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Neue Freie Presse
Morgenblatt
No. 1551. Wien, Mittwoch den 23. December 1868

[1]

Hofoperntheater.

(„Tannhäuser.“ — „Der Prophet.“)


0003Ed. H. In Deutschland seit Jahren gefeiert und be-
0004rühmt, hat Herr Albert Niemann jetzt zum erstenmale Wien 
0005besucht und sein Gastspiel als Tannhäuser in Wagnerʼs 
0006gleichnamiger Oper eröffnet. Das Ungewöhnliche, ganz Aparte
0007in Niemannʼs künstlerischer Persönlichkeit rechtfertigt wol eini-
0008ges Zögern des Urtheils nach seiner ersten Rolle, besonders
0009wenn diese Rolle selbst auch eine so aparte ist wie Tann-
0010häuser. Mit dem großen und nachhaltigen Eindrucke, den
0011Niemannʼs Tannhäuser persönlich auf mich gemacht, halte
0012ich nicht hinter dem Berge. Im Gegentheil bekenne ich gern,
0013daß das absolut Neue, die gewohnten Maßstäbe Beseitigende
0014in Niemannʼs ganzem Auftreten, daß der überwältigende Total-
0015Eindruck seiner Schöpfung mich die Schwächen leicht übersehen
0016ließ, die seiner Gesangstechnik anhaften. Nach Niemannʼs
0017Tannhäuser und selbst nach seinem (nicht ganz so
0018hoch stehenden) Propheten empfand ich das Gegentheil
0019eines in vieljähriger Opernpraxis fast regelmäßig erleb-
0020ten kritischen Processes. Während nämlich in der Regel
0021die Aufzählung und Anerkennung zahlreicher schätzbarer Quali-
0022täten an einem neuen Sänger in den verschämten Schlußsatz
0023mündet, es werde Einem doch weder kalt noch warm dabei,
0024kann man über Niemann mit einer Reihe von Bedenken an-
0025fangen und muß doch mit dem Bekenntniß schließen, von der
0026Totalität seiner Leistung unmittelbar und mächtig gepackt wor-
0027den zu sein. Die Lösung des Räthsels liegt in dem Zauber
0028der Persönlichkeit und in der außerordentlichen dramatischen
0029Begabung Niemannʼs. Wenn diese Heldengestalt mit dem edlen
0030Kopfe und dem ernsten männlichen Blick die Bühne betritt,
0031ihre ganze Umgebung überragend, so hat sie schon Vertrauen
0032und Sympathie des Zuschauers gewonnen. Dieser Vorschuß
0033wäre schnell verwirkt, wenn Niemann von seiner Persönlich-
0034keit irgend welchen geckenhaften Gebrauch machte durch theatrali-
0035sche Posen und kokettirende Blicke. Fern von eitler Selbst-
0036bespiegelung, bewahrt Niemann stets den vollen Ernst der
0037Männlichkeit im Ausdruck, der Einfachheit und Würde in den
0038Bewegungen, Nichts von der „blos widerwärtigen Erscheinung,
0039die man einen schönen Mann nennt“, wie Dahlmann den
0040Geliebten Maria Stuartʼs, Darnley, bezeichnet, welcher so zahl-
0041reiche Doppelgänger gerade unter den Opernsängern hat. Aus dieser
0042Heldengestalt strömt in breitem Flusse eine entsprechend mächtige
0043Stimme, die mit geringer Anstrengung die Brandung des
0044Chores und Orchesters übertönt. Diese Stimme hat allerdings
0045mehr materielles Volumen, mehr Dicke als eigentliches Me-
0046tall. Berliner Berichte rühmten vor 4-5 Jahren nicht blos
0047die Kraft, sondern auch die Weichheit und den Schmelz vor
0048Niemannʼs Organ, welches somit der Tyrannei des großen,
0049heroischen Opernstyles leider schon seinen Tribut gezahlt hat.
0050Breite, dunkel gefärbte Tenorstimmen, wie die Niemannʼs, theilen
0051oft die Eigenthümlichkeit der Bässe und Baritons, daß die
0052Zeit ihnen viel früher den Timbre raubt als die Fülle. Die
0053Mittellage hat am meisten Wärme und Klang, die hohen
0054Töne (schon vom G an) werden häufig zu gewaltsam ange-
0055setzt auf Kosten der Schönheit wie der Reinheit. In seinem
0056Falset findet Niemann — wie zwei Versuche im „Propheten“
0057zeigten — eine sehr mittelmäßige Aushilfe. Niemannʼs Ton
0058meist in gleichmäßiger Stärke ausströmend, verwendet zu wenig
0059verschiedene Schattirungen, sein Gesang hat nicht sowol das zart
0060und reich abgestufte Colorit des Gemäldes, als das starre der
0061polychromen Statue. Die Kunst der schönen Tonverbindung,
0062des allmäligen Schwellens und Absterbens besitzt Niemann in
0063geringem Grade, in noch geringerem die der Geläufigkeit und
0064Verzierung. Seine Gesangskunst ist somit ziemlich primiv,
0065und vom Standpunkte strengerer Technik darf man den Sänger 
0066Niemann einen geistreichen Naturalisten nennen, welcher Mozartʼ-
0067schen Opern oder italienischen Partien aus dem Wege bleiben muß.
0068Zum Glück hat die geheimnißvolle historische Wechselwirkung,
0069nach welcher die großen Componisten einer bestimmten Styl-
0070periode die ihnen entsprechenden Sänger hervorrufen, und um-
0071gekehrt, auch in neuester Zeit ein Gebiet erschlossen, auf wel-
0072chem Niemannʼs eigenthümliche, glänzende Begabung sich in
0073voller Größe zeigen kann. Dieses Gebiet ist die Wagnerʼsche
0074Oper und diese Begabung die der musikalischen Declamation.
0075Wie unter den Sängerinnen Johanna Wagner eigens ge-
0076schaffen schien, die Ideale ihres Oheims zu verkörpern durch
0077ihre die Poesie, Plastik, Mimik und Tonkunst gleichmäßig ver-
0078bindenden Darstellungen, so ist in ähnlicher Weise Niemann 
0079zum vollendeten Interpreten Wagnerʼs geboren. Der Com-
0080ponist selbst hat dies in maßgebender Weise anerkannt, indem
0081er zur Darstellung des Tannhäuser in Paris ohne Zögern
0082Niemann vorschlug. Dieser hat nun selbst in Wien die
0083Richtigkeit jenes Urtheils bewiesen. Viele bessere Sän-
0084ger kenne ich, aber keinen besseren Tannhäuser. Es
0085ist keine bloße Phrase, von specifischen „Wagner-Sän-
0086gern“ zu sprechen. Wagnerʼs Musik verzichtet rücksichtlich
0087der Gesangskunst auf viele Ansprüche, welche von anderen
0088Componisten an den Sänger gestellt werden, deren (anderswo
0089sehr fühlbarer) Mangel also hier gar nicht an den Tag kommt.
0090Andererseits kann ein Sänger in Wagnerʼschen Opern andere,
0091eigenthümliche Vorzüge zur Geltung bringen, welche in älterer
0092Musik ein Licht unter dem Scheffel bleiben oder doch wenig-
0093stens nicht entscheidend sind: der declamatorische Vortrag und
0094die eminent dramatische Darstellung. In diesen beiden
0095Punkten ist Niemann Meister und seinen sämmtlichen deutschen
0096Brüdern überlegen. Seine Aussprache ist von ungewöhnlicher
0097Deutlichkeit und Energie, seine Phrasirung eine vollständige
0098Verschmelzung von Wort und Ton, von Gedicht und Compo-
0099sition. Ebenso assimilirt sich Niemannʼs freies, charaktervolles
0100und dabei keineswegs überladenes Spiel vollständig mit dem dar-
0101gestellten Charakter. Wen hätten nicht schon die ersten
0102Töne Niemannʼs als Tannhäuser tief und eigenthümlich be-
0103rührt, für alles Folgende richtig gestimmt? Liebes-
0104müd, unfrei, voll Sehnsucht nach der Erde, träumt er im
0105Venusberg vom Geläute der Glocken: „Hörʼ ich sie nie, hör
0106ich sie niemals wieder?“ Der Ausdruck der Stimmung war
0107hier von überraschender Wahrheit, sowie das ganze leiden-
0108schaftliche Zwiegespräch mit Venus. Unter diesem Eindrucke
0109voll dramatischen Lebens denkt man gar nicht daran, ob
0110vielleicht Manche Manches ein wenig klangvoller vorbrachten
0111in dem „Tannhäuserlied“, das ein kläglicher Bänkelsang bleibt,
0112mag es wer immer singen. Meisterhaft war das Wiederfinden
0113mit den Rittern („Seid nur versöhnt und laßt mich weiter-
0114ziehen“). Vermißte man in dem Liebesduett (Flotow in
0115Wagnerʼs Kleidern) die Zartheit des Tones und der Empfin-
0116dung, so wurde man reichlich entschädigt durch den darauf-
0117folgenden Sängerkampf. Wie weiß Niemann seine poetischen
0118Repliken und Dupliken zu steigern, zu färben, nach der Person
0119des Gegners charakteristisch zu modificiren! Zum erstenmale sah
0120ich die richtige Auffassung, daß Tannhäuser nach glücklich losge-
0121lassenem Venuslied nicht sofort reuig zusammenknickt, sondern noch
0122lange nachher, inmitten der allgemeinen verheerenden Tugend
0123Epidemie, in seiner frechen Ekstase aufrecht verharrt, bis Eli-
0124sabeth selbst das Wort an ihn richtet. Der Gipfelpunkt der
0125ganzen Leistung war die Erzählung im dritten Acte, ein Probe-
0126stück des Declamators und Schauspielers. Die ganze Scene [2]
0127wird unter den Händen Niemannʼs etwas Außerordentliches;
0128sein unwiderstehliches Drängen nach dem Venusberg, diesem
0129Duell seines Elends, mahnte an die grausig wollüstigen Farben
0130Markartʼs. Der anfangs nur sickernde Applaus des Publi-
0131cums floß nach dieser Scene in Strömen und machte den Er-
0132folg Niemannʼs zu einem glänzenden.


0133Von dem Propheten des Herrn Niemann zeigte sich
0134das Publicum nicht so vollständig befriedigt, wie von seinem
0135Tannhäuser. Mit Recht. Die Rolle hat außer einem
0136heroischen und einem überwiegend dramatischen Theile (dritter
0137und vierter Act) auch sanftere, lyrische Momente, welche einen
0138wohlgeschulten Sänger und eine zarte, unmittelbar zum Her-
0139zen sprechende Empfindung verlangen. Es war nicht blos die
0140in Wien unauslöschliche Erinnerung an Anderʼs süße
0141Stimme und seelenvollen Vortrag, was in diesen (hauptsächlich
0142den zweiten Act beherrschenden) Momenten die Zuhörer frostig
0143stimmte gegen Herrn Niemann. Der berühmte Künstler blieb
0144hier thatsächlich unter den Erwartungen; Ton und Vortrag
0145waren zu massig, die hohen Stellen mit Anstrengung forcirt
0146und nicht immer rein. Die Cantilene: „Leb wohl, o Mutter!“
0147— vielleicht die rührendste in der Oper — ließ er ganz weg.
0148Im dritten Act hob sich die Leistung zusehends; zwar bereitete
0149die hohe Lage der „Hymne“ Herrn Niemann einige Unbe-
0150quemlichkeit, aber der Total-Eindruck blieb ein entschieden
0151günstiger. Von hinreißender Gewalt war Niemann 
0152in der Domscene; hier, wo Spiel und declamatorischer
0153Ausdruck das erste und letzte Wort haben, entfaltete sich Nie-
0154mannʼs Talent in vollem Glanze. Eines fiel mir in seiner
0155Auffassung dieser Scene besonders auf: die heftige, schmerz-
0156iche Gemüthsbewegung, die in Johann arbeitet von dem Mo-
0157mente, als er seine Mutter erblickt. Die meisten Darsteller
0158(wenn nicht alle) pflegen, nachdem das Experiment mit dem
0159Niederknien der Mutter geglückt ist, sofort die feierliche Sal-
0160bung des Propheten beruhigt wieder aufzunehmen. Niemann 
0161hingegen erscheint als Johann im ganzen Verlaufe des Actes
0162wie gebrochen; er fühlt die ganze Schwere des verübten Be-
0163truges, kaum vermag er den inneren Kampf vor den argwöh-
0164nischen Genossen zu verhehlen. Mit äußerster Gewalt wirft
0165er sich schließlich in die Brust und schreitet erhobenen Hauptes
0166feierlich die Treppen hinauf, zum Ausgange des Domes — da
0167wirft er noch einen Blick zurück auf seine Mutter, schwankt
0168und gleitet halb ohnmächtig in die Arme seines Be-
0169gleiters. Das Alles war ebenso wahr und schön em-
0170pfunden als meisterhaft dargestellt. Die einzelnen Flecken, 
0171welche Herrn Niemannʼs Leistung als Prophet entstell-
0172ten, habe ich weder übersehen noch beschönigt. Aber wie
0173nach dem „Tannhäuser“, so musste ich nach dem „Propheten“
0174mir gestehen, eine selten künstlerische Anregung und einen
0175mächtigen Eindruck empfangen zu haben. Ich habe ein halbes
0176Dutzend Gäste als Propheten mit Beifall auftreten gesehen,
0177deren Leistungen zusammengenommen mir nicht den Eindruck
0178machten, als die einzige kleine Scene Niemannʼs, wo er, in
0179den weißen Mantel gehüllt, grambeschwert ins Zelt tritt —
0180ein Bild, das sich ebenso unauslöschlich einprägt, wie sein von
0181der Pilgerfahrt heimkehrender verzweifelnder Tannhäuser. Bei
0182Niemann hat man die — im Opernhause wahrlich seltene —
0183Empfindung, einer schöpferischen Kraft gegenüberzustehen, einer
0184nicht blos geschickt ausführenden, sondern aus dem tiefsten
0185Innern gestaltenden Individualität, die ebenso durch ihre ge-
0186waltige Lebensfülle wie durch ihre geistige Ueberlegenheit uns
0187in ihre Zauberkreise bannt.


0188Die Würdigung der an Niemannʼs Seite wirkenden ein-
0189heimischen Sänger muß ich diesmal in wenige Worte zusam-
0190mendrängen. In der Aufführung des „Tannhäuser“ glänzt
0191vornehmlich Herr v. Bignio als Wolfram v. Eschenbach;
0192Schönheit der Stimme und Wärme der Empfindung vereinig-
0193ten sich hier, um das Lied „An den Abendstern“ zu ungewöhn-
0194licher Wirkung zu heben. Frau Wilt, welche mit dem Duett
0195im vierten Acte des „Propheten“ Furore erregte, erntete auch
0196vielen Beifall als Elisabeth im „Tannhäuser“. Ihre starke, klang-
0197volle Stimme, ihr correcter, sicherer, in Kraftstellen stets effectvoller
0198Vortrag kommen auch in dieser neuesten Partie Frau Wiltʼs zur
0199vollen Geltung und lassen an mancher Stelle verschmerzen,
0200was dieser Gestalt an zartem Duft und überzeugender Innig-
0201keit abgeht. In dramatischer Hinsicht reicht Frau Wilt als
0202Elisabeth nicht entfernt an Frau Dustmann, welche sich mit
0203echt künstlerischer Bescheidenheit mit dem Part der Venus be-
0204gnügte, welche undankbare und häkelige Aufgabe sie vortreff-
0205lich löst. Fräulein Gindele sang im „Prophet“ zum ersten-
0206male die Fides — mit bescheidenen Mitteln, aber mit Ver-
0207ständniß und Gewandtheit. Der enorme Zudrang zu Nie-
0208mannʼs
Gastvorstellungen ist notorisch; die Direction darf ihn
0209füglich als einen „gedrängten“ Ausdruck des Dankes auffas-
0210sen, daß sie Niemann (so wie früher Sontheim) dem Wie-
0211er Publicum zu gewinnen wußte, das bisher allein ver-
0212urtheilt schien, von beiden berühmten Tenoristen nur die Por-
0213träts zu kennen.