gegen den Schluß hin geradezu im Librettosand ver-
0035siegt? Einen glücklichen Staatsstreich bemerkten wir schon in
0036der letzten Vorstellung: die Sultanin Roschane, die sonst
0037mit ihrem Stückchen Dialog regelmäßig dem Gelächter des
0038Publicums verfiel, ist jetzt (gleich der Titania) zur pantomi-
0039mischen Figur umgewandelt und einer Tänzerin zugetheilt.
0040Wenn es doch thunlich wäre, auch dem Almansor und
0041dem Babekan, und wie alle diese mahomedanischen Cavaliere
0042heißen, das ewige Stillschweigen aufzuerlegen! Von den Haupt-
0043darstellern ist Frau Dustmann als eine vorzügliche Rezia 
0044bekannt; sie war an dem Abend allerdings mehr bei Seele als
0045bei Stimme. Dafür war Herr Zottmayer ganz bei Stimme
0046— bei der seinigen leider. Dieser „Hüon von Bordeaux“ ver-
0047rieth in Gesang und Spiel ein ausnehmendes, nur zu einsei-
0048tig cultivirtes Talent für das Hölzerne, nebst sehr unchristli-
0049cher Wahlverwandtschaft mit den genannten Herren Babekan,
0050Almansor etc. In Herrn Lay besitzen wir keinen hervorragen-
0051den, aber einen ganz annehmbaren Scherasmin; als einer
0052der wenigen „Sprecher“ dieser Bühne ist er wirklich schätzbar.
0053Fräulein Benza, eine der muntersten Fatimen, deren wir
0054uns hier erinnern, sang zum erstenmal die bisher mit Unrecht
0055weggelassene Arie im dritten Act: „Arabien mein Heimat-
0056land“ — eine der schönsten Inspirationen Weber’s. Wir ha-
0057ben an ihrem hübschen Vortrage nur auszusetzen, daß sie den
0058Refrain: „Al al al al!“ wiegend und tänzelnd sang, die
0059Fingerspitzen am Schürzensaum, während dieser Ruf doch offen-
0060bar das Rößlein der Fliehenden anfeuern soll. Schade, daß
0061der Elfe Puck bis auf das Nothdürftigste zusammengestrichen
0062wird, eine interessante belebende Figur, für welche eigentlich
0063die vereinigten Talente einer Tänzerin und Sängerin zu wün-
0064schen wären. Fräulein Gindele gab die Rolle recht sorgfäl-
0065tig, aber ohne charakteristische Färbung. Durch ihre muthwillige
0066Hübschheit scheint sie für den „Puck“ wie geschaffen; sie spielte
0067ihn aber nicht mit Laune, sondern mit einem langen feierlichen
0068Lilienstengel in der Hand und einigen Nebenabsichten auf
0069Heiligsprechung im Herzen. Oberon erschien diesmal zur an-
0070genehmen Ueberraschung des Publicums in der Person des
0071Herrn Walter, dem die Rolle auffallend viel Spaß zu ma-
0072chen schien. Ueber die Partie Oberon’s war Weber selbst
0073nicht recht einig; wir plaidiren für den vielfach geglückten Ver-
0074such, die Rolle in der Sopranlage von einer jungen Dame
0075singen zu lassen.


0076Die Vorstellung von „Figaro’s Hochzeit“ entbehrte in
0077empfindlichem Grade der Freiheit und natürlichen Sicherheit,
0078welche das musikalische Lustspiel erfordert. Die besten Kräfte
0079unserer Oper sind darin beschäftigt, aber der Conversations-
0080Styl ist nicht ihre beste Kraft. Am fühlbarsten trat dies bei
0081Frau Wilt (Gräfin) hervor, deren Leistung, im Spiel und
0082Dialog ängstlich hilflos, nur den rein musikalischen Maßstab
0083zuließ. Aus dem Gesichtspunkte des Concertgesanges erschien
0084der Beifall wohlverdient, welchen Frau Wilt nach dem Vor-
0085trage ihrer beiden Arien erntete. Das Dictir-Duett wurde auch
0086diesmal langsamer und sentimentaler genommen, als sich aus
0087dem Texte oder der Musik rechtfertigen läßt. Herrn Mayer-
0088hofer’s
 Figaro ist sorgfältig studirt und gewandt ausgeführt;
0089der zündende Funke des Humors will aber nicht hervorsprin-
0090gen. Den Grafen singt Herr Beck vorzüglich; man setzt sich
0091gern über die geringe Kluft hinweg, die zwischen seinem Spiel
0092und der aristokratischen Eleganz Almaviva’s liegt. Nebst Beck 
0093erhielt den lebhaftesten Beifall Frau Dustmann, deren Su-
0094sanne als eine sehr hübsche Leistung bekannt ist. Die alte
0095Marcelline, eine lästige Erscheinung in der Oper, bekam dies-
0096mal durch Fräulein Benza einen belebenden Anflug von
0097Humor; das Mädchen ist eine geborne Schauspielerin. Im
0098Oberon“ wie in „Figaro’s Hochzeit“ gehörte ein reichlichster
0099Antheil an dem Erfolg und Applaus unserem bewährten Or-
0100chester, das sich besonders zusammenzunehmen scheint, wenn
0101Esser’s milder, magistraler Ernst leitend und theilnehmend
0102über dem Ganzen waltet.


0103Fräulein Bertha Ehnn, nunmehr Mitglied des Hof-
0104operntheaters, sang den Pagen als zweite Antrittsrolle. Die
0105junge Künstlerin bewährte ihr schönes Darstellungstalent, ohne
0106jedoch strengeren Anforderungen bezüglich der Gesangstechnik
0107zu genügen. Die Verbindung der Töne, die Oekonomie des
0108Athems waren nicht tadellos, die Intonation der höheren Töne [2]
0109häufig zu tief. Die nicht große, aber jugendfrische, sympa-
0110thische Stimme wird leicht in der Höhe bei einigem Nachdruck
0111schrill. Der Verstand lehrt Fräulein Ehnn stets die richti-
0112gen Umrisse, die Empfindung liefert ihr beredte und schöne
0113Farben, aber von dem fertigen Bilde wird Niemand sagen:
0114Das hat ein Meister gemalt. Es fehlt die Sicherheit im
0115Technischen. Und Mozart’sche Musik ist es vor Allem, die
0116wie ein unbarmherziger Mittagssonnenschein die kleinste Lücke,
0117den leichtesten Flecken der Gesangskunst offenbart, Mängel, die
0118in der romantischen Dämmerung moderner Opern kaum merk-
0119bar sind. Da kann die wankende Kunst sich an einem Wald von
0120Contrasten und Effecten jederzeit anhalten. Man konnte das im
0121Faust“ und in der „Afrikanerin“ wahrnehmen. Für das Gret-
0122chen
sind Jugend und Spieltalent, Schwung und Wärme der Em-
0123pfindung so entscheidend, daß eine mit diesen Gaben ausge-
0124stattete Sängerin leicht ein reizendes, mitunter hinreißendes
0125Bild davon ausführen wird — und das ist Fräulein Ehnn’s 
0126Gretchen. Ihr Ausdruck ist warm und wahr, namentlich in
0127der Gartenscene von überzeugender Innigkeit. Dazu kommt
0128eine überraschend freie und bezeichnende Action und eine wohl-
0129thuend deutliche Aussprache. Vor der Gefahr des Zuviel-Spie-
0130lens möchten wir Fräulein Ehnn beizeiten warnen und bei-
0131spielsweise an das zu häufige unschöne Benetzen der Finger
0132am Spinnrade, an das übertriebene Paradiren und Liebäugeln
0133vor dem Spiegel (bei Faust’s Eintritt) und Anderes erin-
0134nern. In der „Afrikanerin“ stieß der Gesang schon häufiger
0135auf Klippen, namentlich im Schlummerlied und der zweiten
0136Hälfte der Sterbescene; der forcirte Klang und die zu tief
0137schwebende Intonation der hohen Töne machten sich empfind-
0138licher bemerkbar. Fräulein Ehnn spielte die Selica sehr gut
0139und fand für manche, oft aus wenigen Worten bestehende
0140Stelle einen überraschend wahren und eigenen Ausdruck („...so
0141sterb’ auch ich“ — zu Nelusko; „die Verachtung“ — zu Vasco 
0142im vierten Acte u. A.). Zur vollen Wirkung des Dra-
0143matischen fehlt dieser Selica vielleicht nur das Impo-
0144sante der Persönlichkeit. Die Individualität Fräulein Ehnn’s
0145dürfte in Rollen „di mezzo carattere“ und in der Spiel-
0146oper ihr eigenstes Feld finden. Ihr gewandtes, munteres
0147Spiel als Cherubin spricht ganz dafür, wenn auch die heraus-
0148fordernde Indolenz, mit welcher der vom Grafen entdeckte
0149Cherubin im Lehnstuhle sich reckelt, kaum richtig ist. Für dies-
0150mal müssen wir uns auf diese wenigen, von der Oberfläche
0151der ersten Bekanntschaft abgeschöpften Bemerkungen beschrän-
0152ken; ein Talent wie Fräulein Ehnn will in einem größeren
0153Rollenkreise und öfter gehört sein, um mit Sicherheit abgeschätzt
0154zu werden. Der hochgehende Enthusiasmus, mit dem Fräulein
0155Ehnn im Sommer hier gefeiert wurde und dessen Wogen bis
0156ins Marsfeld hinüberspritzten, unsere österreichische Colonie
0157allarmirend, er ist uns, offen gestanden, bis jetzt nicht völlig
0158gerechtfertigt erschienen. Es wird Alles davon abhängen, ob
0159Fräulein Ehnn die Mängel ihrer Gesangstechnik durch ernstes
0160Studium beseitigen und so die Erwartungen vollständig er-
0161füllen werde, zu welchen ihre glänzenden Anfänge berechtigen.
0162Vor ihrem Talente aber haben wir einen zu großen Respect
0163und an dessen Aeußerungen ein zu lebhaftes Vergnügen, als
0164daß wir nicht jetzt schon das Engagement der jungen Künst-
0165lerin als einen Gewinn für unsere Oper schätzen und begrüßen
0166sollten.