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Neue Freie Presse
Morgenblatt
No. 1363. Wien, Dienstag den 16. Juni 1868

[1]

Eine Biographie Belliniʼs.

II. (Schluß.)


0003Ed. H. An der „Sonnambula“ arbeitete Bellini mit
0004ganzer Seele und froher Zuversicht, war ja die Titelrolle der
0005Pasta anvertraut, jener genialen Künstlerin, die schon im
0006Anfange ihrer Laufbahn den großen Tragöden Talma zu
0007dem Ausrufe hinriß: „Dieses Kind hat gefunden, was ich
0008seit zwanzig Jahren suche.“ Judith Pasta, die zweite
0009Schöpferin der Norma und Amina, hat Bellini, dessen
0010begeistertste Interpretin sie war, um volle dreißig Jahre über-
0011lebt. „La Sonnambula“, zum erstenmale am 6. März
00121831
aufgeführt, versetzte die Mailänder in einen Rausch des
0013Entzückens und war überhaupt der größte Erfolg Belliniʼs.
0014Herr Arthur Pougin findet, daß keines der anderen Werke
0015Belliniʼs auf der Höhe der „Sonnambula“ stehe. Diese An-
0016sicht (übrigens auch von anderen Schriftstellern getheilt) ist
0017unseres Erachtens ein Irrthum und ein Unrecht gegen die
0018unmittelbar darauffolgende Oper Belliniʼs. Wir meinen die
0019Norma“. Romani hatte den Stoff abermals aus einem
0020französischen Drama, „Norma“ von Soumet, hergeholt.
0021Die Direction der Scala in Mailand hatte dem Componisten
0022das damals ungewöhnlich hohe Honorar von 3000 Ducaten
0023und die besten Gesangskünstler (Pasta, Julia Grisi, Donzelli,
0024Negrini) zugestanden. Noch im selben Jahre der ersten Auf-
0025führung der „Nachtwandlerin“ ging „Norma“, am 26. Decem-
0026ber 1831
, in Scene. Wenn man überall liest, die Oper habe
0027nur mäßig angesprochen, so ist dies sehr ungenau; „Norma“
0028fiel entschieden durch. Ein bisher ungedruckter Brief Belliniʼs
0029an seinen Freund Francesco Florimo gibt darüber die beste
0030Auskunft. „Ich schreibe dir“, so beginnt der interessante
0031Brief, „unter dem Eindrucke des Schmerzes, eines tiefen
0032Schmerzes, den ich gar nicht auszudruecken vermag, den aber 
0033du allein versehen kannst. Ich komme aus der Scala, erste
0034Aufführung der „Norma“. Wirst du es glauben? Fiasco!
0035Fiasco! vollständiges Fiasco! Ja, das Publicum war strenge!
0036es schien eigens gekommen, mich zu verurtheilen, und mit Ueber-
0037stürzung (so glaube ich wenigstens) bereitete es meiner armen
0038Norma“, das Schicksal der Priesterin selbst. Ich habe sie
0039nicht wiedererkannt, meine lieben Mailänder, welche den „Pi-
0040raten“, die „Straniera“ und „Sonnambula“ mit Enthusias-
0041mus aufgenommen hatten, und doch glaubte ich, ihnen eine
0042würdige Schwester der letzteren vorzuführen. Zu meinem Un-
0043glücke habe ich mich getäuscht, meine Voraussicht war falsch,
0044meine Hoffnungen sind gescheitert. Und trotz alledem — ich
0045sage es zu dir allein und das Herz auf den Lippen — falls
0046nicht die Leidenschaft mich blendet: die Introduction, das
0047Erscheinen Normaʼs und ihre Cavatine, das Duett
0048der beiden Frauen mit dem darauffolgenden Terzett,
0049das Finale des ersten Actes, das andere Frauenduett
0050und das ganze zweite Finale, von der Kriegeshymne
0051angefangen, sind Musikstücke, die mir so sehr gefallen, daß ich
0052glücklich wäre — ich bekenne es dir — vermöchte ich immer
0053solche in meiner ferneren Laufbahn zu schaffen. Basta!! In
0054Bühnensachen ist das Publicum oberster Richter. Indessen
0055hoffe ich von seinem gegen mich gefällten Urtheilsspruche noch
0056zu appelliren, und falls das Publicum von seinem Irrthum
0057zurückkommen sollte, dann habe ich den Proceß gewonnen und
0058darf „Norma“ laut für mein bestes Werk erklären. Wenn
0059nicht, so werde ich in mein traurig Los mich ergeben und
0060mir zum Troste sagen: Haben nicht die Römer sogar die
0061Olympiade“ des göttlichen Pergolese ausgezischt?“ Aus die-
0062sen Bekenntnissen des schmerzlich getroffenen Tondichters spricht
0063ein echtes und rechtes Künstlerbewußtsein. Es zeugt von klarer
0064Selbsterkenntniß, wenn Bellini die durchgefallene „Norma“
0065für seine beste Oper und sich für zufrieden erklärt, falls er
0066auf derselben Höhe sich erhalten würde. Letzterer Wunsch ist
0067leider nicht in Erfüllung gegangen. In der „Norma“ hat 
0068Belliniʼs Talent den höchsten ihm erreichbaren Gipfel erklom-
0069men was noch folgt („Beatrice di Tenda“ und die „Puri-
0070taner“) ist ein jäher Sturz von dieser Höhe. Wenn es noch
0071eines äußeren Beweises bedürfte für die hervorragende und
0072eigenthümliche Bedeutung „Normaʼs“ unter den Belliniʼschen
0073Opern, das Fiasco der ersten Aufführung liefert denselben.
0074Nicht als ob der Durchfall einer Oper deren Vorzüglichkeit
0075und verkannte Genialität darthun würde, das Zischen des
0076Publicums traf zu allen Zeiten ebenso gut neue Meisterwerke
0077als neue Machwerke, und letztere viel häufiger. Aber gerade
0078unter den speciellen Verhältnissen von Zeit und Ort deutete
0079das Stützigwerden der Mailänder darauf hin, daß in der
0080Norma“ besondere Eigenthümlichkeiten steckten, Vorzüge höhe-
0081rer und stärkerer Gattung, die das bequeme Niveau der
0082Straniera“ und „Sonnambula“ überragten und auf die man
0083nicht gefaßt war. Man fand etwas Anderes, als man er-
0084wartet hatte; daß dieses Andere ein Mehr sei, wurde einem
0085Publicum, das eben erst in der weichlichen „Nachtwandlerin“
0086sein höchstes Ideal gefunden, beim ersten Hören nicht klar.
0087Bellini empfand das Mißgeschick seiner Oper so schmerzlich,
0088daß er, wie sein Freund Pacini erzählt, bittere Thränen
0089vergoß. Von einer Freundin befragt, welche seiner Partitu-
0090ren er retten würde, wenn man bei einem Schiffbruche alle
0091bis auf Eine über Bord werfen wollte? — rief Bellini leb-
0092haft: Ah, meine geliebte „Norma“! Glücklicherweise litt
0093Norma“ keinen wirklichen Schiffbruch, sie erhob sich schnell
0094wieder und lief mit vollen Segeln und lorbeergeschmückten
0095Wimpeln in alle lyrischen Häfen Europas ein. In Italien 
0096selbst suchte das Publicum durch verdoppelten Beifallsjubel die
0097Scharte des ersten Abends auszuwetzen.


0098Die Freude über den nachträglichen Triumph der „Norma“
0099schien in Bellini die Sehnsucht nach seinem theuren Meister
0100Zingarelli und seiten jahrelang vermißten Angehörigen in
0101Catania neu anzufachen. Er kam im Januar 1883 in Nea-
0102pel an, wo er unverzüglich zu Zingarelli eilte. Während sich [2]
0103die Beiden in den Armen lagen, hatte die Nachricht von Bel-
0104siniʼs Anwesenheit wie ein Blitz in alle Classen des Conser-
0105vatoriums geschlagen, und die Zöglinge drängten sich in freu-
0106diger Aufregung um den berühmt gewordenen einstigen Schüler
0107der Anstalt. Bellini blieb zwei volle Wochen im Conservato-
0108rium bei Zingarelli, dem er die Partitur der „Norma“ wid-
0109mete. Er widerstand den Lockungen Barbajaʼs, der nicht
0110weniger als drei neue Opern von ihm begehrte, und eilte nach
0111Catania, wo ihm die Einwohnerschaft einen feierlichen Empfang
0112bereitete. Die Bewohner des Städtchens waren unendlich stolz
0113auf ihren gefeierten Landsmann; das Patriarchalische dieses
0114Verhältnisses fand seinen hübschesten Ausdruck bei einer Auf-
0115führung des „Piraten“, wo Bellini, lärmend hervorgerufen,
0116mehrmals seinen vor Freude halb närrischen Vater mit an
0117der Hand herausführte. Inmitten dieser Freuden und Ehren
0118litt Bellini unter der fixen Idee, daß er seine Heimat zum
0119letztenmale sehe. Immer häufiger wurden diese Anfälle melan-
0120cholischen Trübsinns. In solcher Stimmung mag er in Ca-
0121tania den Plan gefaßt haben, den „Orest“ von Alfieri, ganz
0122so wie ihn der Poet geschrieben, in Musik zu setzen. Der Plan
0123wurde nicht verwirklicht, Bellini selbst mochte gefühlt haben,
0124daß seine elegische Lyra keine Töne für die Verzweiflung des
0125Orest und das furchtbare Rächeramt der Furien besitze. Bel-
0126lini kehrte nach Mailand zurück, um sich bald darauf nach
0127Venedig zu begeben, zur ersten Aufführung seiner neuen Oper
0128Beatrice di Tenda“. Er hatte das Werk unter sehr
0129verstimmenden Einflüssen componirt. Dahin gehörten die bös-
0130willig verbreiteten Gerüchte von tadelnden Kritiken Belliniʼs,
0131gegen den „Tancred“ von Rossini, ferner sein Zerwürfniß mit
0132Romani, welcher, mehr mit Liebschaften als mit Versen be-
0133schäftigt, den Componisten wiederholt in dringendsten Momen-
0134ten im Stiche ließ. „Beatrice di Tenda“ wurde in der
0135Fenice am 16. März 1833 aufgeführt und erlebte einen ent-
0136schiedenen Mißerfolg. Ein für das italienische Theaterleben
0137charakteristischer Zwischenfall verdient erwähnt zu werden. Das 
0138gegen Bellini eingenommene Publicum äußerte während der
0139Vorstellung auf alle Art seine Mißstimmung; als einmal das
0140Murren und Zischen besonders auffallend wurde, glaubte die
0141Pasta dies unerklärliche Uebelwollen auf sich beziehen zu müs-
0142sen und gerieth in leidenschaftlichen Zorn. Mit seltener
0143Geistesgegenwart ergreift sie die Gelegenheit, ihm Ausdruck zu
0144leihen; sie wendet sich in it den Worten Beatriceʼs: „Se amar
0145pon puoi, rispettami!“*) statt an den Herzog direct an das
0147Publicum und schleudert diese Apostrophe mit höchster Kraft
0148ins Parterre. Eine dröhnende Beifallssalve lohnt ihre seltene
0149Kühnheit, und die Oper geht ohne weitere Störung zu Ende.
0150Doch hat „Beatrice“ niemals Beliebtheit erlangt — ein Schick-
0151sal, das in der Mittelmäßigkeit der Partitur eine völlig aus-
0152reichende Erklärung findet.


0153Unaufgehalten durch den Unfall der „Beatrice“ flog der
0154Ruhm Belliniʼs in alle Lande. Der kaum 32jährige Compo-
0155nist zählte zu den gefeiertsten Namen in Europa. Die lockend-
0156sten Anträge kamen ihm aus London und Paris. In London 
0157hatte er gegen ein Honorar von 12,000 Francs „Norma“
0158und „Sonnambula“ (mit der Pasta, Méric-Lalande und
0159Donzelli in den Hauptrollen) einzustudiren und zu dirigi-
0160ren. Hierauf ging er nach Paris, wo der freundschaftliche Ver-
0161kehr mit Cherubini und Rossini, außerdem Zerstreuungen
0162und Huldigungen aller Art ihn vollauf beschäftigten. Er hatte eine
0163neue Oper für das Théâtre Italien in Paris zu schreiben. Mit Ro-
0164mani
entzweit, mußte Bellini sich wider Willen einem anderen
0165Textdichter anvertrauen. Er wählte den Conte Pepoli, wel-
0166cher ihm das Libretto zu den „Puritanern“ fabricirte. Es war
0167einem Drama von Ancelot („“) nach-
0168gebildet, welches seinerseits wieder aus einem Walter Scott-
0169schen Roman entstanden war. Nur schwer verstand sich Bel-
0170lini mit seinem neuen Mitarbeiter, dessen Dichtungsweise ihm
0171ungewohnt und unsympathisch war. „Ich fühle jetzt,“ schreibt 
0172er an einen Freund, „daß, falls ich noch für Italien compo-
0173niren sollte, ich es nicht ohne Romani kann. Alle Anderen
0174sind kalt, abgeschmackt und ohne Leidenschaft. Ich muß meine
0175Eigenliebe der Kunst zum Opfer bringen und alle Mittel ver-
0176suchen, mich ihm wieder zu nähern.“ Die Beiden haben sich
0177wirklich kurze Zeit darauf vollständig wieder versöhnt. Um ru-
0178higer arbeiten zu können, zog Bellini mit einer befreundeten
0179Familie nach Puteaux, einer kleinen Sommerfrische an der
0180Seine nahe bei Paris. Die Arbeit lag ihm sehr am Herzen:
0181ein Erfolg in Paris hatte entscheidende Wichtigkeit, überdies
0182war die Rivalität Donizettiʼs zu bestehen, welcher gleichzeitig
0183für dieselbe Bühne den „Marino Falieri“ schrieb. Bellini 
0184verwendetet auf die „Puritaner“ mehr Mühe und Sorgfalt,
0185als auf seine früheren Werke, zeigte auch jede Nummer, so-
0186bald sie fertig war, Rossini; doch wurde er, je näher dem Ab-
0187schlusse, desto ängstlicher. „I Puritani di Scozia“ — so lau-
0188tete ursprünglich der Titel — wurden am 25. Januar 1835
0189in Paris zum erstenmale gegeben. Die Aufführung (mit Julia
0190Grisi, Rubini, Lablache und Tamburini) war wun-
0191dervoll, der Beifall enthusiastisch, kurz der Total-Eindruck so
0192bestechend, daß ein besserer Kritiker als Herr Pougin (Castil-
0193Blaze
nämlich) am anderen Tage im Journal des Debats 
0194mit Entschiedenheit behauptete, „que le talent de Mr. Bel-
0195lini a singulièrement grandi“. Das Gegentheil ist wahr:
0196nur die Instrumentirung und sonstige Mache ist etwas sorg-
0197fältiger als früher (was bei Individualitäten wie Bellini von
0198geringer Wichtigkeit); die Kraft der Erfindung, sowie das
0199dramatische Feuer sind auffallend gesunken im Vergleiche
0200mit „Norma“. Die beiden gefeiertesten und populär gewordenen
0201Nummern, das Unisono-Trompeten-Duett der beiden Bassisten
0202und die Bravour-Polacca der wahnsinnigen Elvira gehören zu
0203dem Trivialsten, was Bellini je geschrieben. Der Rest ist
0204Langeweile. Natürlich schwört auch Herr Arthur Pougin auf
0205die neue Entwicklungsphase, die „modification profonde“,
0206welche Belliniʼs Styl in den „Puritanern“ vollzogen habe.[3]
0207Die Zeit hat bereits entschieden: die „Puritaner“ sind von den
0208meisten Bühnen verschwunden oder fristen im Schatten der
0209Norma“ und „Sonnambula“ nur noch ein kümmerliches
0210Leben. Die „Puritaner“ waren Belliniʼs letzte Composition.
0211Von einer früheren Oper, „Ernani“, welcher Bellini ein
0212einzigesmal ganz flüchtig mit dem Bemerken erwähnt, sie sei
0213verboten worden und habe ihm einiges melodisches Material
0214für die „Nachtwandlerin“ geliefert, ist nirgends eine Spur oder
0215nähere Nachricht aufzufinden. Nach dem Erfolg der „Puri-
0216taner“, sah sich Bellini mit Ehren und Auszeichnungen über-
0217häuft, er war so glückselig, als ein Sterblicher nur sein kann.
0218Leider war dieses Glück von kurzer Dauer. Bellini hatte sich
0219in Paris zu sehr der Arbeit und zu sehr den Vergnügungen
0220hingegeben; er verfiel in eine krankhafte Abspannung und mußte
0221nach den ersten Wiederholungen der „Puritaner“ auf Geheiß
0222der Aerzte nach dem stillen Puteaux zurück, wo man ihm alle
0223Besuche, bis auf wenige, strenge fernhielt. Eine zeitlang schien
0224sein Zustand Besserung zu verheißen; erst gegen Anfang Sep-
0225tember
stellte sich die furchtbare Unterleibskrankheit wieder ein,
0226welche ihn einige Jahre früher in Mailand fast an den Rand
0227des Grabes gebracht. Diesmal war die Kunst der berühmtesten
0228Aerzte, die Pflege der hingebendsten Freunde vergeblich, Bel-
0229lini starb am 23. September 1835. Wie fast immer, wenn
0230ein berühmter Mann in jungen Jahren stirbt, so verbreitete
0231sich auch gleich nach Belliniʼs Tod das Gerücht, er sei ver-
0232giftet worden. Die ärztliche Section des Leichnams erwies
0233dieses Gerücht als vollständig grundlos. Frankreich bereitete
0234dem theuren Todten eine würdige Leichenfeier. Vier berühmte
0235Componisten (französisch gewordene Landsleute Belliniʼs), näm-
0236lich Cherubini, Caraffa, Paër und Rossini, trugen
0237die Enden des Bahrtuches; Lablache, Tamburini,
0238Ivanoff und Rubini sangen die Grabgesänge in der Kirche.
0239Trotz des Regengüsses folgte eine unabsehbare Menge dem
0240Sarge nach dem Père-Lachaise, wo Ferdinand Paër im Namen
0241des Institut de France, Orioli im Namen Italiens am 
0242offenen Grabe sprachen. Eine öffentliche Subscription deckte die
0243Kosten des schönen Monumentes, das sich über dem Grabe er-
0244hebt. Bellini ruht in dem „Bosquet des Musiciens“, wie im
0245Volksmunde jener gartenähnliche Theil des Père-Lachaise heißt,
0246der die Gräber von Méhul, Gosser, Catel, Isouard,
0247Panseron, Boieldieu, Herold, Chopin und anderer
0248Tonkünstler dicht neben einander versammelt. Im Jahre 1865,
0249also dreißig Jahre nach Belliniʼs Tod, reclamirte die Gemeinde
0250Catania seinen Leichnam; nachdem ihr Gesuch bis jetzt unbe-
0251antwortet geblieben ist, darf man wol annehmen, die Leichen-
0252gräberei werde unterbleiben.


0253Herr Arthur Pougin schließt sein Buch mit einem langen
0254Capitel, überschrieben „Le génie de Bellini“. Es ist ein ge-
0255wöhnliches, dilettantisch-phrasenreiches Geplander. Auf den
0256Kern der Sache, das eigentliche Musikalische, ist nirgends ein-
0257gegangen; nicht eine einzige Oper wird aufmerksam kritisirt,
0258nicht ein einziges hervorragendes Musikstück zergliedert. Nir-
0259gends bringt der Verfasser eine halbwegs neue Bemerkung,
0260einen scharf charakterisirenden Zug; selbst so naheliegende Beob-
0261achtungen, wie z. B. daß Belliniʼs Melodien fast regelmäßig
0262auf der Terz anheben und mit Beginn des zweiten Theiles
0263nach der Moll-Tonart moduliren, scheint Herr Pougin nie ge-
0264macht zu haben. Ja sein Urtheil spaltet sich mitunter seltsam
0265widersprechend. Im Verlaufe des biographischen Theiles hat
0266er nämlich für die erfolggekrönten Opern Belliniʼs nur Lob,
0267meist das enthusiastische vom Schlage der italienischen Nekro-
0268logie. Hingegen glaubt er im Schlußcapitel vom „génie de
0269Bellini“ den ernsten Kritiker hervorkehren zu müssen und nimmt
0270dem Tondichter häufig mit der linken Hand weg, was er ihm
0271mit der Rechten gegeben. Nachdem er früher die überraschende
0272„neue Stylphase“ in den „Puritanern“ gerühmt, sagt er am
0273Schluß: Bellini sei immer derselbe geblieben, eine Eigenschaft,
0274die, ein Glück für seine kurze Carrière, ihm bei längerem
0275Leben zum Unheil ausgeschlagen wäre, da er unfähig war,
0276seinen Styl zu erneuern oder auch nur zu kräftigen“. Bellini, heißt 
0277es weiter, habe, „keine jener bleibenden Schöpfungen geliefert, welche
0278die Grenzen der Kunst erweitern, wie „Alceste“, „Don Juan“.
0279Freischütz“ und der „Zweikampf“ (pré aux clercs) von
0280Herold“!! Daß Belliniʼs begrenztes, aber echtes Talent wirk-
0281lich neue Elemente in die italienische Oper eingeführt und die
0282Grenzen der Rossiniʼschen Opera seria nach Seiten der Em-
0283pfindung, des ausdrucksvollen Gesanges erweitert habe, das
0284bergißt Herr Pougin zu sagen. Oder er will es nicht sagen,
0285da er sein Buch sehr unnöthigerweise Rossini gewidmet hat. Da
0286darf denn der eine Vorzug, welcher Bellini gegenüber dem
0287genialeren Rossini zu statten kommt, nämlich der seelenvolle
0288Ernst der Empfindung, die Rückkehr zum einfachen getragenen
0289Gesang nach Rossiniʼs Bravour-Ueberladung, nicht hervorgeho-
0290ben werden.**) Dafür wird eine Anzahl von Aussprüchen
0304Belliniʼs erzählt, die sämmtlich darthun sollen, daß dieser die
0305Rossiniʼschen Opern als höchsten Gipfelpunkt der Kunst, ins-
0306besondere „Semiramis“ als ein „erhabenes Wunderwerk des
0307menschlichen Geistes“ verehrt habe.


0308Bellini war mehr Poet als Musiker,“ so lautet die
0309ganz hohle Effectphrase, in welche der Verfasser schließlich sein
0310Urtheil über Bellini zusammenfaßt. Wie viel hübscher und
0311treffender ist das Wort eines italienischen Schriftstellers:
0312Bellini sei der „Petrarca der Musik“.

Fußnoten
  • *)„Wenn du mich nicht lieben kannst, so achte mich!“
  • **)Dieses Element in Belliniʼs Musik fiel gleich anfangs selbst
    den laienhaftesten und befangensten Rossini-Schwärmern auf, wenn sie
    es auch oft wunderlich genug auslegten. So schreibt Stendhal,
    dessen „Correspondance inédite“ Herr Pougin nicht zu kennen scheint,
    im Jahre 1831 nach einer Aufführung der „Straniera“: „Bellini ist
    ganz entschieden nur eine Art Gluck, seine Melodie ist nichts als
    ein obligates Recitativ, kein Gesang.“ Der geistreiche Mann war
    überhaupt in musikalischen Dingen ein schlechter Prophet. Meyerbeer 
    ist ihm (1820) „ein Mann etwa wie Marmontel oder Lacretelle; ein
    klein bischen Talent, aber von Genie nicht mehr, als auf die flache
    Hand geht“. Von Donizetti schreibt Stendhal im Jahre 1824:
    „Er ist ein und schöner junger Mann, kalt und ohne eine Spur
    von Talent.“