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Neue Freie Presse
Morgenblatt
No. 1360. Wien, Samstag den 13. Juni 1868

[1]

Eine Biographie Belliniʼs.


0002Ed. H. Es fehlt nicht an biographischen und kritischen
0003Aufsätzen über Bellini, noch weniger an einer stattlichen
0004Pompes funèbres-Literatur, in welcher die Landsleute des
0005früh verstorbenen Maestro ihren Schmerz und seinen Ruhm
0006mit lyrischer Ueberschwenglichkeit feierten. Ein selbstständiges
0007biographisch kritisches Buch über Bellini besitzen wir erst seit
0008wenigen Tagen; es ist von dem französischen Musikschriftsteller
0009Arthur Pougin verfaßt und bei Hachette in Paris erschie-
0010nen. Um es gleich herauszusagen, entspricht diese Arbeit nur
0011sehr mäßigen Anforderungen; ihr biographischer Theil fließt
0012aus lauter abgeleiteten, meist schon benützten Quellen; ihr
0013ästhetischer ist ganz dilettantisch, unsicher und phrasenhaft. Doch
0014kann es nicht fehlen, daß in so ausgedehnter Erzählung man-
0015ches Interessante mit unterläuft, dessen Quintessenz freilich
0016weniger für ein Buch als für ein Feuilleton ausreicht. Um
0017unseren Lesern Zeit und Geld für das Buch zu ersparen,
0018schreiben wir das Feuilleton.


0019Ueber die Persönlichkeit und den Charakter Belliniʼs 
0020(Pougin hat ihn nicht selbst gekannt) erfahren wir nur die
0021Urtheile Anderer, die alle in dem Lobe seiner Herzensgüte und
0022Liebenswürdigkeit, seiner echten, neidlosen Bescheidenheit über-
0023einstimmen. Belliniʼs Züge werden uns durch das bekannte
0024Porträt von Desjardins versinnlicht, das in vorzüglichem
0025Stahlstiche den Band ziert. Der Verfasser reprodu-
0026cirt auch mit vollem Rechte die geistvolle Schilderung,
0027die Heinrich Heine von Belliniʼs Persönlichkeit entwirft.*)


0047Bellini war geborner Musiker in jedem Sinne des
0048Wortes. Er stammte nämlich aus einer Musiker-Familie, deren
0049Stammvater, in den Abruzzen geboren, in Neapel unter
0050Piccini gebildet, sich in dem sicilianischen Städtchen Catania 
0051am Fuße des Aetna niederließ. Drei Söhne dieses alten Vin-
0052cenzo Bellini wurden ebenfalls Tonkünstler, aber erst der Enkel
0053(der nach Landessitte den Taufnamen des Großvaters erhielt)
0054brachte den Namen zur Berühmtheit. Dieser Enkel, unser 
0055Vincenzo Bellini, ist, den Kirchenbüchern von Catania zufolge,
0056am 1. November 1801 geboren, nach welchem authentischen
0057Datum man die falschen Geburtsjahre und Tage Belliniʼs
0058wovon die Lexika und Handbücher wimmeln, berichtigen mag.
0059Der Vater war nicht wohlhabend genug, um für die höhere
0060Ausbildung des musikalisch früh entwickelten Kleinen sorgen zu
0061können; er erreichte aber, daß Vincenzo aus der Gemeindekasse
0062von Catania ein jährliches Stipendium behufs seiner Studien
0063am Conservatorium zu Neapel erhielt. Von allen Mitschülern
0064Belliniʼs an dieser berühmten, damals noch von Zingarelli 
0065geleiteten Anstalt haben nur die Brüder Ricci sich späterhin
0066einen Namen gemacht; Mercadante, jetzt der Patriarch der
0067italienischen Schule, war gerade aus dem Conservatorium aus-
0068getreten, als Bellini hinkam. Der junge Bellini zeigte großen
0069Eifer und wurde von dem 70jährigen Zingarelli auf das
0070zärtlichste geliebt. Man muß annehmen, daß entweder Belliniʼs
0071träumerisches Wesen wenig Empfänglichkeit für den Unterricht 
0072darbot, oder daß Letzterer schon damals auf einer tiefen Stufe
0073stand, denn Bellini ist niemals ein gründlicher, fester Musiker
0074geworden. Im Tonsatz und in der Form glich er zeitlebens
0075einem begabten Dilettanten, der einen Künstler verspricht.
0076Das Beste in seiner ganzen musikalischen Erziehung war die
0077Lectüre der Partituren von Mozart und Haydn, von Jomelli 
0078und Pergolese. Für Letzteren hegte Bellini eine unbegrenzte
0079Verehrung, was vollkommen zu der auffallenden Verwandt-
0080schaft dieser beiden musikalischen Charaktere stimmt. Belliniʼs
0081breiter, melancholisch süßer Gesang weist auf Pergolese mehr
0082als auf jeden andern Vorgänger zurück; nur war die andere
0083Seite Pergoleseʼs, seine in der „Serva Padrona“ so köstlich
0084sprudelnde Laune, Bellini gänzlich fremd. Bellini hat im Con-
0085servatorium ein Dutzend Ouvertüren und mehrere Messen
0086componirt, welche nach dem Urtheile La Fageʼs nicht einmal
0087von anständiger Mittelmäßigkeit sind. Der erste dramatische
0088Versuch des jungen Maestrino (wie er im Conservatorium
0089hieß) war „Adelson e Salvini“, auf ein altes Libretto com-
0090ponirt und im Jahre 1825 von seinen Mitschülern vor ge-
0091ladenen Gästen aufgeführt. Zingarelli, entzückt über dies
0092aufgehende Talent, weissagte ihm eine große Zukunft. In der
0093That war Bellini von der Morgenröthe seines Künstler-
0094lebens an vom Glücke begünstigt. Ein zweiter Erfolg
0095schloß sich unmittelbar an. Es herrschte in Neapel der
0096lobenswerthe Gebrauch, daß jedesmal der talentvollste
0097Zögling des Conservatoriums kurz vor seinem gänzlichen
0098Austritte eine Cantate zu componiren bekam, welche im San
0099Carlo-Theater an einem „großen Galatage“ vor der königlichen
0100Familie und dem glänzendsten Publicum aufgeführt wurde.
0101Ismene“ hieß die Cantate Belliniʼs, welche im Jahre 1825 
0102bei einer solchen Festvorstellung mit größtem Beifalle gesungen
0103wurde. In diese Zeit fällt ein Liebesverhältniß unseres Com-
0104ponisten mit einem schönen Mädchen aus angesehener Familie,
0105Maddalena Fumaroli, in Neapel. Sie erwiderte seine Nei-
0106gung, aber der Widerstand ihres Vaters gegen die Heirat mit
0107einem kaum der Schule entwachsenen Musiker war nicht zu
0108beugen, und Bellini mußte sich blutenden Herzens und für [2]
0109immer von seiner Geliebten losreißen. Dies ist die einzige
0110Herzensgeschichte Belliniʼs, welche Herr Arthur Pougin uns
0111erzählt; offenbar ist er viel schlechter unterrichtet oder viel
0112discreter, als ein Biograph von rechtswegen sein darf. Aus
0113seinem Liebeskummer wurde Bellini wohlthätig aufgescheucht
0114durch einen unverhofften künstlerischen Treffer. Der berühmte
0115Impresario Barbaja, dessen mangelnde Bildung durch das
0116merkwürdige Talent ersetzt war, von weitem große Künstler
0117herauszuwittern, hatte den jungen Sicilianer schon ins Auge
0118gefaßt und trug ihm die Composition einer Oper, „Bianca
0119e Fernando“, für das San-Carlo-Theater in Neapel auf.
0120Das Werk wurde im Jahre 1826 mit vorzüglicher Besetzung
0121gegeben und fand, so schwach es war, die günstigste Aufnahme.
0122Durch einen Erfolg in San Carlo war man ein gemachter
0123Mann. Bellini erhielt den Auftrag, eine Oper für die
0124Scala in Mailand zu schreiben, wohin er sich im April 1827
0125in Begleitung Rubiniʼs begab, dem die Hauptrolle zugedacht
0126war. Außer diesem berühmten, für Belliniʼs Erfolge so wich-
0127tigen Sänger trat jetzt auch noch eine zweite Persönlichkeit
0128entscheidend in sein Künstlerleben ein. Es war der Poet Fe-
0129lice Romani
, Genuese von Geburt, einer der besten Opern-
0130dichter, den die Italiener besitzen. Obwol er bereits mit eini-
0131gen selbstständigen Comödien Glück gemacht, warf er sich
0132plötzlich mit allen Kräften auf die Idee einer Reform und
0133Neubelebung des Operndramas, welches sich in der That im
0134kläglichsten Zustande befand. Er errang schnell so große Er-
0135folge, daß der Kaiser von Oesterreich ihn als Hofpoeten nach
0136Wien berufen wollte; Romani ging jedoch auf die Bedin-
0137ung nicht ein, österreichischer Staatsbürger zu wer-
0138den. Wenn Brofferio in einem Nekrologe Romaniʼs,
0139des früheren Gegners, rühmte, derselbe habe in der
0140Darstellung heftiger Leidenschaften Byron, Lamartine, Foscolo 
0141und Victor Hugo erreicht, so war dies Lob wol zu hoch gegriffen.
0142Gewiß aber enthalten seine besseren Libretti Scenen von er-
0143greifender Lebendigkeit und Strophen von unvergleichlichem
0144Wohlklang der Sprache. Romani hat Textbücher von allen 
0145Gattungen geschreiben, über hundert im Ganzen. Ohne Zwei-
0146fel war ursprünglich seine Reform-Idee viel höher gespannt,
0147fiel doch seine Bildung in eine literarisch revolutionirende Pe-
0148riode Italiens, mit dessen besten und freisinnigsten Köpfen er
0149verkehrte. Allein die Herrschaft des Conventionellen war noch
0150so stark in Bezug auf Bau und Anordnung eines Opern-Li-
0151brettos, daß Romani sich in der Hauptsache fügen mußte.
0152Auch war er nicht Erfinder im eigentlichen Sinne, er schuf
0153seine Stoffe nicht, sondern schöpfte sie größtentheils aus fran-
0154zösischen Dramen. Mit welchem theatralischen Geschicke und in
0155welch melodischen Versen er sie jedoch für den Componisten
0156umzuformen wußte, das beweisen seine „Norma“, „Son-
0157nambula
“, „Anna Bolena“ und sein „Liebestrank“.
0158Dies war der Mann, den im Anfang seiner Laufbahn zu tref-
0159fen Bellini das Glück hatte und der fortan sein ausschließli-
0160cher Mitarbeiter, sein treu ergebener, intimer Freund wurde.


0161Der Pirat“ war die erste Oper, welche Bellini und
0162Romani zusammen schrieben. Die Hauptrollen waren in den
0163Händen der Méric-Lalande, Tamburiniʼs und Ru-
0164biniʼs
. Mit Letzterem arbeitete Bellini auf das eifrigste, da
0165ihm die prachtvolle Stimme des Sängers der Wärme und des
0166dramatischen Ausdruck noch sehr zu entbehren schien. „Du
0167bist ein reines Thier!“ fuhr er Rubini an, „und legst nicht
0168die Hälfte deiner Seele in deinen Gesang; das ganze Theater
0169könntest du hinreißen, aber du bleibst kalt.“ Bellini weckte
0170den Ehrgeiz und die Einsicht des Tenoristen, der durch eifriges
0171Studium sich bald zu einer Höhe des Vortrages aufschwang,
0172die ihm selbst früher unerreichbar schien. „II Pirato“ erregte
0173bei der ersten Aufführung in der Scala (1827) einen uner-
0174hörten Enthusiasmus. Bellini berichtet darüber an seine El-
0175tern in freudigster Aufregung, dabei mit wahrhaft musterhaf-
0176ter Bescheidenheit. Seine nächste Oper war „La Stra-
0177niera“ (die Unbekannte), deren Stoff Romani einem damals
0178beliebten schlechten Roman des Vicomte dʼArlincourt entnahm.
0179Gerade mit dieser Oper beschäftigt, äußerte sich Bellini in
0180einem freundschaftlichen Briefe über seine ästhetischen Grundsätze 
0181und seine Methode zu componieren. „Ich studire,“ so schreibt
0182er, „zuerst das Textbuch und vertiefe mich anhaltend in
0183den Charakter der Personen, in ihre Leidenschaften und Ge-
0184fühle; dann versetze ich mich an die Stelle einer jeden von
0185ihnen und trachte durch unablässige Beobachtung mir ihre ver-
0186schiedenen Affecte vollkommen eigen zu machen. Hierauf
0187schließe ich mich in mein Zimmer ein und beginne die Rolle
0188jeder einzelnen Person zu declamiren, mit der ganzen
0189Wärme der Leidenschaft; ich beobachte den Tonfall, das Zögern
0190und Beschleunigen meines Vortrages, den Klang und Accent,
0191und finde danach die bezeichnenden musikalischen Rhythmen und
0192Motive. Ich bringe sie gleich zu Papier und versuche sie am
0193Piano; fühle ich dabei in mir selbst die entsprechende Ge-
0194müthsbewegung entstehen, so weiß ich, daß mir die Musik ge-
0195lungen ist. Im gegentheiligen Fall fange ich von neuem wie-
0196der an, bis das Ziel erreicht ist.“ Dieser Aufschluß Belliniʼs
0197über die Methode seines Schaffens ist um so interessanter, als
0198man sie aus seinen Werken kaum vermuthen würde. Das
0199declamatorische Element wenigstens tritt bei Bellini nirgends
0200in den Vordergrund und schimmert nur in einigen ausdrucks-
0201vollen Recitativen Normaʼs und Aminaʼs durch. Eher kann
0202man Bellini anmerken, daß er keineswegs rasch und leicht
0203producirte. Einige Mittheilungen bestätigen dies. So hat
0204Bellini die Melodie „Casta diva“ nicht weniger als achtmal
0205umgearbeitet, ehe er sich zu ihrer gegenwärtigen Form ent-
0206schloß. Er arbeitete langsamer als seine Collegen (namentlich
0207als Donizetti), nicht blos aus schwerfälligerem Temperament,
0208sondern auch aus größerer Gewissenhaftigkeit. „Könnte ich
0209nicht auch,“ schreibt Bellini an seinen Verleger Ricordi,
0210„vier Opern in Einem Jahr componiren? Aber ich würde
0211meine Reputation untergraben und hätte Gewissensbisse, daß
0212ich Jene betrüge, die mich zahlen.“ Auch mit dem Text gab
0213er sich nicht sogleich zufrieden. Wenn eine Strophe durchaus
0214nicht in ihm den Funken der musikalischen Erfindung hervor-
0215locken wollte, mußte Romani die Stelle drei- bis viermal um-
0216dichten, und Bellini suchte dem Poeten durch Improvisationen [3]
0217am Clavier deutlich zu machen, welche Färbung der Worte
0218ihm nothwendig schien. Der Erfolg der „Straniera“,
0219deren erste Aufführung am 14. Februar 1829 in
0220der Scala stattfand, war ein außerordentlicher. Seine
0221nächste Oper sollte Bellini für Parma schreiben; die
0222Bedingungen waren die günstigsten, bis auf die eine, daß er
0223ein Libretto des parmesanischen Advocaten und Schöngeistes
0224Torrigiani zu componiren habe. Bellini wollte sich von
0225Felice Romani nicht mehr trennen, er verwarf das Textbuch
0226Torrigianiʼs und schrieb mit Romani eine Oper „Zaïre“, nach
0227dem gleichnamigen Drama von Voltaire. Dadurch hatte er
0228sich die Sympathien von Parma verscherzt, dessen Localberühmt-
0229heiten man nicht ungestraft antastete. Jeder Parmesane ge-
0230herdete sich nun als Belliniʼs persönlicher Feind, und die Ge-
0231sammtheit dieser Feinde hatte bei der ersten Aufführung der
0232neuen Oper ein leichtes Spiel, indem das Libretto der „Zaïre“
0233die schwächste Arbeit Romaniʼs und die Musik Belliniʼs nicht
0234viel stärker war. „Zaïre“ fiel am 16. Mai 1829 in bester
0235Form durch, und man hat nie wieder von ihr gesprochen. Zum
0236Glücke war der Ruf des Componisten durch den „Piraten“
0237und die „Straniera“ bereits fest begründet. Ueberdies rettete
0238Bellini, mit Hilfe Romaniʼs, die besten Nummern aus der
0239schiffbrüchigen „Zaïre“ seine nächste Oper „Die Mon-
0240tecchi und Capuletti“. Das Libretto war eine Umarbei-
0241tung des älteren, bereits von Vaccai componirten Text-
0242buches „Romeo e Giulietta“. Zum erstenmale schrieb Bellini 
0243eine Rolle für die Altstimme, den Romeo nämlich, welchen
0244Giuditta Grisi, damals im Vollglanz ihrer Schönheit und
0245ihrer Stimme, zu hinreißender Wirkung brachte. „Die Mon-
0246tecchi und Capuletti“ machten bei ihrer ersten Aufführung in
0247der Fenice zu Venedig (1830) großes Glück durch einige effect-
0248volle Nummern; daß dem Ganzen der rechte Schwung fehlte
0249und namentlich die pathetischen Stellen mittelmäßig waren,
0250konnte nicht lange unbemerkt bleiben. Nach Belliniʼs Tod hat
0251man in Italien bekanntlich den vierten Act entfernt und durch
0252ter Schlußact der Vaccaiʼschen Oper ersetzt — eine Maßregel, 
0253die, an sich weder künstlerisch und pietätvoll, sich doch als prak-
0254tisch erhielt und auch in Paris adoptirt wurde.


0255Bellini kehrte bald nach Mailand zurück, das ihn
0256überall und immer mit unwiderstehlicher Macht anzog. Das
0257Teatro Carcano in Mailand, damals trefflich geleitet und im
0258Besitze von Kräften wie Rubini und die Pasta, hatte gleich-
0259zeitig zwei neue Opern von Donizetti und Bellini be-
0260stellt. Ersterer schrieb seine „Anna Bolena**) , Letzterer die
0266Sonnambula“; das Libretto dieser Oper war von Romani 
0267nach einem Vaudeville von Scribe bearbeitet.


0268Bellini componirte den größten Theil der „Nacht-
0269wandlerin“ bei einer befreundeten mailändischen Familie, welche
0270sich in das Städtchen Moltrasio am Comosee zurückgezogen
0271hatte. In diesem reizenden Aufenthalte, umgeben von hohen
0272Cypressen und Lorbeerbüschen, den See mit dem malerischen
0273alterthümlichen Torno vor sich, fühlte Bellini sich ungewöhnlich
0274poetisch gestimmt. Da ihm, als Reconvalescenten nach einer
0275gefährlichen Krankheit, längere Spaziergänge untersagt waren,
0276unterhielt er sich am liebsten damit, im Kahne von einem
0277Ufer ans andere, von einer Villa zur anderen zu fahren und
0278dabei das Familienleben und die Liebschaften der Landleute zu
0279belauschen. Besonders auf den Samstag freute er sich jedes-
0280mal, wo die jungen Leute ihre Fabriken und Werkstätten ver-
0281ließen und auf Kähnen, singend und scherzend, nach ihren Hei-
0282matsorten fuhren. Oft folgte Bellini, vergnügt horchend, dieser
0283oder jener Barke, aus welcher die süßesten Lieder in die Abend-
0284luft klangen. Dieses liebevolle Beobachten idyllischer Scenen
0285und Gesänge ist sicher nicht ohne Einfluß auf die musikalische
0286Färbung der „Sonnambula“ geblieben, welche Bellini unter
0287solchen Eindrücken dichtete.
0288(Ein zweiter Artikel folgt.)

Fußnoten
  • *)Die Stelle aus den „Reisebildern“, die manchem unserer
    musikalischen Leser vielleicht nicht mehr erinnerlich ist, lautet: „Bellini 
    war eine hochaufgeschlossene, schlanke Gestalt, die sich zierlich, ich möchte
    sagen kokett bewegte; immer à quatre épingles, ein regelmäßiges Ge-
    sicht, länglich, blaßrosig; hellblondes, fast goldiges Haar, in dünnen
    Löckchen frisirt; sehr hohe, edle Stirne; gerade Nase; bleiche, blaue
    Augen Seine Züge hatten etwas Vages, Charakterloses, etwas wie
    Milch, und in diesem Milchgesichte quirkte manchmal süßsäuerlich ein
    Ausdruck von Schmerz. Dieser Ausdruck erstzte in Belliniʼs Gesicht
    den mangelnden Geist; aber es war ein Schmerz ohne Tiefe; er film-
    merte poesielos in den Augen, er zuckte leidenschaftslos um die Lippen
    des Mannes. Diesen Flachen, matten Schmerz schien der Maestro in
    seiner ganzen Gestalt veranschaulichen zu wollen. So schwärmerisch
    wehmüthig waren seine Haare frisiert, die Kleider saßen ihm so schmach-
    tend an dem zarten Leibe, er trug sein spanisches Röhrchen so idyl-
    lisch, daß er mich immer an die jungen Schäfer erinnerte, die wir in
    unseren Schauerspielen mit bebänderten Stäben und hellfarbigen Jäck-
    chen und Höschen minandiren sahen. Und sein Gang war so jung-
    fräulich, so elegisch. Er sah aus wie ein Seufzer en escarpins.“
  • **)Anna Bolena“ war Donzettiʼs zweiunddreißigste Oper, und
    noch hatte der allzu flüchtig schreibende Componist bis dahin nichts ge-
    liefert, was sich mit Belliniʼs Opern zweiten Ranges messen konnte.
    Beide Componisten wirkten als Zeitgenossen neben einander; Donizetti,
    drei Jahre älter als Bellini, hat diesen um dreizehn Jahre überlebt.