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Neue Freie Presse
Morgenblatt
No. 1225. Wien, Dienstag den 28. Januar 1868

[1]

Musik.

(„Figaro’s Hochzeit“. — Fräulein Edelsberg als Fides und Valentine. — Concerte.)


0003Ed. H. Mozart’s Geburtstag (27. Januar) wurde im
0004Hofoperntheater durch eine Wiederholung von „Figaro’s Hoch-
0005zeit“ gefeiert. Nachdem die gegenwärtige Besetzung dieser
0006Oper vor Kurzem besprochen wurde, gestattet man mir wol
0007heute einige allgemeine Bemerkungen. Sie sind der Nachhall
0008eines persönlichen Erlebnisses, nämlich einer Aufführung von
0009Beaumarchais’ Lustspiel „Le mariage de Figaro“, die
0010ich im Sommer in der Comédie Française sah und deren
0011Bild mich nun Scene für Scene die ganze Mozart’sche
0012Oper entlang verfolgt hat. Aus der bloßen Lectüre dieses be-
0013rühmten Stückes bildet man sich kaum eine Vorstellung von
0014der geistig berauschenden Wirkung, die es von der Bühne
0015herab hervorbringt. Diese Erfahrung kann man nur noch in
0016Paris machen, wo der „Barbier von Sevilla“ und „Figaro’s
0017Hochzeit“ von Beaumarchais — Lustspiele, die zu der
0018besten aller Zeiten gehören — niemals vom Repertoire ver-
0019schwunden sind. In Deutschland hatte man beide Stücke aus
0020politischer Aengstlichkeit vom Theater möglichst ferngehalten;
0021wo sie dennoch zur Aufführung kamen, wurden sie bald durch
0022die siegreichen Opern-Bearbeitungen von Mozart, Pai-
0023siello
und Rossini für immer verdrängt. So sehr die so-
0024cialen Zustände sich seit Beaumarchais geändert haben, die
0025demagogischen Blitze, die aus seinen zwei Figaro-Comödien 
0026zucken und einst die Welt in Brand stecken halfen, sie schla-
0027gen in Paris noch immer prasselnd ein. Dem deutschen Thea-
0028ter-Besucher, der den Melodien des Mozart’schen „Figaro“
0029andächtig lauscht, fällt es kaum mehr in den Sinn, welch
0030merkwürdige politische Rolle das französische Urbild dieser
0031Oper einst gespielt. Schon das erste (1775 aufgeführte) Lust-
0032spiel von Beaumarchais: „Le barbier de Séville“, wol
0033das ergötzlichste Intriguenstück seit Molière, war eine demo-
0034kratische That. Während sonst auf der Bühne wie im Leben
0035regelmäßig die Niedriggeborenen gefoppt und verspottet wur-
0036den, wendet sich hier plötzlich das Blatt, ein simpler Barbier 
0037leitet keck die Fäden der Intrigue und triumphirt durch seine
0038geistige Ueberlegenheit über die Reichen und Großen. Dieses
0039Thema des Widerstandes, im „Barbier“ mehr angedeutet
0040und präludirt, bricht nun in „Figaro’s Hochzeit“ in vollen 
0041Accorden los. „Une folle journée, ou: Le ma-
0042riage de Figaro
“ wurde im Jahre 1781 vollendet
0043und eingereicht, aber erst nach dreijährigem unausgesetzten
0044Kampf gegen zahllose Verbote und Hindernisse gelang es Beau-
0045marchais, die Comödie zu Aufführung zu bringen. Natürlich
0046war ganz Paris in fieberhafter Spannung und belagerte am
0047Tage der ersten Vorstellung (27. April 1784) das Théâtre
0048Français vom frühen Morgen. Vornehme Damen aßen ihr
0049Mittagbrot in den Logen und Garderoben der Schauspielerin-
0050nen, um frühzeitig auf ihre Plätze zu gelangen. Das Stück
0051spielte von halb 6 bis 10 Uhr, eine bishin unerhört lange
0052Dauer. Der Erfolg war stürmisch. „Die Hochzeit des Figaro“
0053wurde durch 68 Abende nacheinander gegeben und hat in acht
0054Monaten dem Theater an 300,000 Francs, dem Autor über
005540,000 Francs reinen Gewinn getragen. Der Grundgedanke
0056der socialen Gleichberechtigung und der Ueberlegenheit des
0057Geistes ist mit glänzendem Witz und rücksichtsloser Kühnheit
0058entwickelt. Es ist eine treffende Bemerkung von St. Beuve,
0059daß die damalige Gesellschaft ihren Untergang nicht in dem
0060Grade verdient haben würde, hätte sie nicht an dem Abende
0061und hundertmal nacheinander mit Entzücken dieser frechen Ver-
0062spottung ihrer selbst beigewohnt. Noch unbegreiflicher bleibt,
0063daß der Hof selbst das Stück 1785 in Petit-Trianon spielte;
0064die Königin gab die Rosine, der Graf v. Artois den Figaro.
0065Beaumarchais’ „Figaro“ war aber, wie sich Napoleon spä-
0066ter ausdrückte, „la révolution déjà en action“.


0067Mozart (oder sein Textdichter L. da Ponte) folgt dem
0068Gange des französischen Lustspiels mit merkwürdiger Treue.
0069Wenn der Vorhang im Théâtre Français auffliegt und wir
0070Figaro mit dem Zollstab das Zimmer ausmessen sehen, wäh-
0071rend Susanne vor dem Spiegel ein kokettes Hütchen probirt,
0072so glaubt man unwillkürlich, die Beiden würden das Mozart’-
0073sche Duett anstimmen. Wir hören in der That dessen Worte,
0074wenn auch nur gesprochen. Bartholo und Marzelline treten
0075hierauf ein, zwischen dieser und Susanne entbrennt der Zwei-
0076kampf mit immer tieferen Knixen und spitzeren Worten. Che-
0077rubin
klagt Susannen sein Herzeleid, entwendet das rothe
0078Seidenband, versteckt sich hinter den Lehnstuhl beim Eintritt
0079des Grafen u. s. f. — Alles wie in der Oper. Der zweite
0080Act beginnt mit dem Gespräche zwischen der Gräfin und Susanne,
0081welche schließlich den bittenden Cherubin introducirt. Wäre
0082nicht Mozart’s Pagen-Romanze so vollendet in ihrer Art,
0083man müßte bedauern, daß er das wunderbar volks-
0084thümliche Originalgedicht nicht beibehielt, dessen Rhythmus
0085schon Musik ist, und sehr herzklopfende obendrein.*) 
0090Im dritten Acte nimmt den breitesten Raum die Proceßscene
0091ein, eine beißende Satyre auf theils lächerliche, theils gewis-
0092senlose Jurisdictionsformen. Diese unmusikalischeste Partie des
0093Lustspiels erscheint in der Mozart’schen Oper sehr gekürzt, so
0094daß der dritte und vierte Act Beaumarchais’ in den dritten
0095von Mozart zusammengezogen sind. Der letzte Act bringt hier
0096wie dort übereinstimmend das Intriguenspiel der Verkleideten
0097im Garten, dies tolle Hinüber und Herüber, das schließlich
0098einer bequemen Erhellung und Versöhnung Platz macht. Der
0099lange Monolog Figaro’s zu Anfang dieses Actes ist vielleicht
0100das merkwürdigste Stück in dem Werke von Beaumarchais.
0101Figaro, im Dunkel auf einer Steinbank sitzend, harrt Su-
0102sannens, von der er sich betrogen wähnt. In dieser Pein des
0103Wartens läßt er seine ganze Vergangenheit in raschen Bildern
0104vor seinem Geiste Revue passiren. Wie er als elternloser Find-
0105ling überall gegen Härte und Vorurtheil gekämpft, alle Ge-
0106werbe, Künste, Beschäftigungen nacheinander versucht, überall
0107den von Geburt oder Protection Bevorzugten weichen mußte,
0108trotz Fleiß und Talent dem Hunger und durch freisinnige
0109Reden dem Kerker verfiel, bis er in das Haus des Almaviva 
0110gekommen, wo ihn jetzt der Strudel der Intrigue zu Boden
0111reißt. Diese dunkle Lebensgeschichte, bald erhellt durch lustige
0112Witzfunken, bald durch die rothen Blitze eines grollenden Hu-
0113mors, ist für sich ein kleines Drama, der Ernst des ganzen
0114Stückes concentrirt sich darin.


0115So sehen wir alle Figuren und Scenen Beaumarchais’
0116in unserer gesungenen „Hochzeit des Figaro“ treulich beibehal-
0117ten, ja wie an der Fensterscheibe nachgepaust. Aber das Beste
0118und Eigenthümlichste des Originalstückes ging verloren: der
0119beispiellos schlagfertige und von einer bestimmten politischen
0120Idee getragene Dialog. Dieser Dialog ist bei Beaumarchais 
0121ein unausgesetztes geistiges Turnier, in welchem die geschicktesten
0122Stöße immer noch geschickter parirt und zurückgegeben werden.
0123Die zahlreichen epigrammatischen Spitzen des Lustspiels sind
0124in Frankreich sprichwörtlich geworden. Die Musik muß sie fal-
0125len lassen, was sollte sie auch damit? Man dehne eines dieser
0126witzigen Apercus zu einer Dauer von vier bis fünf Secunden [2]
0127aus, wie sie die Musik braucht, und es wird langweilig. (Wie
0128ungeduldig macht uns z. B. in der Oper die Wiederholung
0129von: „Er ist sein Vater, er sagt es ja selbst.“) Mit dem
0130geistvollen Dialog ist diesem Lustspiele die Hälfte seiner Bedeu-
0131tung und Anziehungskraft genommen; in die andere Hälfte
0132theilen sich die Charaktere und die Handlung. Was die Charaktere
0133betrifft, so erfuhren sie eine nothwendige Alteration schon
0134durch das Wesen der Musik, welche Witz und Reflexion zu
0135Gunsten der sich ausbreitenden Empfindung zurückdrängt. Man
0136muß Coquelin als Figaro, die beiden Schwestern Brohan 
0137als Susanne und Gräfin gesehen haben, um den ganzen Ab-
0138stand zu ermessen. Am meisten litt durch die Opernbearbeitung
0139die bedeutende Physiognomie Figaro’s; am wenigsten der Page
0140Cherubin, für dessen süße, morgendämmernde Regungen die
0141Musik Farben besitzt, welche dem Dichter mangeln oder doch
0142diesem Dichter mangelten. Bartolo, Basilio, Antonio, Don
0143Curzio, Marzelline, Fanchette sind auch im Original keines-
0144wegs Hauptrollen, aber sie expliciren sich doch in einigen er-
0145götzlichen Gesprächen, man weiß, wer sie sind und was sie
0146wollen. In der Oper hingegen stehen sie nur im Wege und
0147bringen eine lästige Buntheit und Unruhe in die Scene, ohne
0148irgendwie unsere Theilnahme zu erregen. Von Beaumarchais’
0149Lustspiel bleibt somit in dem Opern-Libretto nicht viel mehr
0150als die sauber abgeschälte Hülse des Factischen: die Handlung.
0151Sie allein hätte kein Lustspiel berühmt gemacht. Der Oper
0152bietet sie neben einigen wirksamen Situationen auch sehr un-
0153günstige und schwierige. Dahin gehören fast alle Scenen,
0154welche die Handlung vorwärtsschieben und motiviren, wie der
0155Proceß Marzellinens, das Erkennen Figaro’s als Bartolo’s
0156und Marzellinens Sohn u. dgl. — sie sind in der Oper ge-
0157radezu unverständlich.


0158Vielleicht hätte Mozart von den beiden Figaro-Stücken
0159Beaumarchais’ den „Barbier von Sevilla“ zur Composition
0160gewählt, wäre nicht Paisiello (1784) ihm hierin mit Glück
0161zuvorgekommen. Der „Barbier“ bietet der Musik ein ungleich
0162günstigeres Feld, die lyrischen Elemente walten vor, die Hand-
0163lung ist einfacher, gemüthlicher. Es war ein bedeutsamer Fin-
0164gerzeig, daß Beaumarchais selbst den „Barbier“ ursprünglich
0165als Opern-Libretto geschrieben hatte, was ihm mit „Figaro’s
0166Hochzeit“ kaum beigefallen wäre. Die Vergleichung des Mo-
0167zart
’schen Librettos mit dem Original-Lustspiel macht erst
0168recht deutlich, welch schwierige Aufgabe dem Tondichter zuge-
0169fallen war und wie Außerordentliches er durch die eigenste 
0170Kraft seiner Kunst geleistet. Die reine Schönheit der Mo-
0171zart
’schen Musik hat das Libretto mit einem idealen Geiste er-
0172füllt. Aber der Geist Beaumarchais’ ist es nicht. Mo-
0173zart’s „Figaro“ dünkt uns überhaupt mehr das Ideal einer
0174vollkommen schönen Musik, als einer eminent komischen Oper.
0175Alles Lustspielmäßige, Komische darin läßt sich wirksamer,
0176sprudelnder denken. Mozart’s deutscher Sinn beschwichtigte
0177lieber die Buffo-Elemente und bevorzugte die ruhigen, senti-
0178mentalen. Seine volle Resonanz findet Beaumarchais’ Conver-
0179sationston doch wol nur in romanischem Blut. Deßhalb
0180meinte ein scharfsinniger Schriftsteller vor 50 Jahren, eine
0181Hochzeit des Figaro“ in echt Beaumarchais’schem Geist
0182hätte eigentlich von Paisiello und Cimarosa ge-
0183meinschaftlich componirt werden müssen. Von Rossini 
0184und Auber, würden wir heutzutage richtiger sagen. —


0185Die musikalische Ausbeute der letzten Woche war, der
0186Faschingsstimmung angemessen, nicht sehr reichlich. Das Phil-
0187harmonie-Concert
vom 26. d. M. spendete zwar keine
0188neuen Compositionen, brachte aber die bekannten (besonders
0189Lachner’s E-moll-Suite) durch eleganteste Ausführung zu
0190voller Geltung. Frau Wilt sang mit kräftiger Stimme, aber
0191etwas larmoyantem Vortrage die E-dur-Arie der Ilia aus
0192Mozart’s „Idomeneo“, deren langer und langsamer Honigfluß
0193unser Ohr bald so sehr übersättigt, daß es, wie Tannhäuser 
0194im Venusberge, förmlich „nach Bitternissen“ schmachtet. —
0195In der letzten Quartett-Soirée gefiel eine von den Herren J.
0196Rubinstein und Hellmesberger gespielte „Suite“ von
0197Karl Goldmark noch entschiedener, als bei ihrer ersten Auf-
0198führung vor zwei Jahren. — Indessen setzt Fräulein Phi-
0199lippine v. Edelsberg
ihr Gastspiel im Hofoperntheater
0200mit günstigem, ja sich steigerndem Erfolge fort. Das Publi-
0201cum scheint, wie dies oft bei neuen Erscheinungen geschieht,
0202mit den Eigenthümlichkeiten der Künstlerin allmälig vertrauter
0203und für ihre Vorzüge wärmer geworden zu sein. Die letz-
0204ten Vorstellungen des „Prophet“ und der „Hugenotten“
0205haben dies dargethan. Zwar erheischen Fides und Va-
0206lentine, die eine Rolle nach der Tiefe, die an-
0207dere nach Höhe des Umfangs hin kräftigere Stimmmittel,
0208Fräulein Edelsberg hat aber in den meisten Scenen durch
0209ihre effectvolle Darstellung darauf vergessen gemacht. Als Fides 
0210erzielt Fräulein Edelsberg schon durch ihre Maske einen be-
0211deutenden Eindruck; in dem dunklen faltigen Kleide, den wei-
0212ßen Schleier um das Haupt, gleicht sie in ruhigen Momenten 
0213einer Mater dolorosa von Tizian. Im Einklange damit
0214standen ihre ausdrucksvollen und plastischen Bewegungen, ins-
0215besondere in der Domscene. Hier gipfelte jener Vorzug, der
0216uns bei der Edelsberg am meisten imponirt: ihre genaue Kennt-
0217niß und Beherrschung der Bühne. Mit welcher Sicherheit und
0218Freiheit waren die Pausen mit stummem Spiele ausgefüllt!
0219Als Valentine fiel Fräulein Edelsberg schon im zweiten Acte
0220durch vornehme und geschmackvolle Repräsentation auf. Im
0221Duette des dritten Actes änderte sie wohlweislich die selten ge-
0222lingende und niemals schöne Stelle mit dem lang ausgehaltenen
0223hohen C, das dann wie eine müde Sternschnuppe herabfließt.
0224Alle Valentinen, welche dieses Kunststückes nicht mit vollkom-
0225menster Leichtigkeit und Sicherheit gewiß sind, sollten es ruhig
0226umgehen; der Zuhörer steht, wie wir versichern können, keine
0227kleine Angst dabei aus. Im vierten Acte war Fräulein Edels-
0228berg allerdings mehr äußerlich effectvoll, als innerlich tiefbewegt
0229und rührend, allein auch hier erreichte ihre farbige Darstellung,
0230ihr Talent des „Machenkönnens“ das gewünschte Ziel. Fräu-
0231lein Edelsberg wurde nach dem vierten Acte mit Herrn
0232Adams (der ihr als Raoul wacker zur Seite stand) dreimal
0233gerufen.

Fußnoten
  • *)„Auprès d’une fontaine, /
    (Que mon coeur, que mon coeur a de peine!) /
    Songeant à ma marraine, /
    Sentais mes pleurs couler etc.“ /