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Neue Freie Presse
Morgenblatt
No. 1573. Wien, Freitag den 15. Januar 1869

[1]

Oper und Singspiel.

(Niemann. „Joseph und seine Brüder“. „Périchole“, von Offenbach.)


0003Ed. H. Ein Heldentenor, der heutzutage auf fremden
0004Bühnen als Joseph in Méhul’s gleichnamiger Oper gastiert,
0005ist gewiß eine seltene Erscheinung. Jeder reisende Künstler
0006pflegt für seine Gastspiele eminent dankbare Aufgaben zu wäh-
0007len, und dankbar findet der Virtuose vor Allem das Schwierige
0008und Anstrengende. Wenn ein moderner Tenorist, ganz im
0009Gegensatze hiezu, als „Joseph von Egypten“ seinen Ruhm zu
0010vergrößern weiß, so darf man eine ungewöhnliche Persönlich-
0011keit hinter ihm vermuthen. Als solche hat sich Herr Nie-
0012mann
in der Titelrolle der Méhul’schen Oper vollständig
0013bewährt. Wie unermeßlich weit liegt diese einfache biblische
0014Gestalt, mit der Herzensgüte als einzigem Pathos, von dem
0015Tumult widerstreitender Affecte, den Niemann als Tann-
0016häuser und Prophet uns so leidenschaftlich malt! Was
0017mochte den gefeierten Sänger gerade an dieser Aufgabe locken,
0018für welche doch bescheidenere Kräfte ausreichen? Die Lust
0019wahrscheinlich, die gerade den tüchtigsten Virtuosen mitunter
0020anwandelt, einmal auch zu zeigen, daß die Schwierigkeiten
0021zwar seiner bedürfen, er aber nicht der Schwierigkeiten. Wir
0022erinnern uns lebhaft, wie Dreyschock hier zu allgemeiner
0023Verwunderung ein Concert mit Beethoven’s kindleichtem Trio
0024Op. 1 eröffnete, das er zu ungewöhnlicher Wirkung zu heben
0025sich nicht wenig zugute that. Jeder anständige Dilettant be-
0026wältigt dies Stück und keiner wird es vergreifen. Aehnliches,
0027nur in viel höherem Grade, gilt von Méhul’s Joseph.
0028Dieser einfache, in allen seinen Motiven klare, in allen seinen
0029Aeußerungen sympathische Charakter kommt selbst dem ge-
0030wöhnlich begabten Darsteller so weit entgegen, daß eine Ge-
0031fahr des Verfehlens nirgends eintreten kann. Dessen äußeren
0032Umriß befriedigend zu zeichnen, gelingt auch dem Anfänger,
0033aber den ganzen, in diesem Umrisse möglichen Reichthum lebens-
0034voller Schatten und Lichter zu errathen, geschweige denn her-
0035vorzubringen, vermag nur der Meister. Eine leichte Aufgabe
0036für den gewöhnlichen Theatersänger, wird sie zur bedeutenden
0037für den vorzugsweise dramatischen Künstler; sie wächst je nach
0038den Anforderungen, welche der Darsteller an seine eigene
0039Kunst stellt. Niemann hat an die Rolle des Joseph nicht
0040weniger Liebe und Arbeit verwendet, als an die effectvolleren
0041des Tannhäuser und Propheten. Was diese beiden Leistun-
0042gen an Glanz voraus haben, wird im Joseph durch die innere
0043Wahrheit und Aufrichtigkeit der Musik aufgewogen. Die
0044Wärme und der Schmelz von Walter’s wohlgeschulter Te-
0045norstimme verleiht dem lyrischen Erzählen Joseph’s ohne Frage
0046einen größeren musikalischen Reiz, aber Niemann’s Dar-
0047stellung zeigte, was individualisirendes dramatisches Talent und
0048declamatorische Kunst noch weiter aus dieser Rolle machen
0049können. Es versteht sich, daß schon beim ersten Auftreten
0050Niemann’s königliche Erscheinung uns das Bild von Joseph 
0051bedeutender, heldenhafter als gewöhnlich vor Augen führt und
0052daß sie sofort den Anflug allzu weichlicher Milde verscheucht,
0053der sonst diesem egyptischen Titus anhaftet. Joseph eröffnet
0054die Oper mit einer Arie, in welcher die Sehnsucht nach der
0055verlornen Heimat sich zur schmerzlichen Erbitterung gegen die
0056unmenschliche That seiner Brüder steigert. Niemann’s Vor-
0057trag wußte dieses Musikstück, das in seinem formalen, akademischen
0058Gepräge direct an Gluck erinnert, durchwegs dramatisch zu beleben.
0059Die darauffolgende berühmte Romanze: „Ich war ein Jüngling
0060noch an Jahren“, bekommt, wenn sie lediglich von Seite des
0061musikalischen Wohllautes angefaßt wird, leicht etwas Zopfi-
0062ges, Leierndes. Dieser Gefahr entgeht Niemann vollständig
0063durch die meisterhafte Behandlung des einzelnen Wortes und
0064den charakteristisch verschiedenen Vortrag der drei musikalisch
0065ganz gleichlautenden Strophen. Nun treten die Brüder auf,
0066Joseph nicht erkennend, doch von ihm sogleich erkannt. Hier
0067beginnt für den Darsteller eine schwierige und bedeutende dra-
0068matische Aufgabe, die bis zur letzten Scene der Oper fort-
0069dauert: Joseph, durch dieses Wiedersehen in heftigste, an-
0070haltende Gemütsbewegung versetzt, muß sich gleichwol beherr-
0071schen und verstellen; sein Seelenkampf soll dem Zuschauer stets
0072sichtbar, den Brüdern stets verborgen bleiben. Die Verstellung
0073wird noch hundertmal schwerer und schmerzlicher für Joseph 
0074im Gespräche mit seinem alten Vater und dem geliebten Ben-
0075jamin. „Reprenons mon empire sur ce coeur agité“ —
0076diese Worte, mit welchen Joseph nach Fassung ringt, bezeich-
0077nen für den ganzen Verlauf der Handlung die schwierige dra-
0078matische Aufgabe Joseph’s. Niemann löste sie mit überzeugen-
0079der Wahrheit und durchwegs in den würdigsten, einfachsten
0080Formen. Im dritten Acte tritt Joseph weniger hervor; seine
0081Rolle verrinnt mit der ganzen Oper im Sande langer ge-
0082sprochener Scenen. Man kann es daher nur billigen, daß
0083Niemann den von Weigl hinzucomponirten Schluß benützte,
0084welcher zwar musikalisch selbst kein bedeutendes Wort spricht,
0085aber doch wenigstens Joseph noch einmal zu Worte kommen
0086läßt und die Oper zu einem etwas breiteren Ausklingen.
0087Zweierlei macht noch überdies die Rolle des Joseph zu einer
0088für Niemann passenden: sie bewegt sich nicht in anstrengend
0089hoher Stimmlage und bedarf für ihre zahlreichen und langen
0090Prosa-Scenen eines guten Redners. In Herrn Niemann’s sono-
0091rem Sprechorgane und seiner correcten, natürlichen, ausdrucks-
0092vollen Rede lernten wir zwei neue Vorzüge des Sängers ken-
0093nen. Was in unserem letzten Berichte über die Mängel seiner
0094Gesangskunst bemerkt war, können wir nicht widerrufen, brau-
0095chen es aber wol nicht jedesmal zu wiederholen. Auch als
0096Joseph hat Herr Niemann durch das gleichmäßig breite Aus-
0097strömen des Tones, durch forcirte Behandlung der höheren
0098Stimmlage und zu hoch schwebende Intonation das Ohr in
0099manchem Momente unfreundlich berührt. Diese Flecken sind
0100nicht wegzuleugnen, ebensowenig wie ein gewisser Mangel an
0101Wärme und Zartheit, sei es der Empfindung selbst, oder doch
0102des Vermögens, diese an die Oberfläche zu bringen. Aber
0103Niemann ist trotz alledem eine Specialität als dramatischer
0104Künstler, die gegenwärtig ohne Rivalen dasteht und deren
0105Schöpfungen Geist und Phantasie in ungewöhnlichem Maße [2]
0106anregen; eine Erscheinung voll Glanz und kraftvoller Gedie-
0107genheit, welche in jeder ihrer Verwandlungen sich der Erinne-
0108rung des Zuschauers unvergeßlich einprägt. — Von den übrigen
0109Sängern der Méhul’schen Oper zeichneten sich Herr Schmid 
0110als würdiger und gemüthvoller Repräsentant des Jacob, und
0111Fräulein Gindele durch ihre natürliche, liebenswürdige Dar-
0112stellung des Benjamin vortheilhaft aus. Von dem übrigen
0113Theile der Vorstellung ist es besser, zu schweigen. Da Jo-
0114seph
seinen Brüdern verziehen hat, so wollen wir nicht schlech-
0115ter sein als er und dasselbe thun.


0116Wir schulden noch einige Worte der neuen zweiactigen
0117Operette von Offenbach: „Périchole“, welche kürzlich im
0118Theater an der Wien mit Beifall gegeben wurde und seither
0119allabendlich bei gesteckt vollem Hause wiederholt wird. Die
0120Titelheldin ist eine arme junge Straßensängerin, die mit ihrem
0121Geliebten, dem Guitarrespieler Piquillo, auf den Promenaden
0122von Lima sich producirt. Das Pärchen nagt eben gründlich am
0123Hungertuche, als der lüsterne Vicekönig von Peru Périchole 
0124gewahr wird und, von ihrer Schönheit entzückt, sie als Favo-
0125ritin an seinen Hof bringen will. Zum Scheine willigt sie ein,
0126um vorläufig ihren Hunger zu stillen. Sie läßt sich zuvor von
0127bezechten Notaren mit dem noch betrunkeneren Piquillo ver-
0128mälen, geht zu Hofe, weiß sich aber wieder aus der Schlinge
0129zu retten und zieht schließlich als Straßensängerin, wie sie ge-
0130kommen, mit ihrem beglückten Piquillo in die Weite. Die
0131Handlung ist durchaus possenhaft und strotzt von Unmöglich-
0132keiten, worunter jedoch einige recht drollige. So bringt gleich
0133die Exposition einige ganz wirksame Situationen und Figuren.
0134Eine solche ist der bornirte Vicekönig, der sich verkleidet unter
0135das Volk mischt, „um Wahrheit zu erfahren“, aber consequent
0136mit eingelernten Schmeicheleien bedient wird. Zu diesem prah-
0137lerischen Tyrannen und luxuriösen Hofstaate bildet das arme,
0138fröhliche Musikantenpaar einen glücklichen Contrast. Mit diesen
0139Figuren weiß aber der Librettist nicht viel Gescheites anzu-
0140fangen; er vernützt sie in einer unwahrscheinlichen und abge-
0141schmackten Intrigue, welche überdies für einen ganzen Theater-
0142abend nicht ausreicht. Der zweite Act muß sich mitunter durch 
0143klägliche Lückenbüßer forthelfen und bringt es doch nur zu
0144einem ganz gezwungenen Abschlusse. Die Musik gehört keines-
0145wegs zu der frischesten des so begabten, leider nur allzu frucht-
0146baren Componisten. „Périchole“ gewährt zahlreichen Reminis-
0147cenzen und flachen Quadrille-Themen einen übergroßen Tum-
0148melplatz. Inzwischen finden sich aber auch frische, graziöse
0149Nummern, wie die bei größter Einfachheit pikante (obendrein
0150vortrefflich declamirte) Brief-Arie Périchole’s und das Hoch-
0151zeits-Duett im ersten Acte; im zweiten die Couplets, mit wel-
0152chen der Guitarrespieler seine Frau dem Vicekönige vorstellt,
0153und einiges Andere. Im Gegensatze zu den breiten, an-
0154spruchsvolleren Formen und schwierigeren Gesangsaufgaben der
0155Schönen Helena“ und der „Großherzogin“ kehrt „Périchole“
0156zu dem knappen, bescheidenen Coupletstyl der früheren Offen-
0157bach’schen Operette zurück und befleißt sich einer discreten
0158Instrumentirung.*)
0179Die Aufführung der Novität im Theater an der Wien
0180verdient alles Lob. Fräulein Geistinger ist in Gesang,
0181Spiel und Erscheinung eine glänzende Périchole. Noch höher 
0182stellen wir Herrn Swoboda’s Piquillo — eine Leistung voll
0183natürlicher Laune und Liebenswürdigkeit, frisch, einheitlich und
0184voll geistreicher, individueller Züge. So vortrefflich Fräulein
0185Geistinger jede Rolle zu bewältigen und zu schmücken versteht,
0186Swoboda ist neben ihr das weit ursprünglichere Talent,
0187wenigstens im komischen Fache. Seine Empfindung ist wärmer,
0188sein Humor natürlicher; er bringt Figuren wie dieses fröh-
0189liche, etwas bornirte Naturkind Piquillo in voller Lebensfülle
0190und Wahrheit, während Fräulein Geistinger ähnlichen Auf-
0191gaben doch nur auf dem Wege der Reflexion beikommt und
0192in Darstellung gemüthlicher Lustigkeit, komischer Naivetät u. dgl.
0193die überwiegende Arbeit des Verstandes und einer „allerdings
0194ungewöhnlichen“ Geschicklichkeit selten ganz zu verstecken ver-
0195mag. Einigen wirksamen Gesangsvorträgen der Geistinger und
0196Swoboda’s ist es zuzuschreiben, daß der zweite Act, obgleich der
0197unbedingt schwächere, hier mehr als der erste gefiel. Großen
0198Effect erzielt namentlich Herr Swoboda mit den Couplets:
0199„Les femmes il n’y a que ça!“, denen er eine Reihe local ge-
0200färbter Strophen (von der Erfindung des Herrn Weyl) beifügt.


0201Die beiden Kämmerer des Vicekönigs werden von den
0202Herren Rott und Jäger sehr gut gegeben. Den Vicekönig 
0203selbst hätten wir lieber in Händen des Herrn Blasel ge-
0204sehen, dessen natürliche Komik dieser Rolle mehr zusagt, als
0205der entsetzlich nachdrückliche, gedehnte Vortrag Herrn Friese’s.
0206Eine neue Erscheinung war uns der Komiker Herr Schwabe:
0207Friese’sche Schule in der letzten Verknöcherung.


0208Von den „drei Cousinen“, welche das Wirthshaus im
0209ersten Acte schmücken, sind zwei hübsch und singen drei falsch.
0210Die Ausstattung der Novität ist prachtvoll, auch ein spanischer
0211Tanz ist eingelegt, in welchem eine jugendliche und lebhafte
0212Tänzerin, Fräulein Emma Hirsch, mit bestem Erfolge debu-
0213tirte. Schließlich möge das Verdienst anerkannt sein, welches
0214Herr Richard Genée durch die fließende Uebersetzung
0215des Librettos und die tüchtige Leitung des Orchesters sich um
0216Périchole“ erworben hat.

Fußnoten
  • *)Wir können uns nicht versagen, einen Ausspruch von Chry-
    sander
    in Betreff Offenbach’s (und nebenbei Richard Wag-
    ner’s) hier mitzutheilen. In der Leipziger Allgemeinen Musikzeitung,
    gegenwärtig von Chrysander redigirt, klagte ein Correspondent aus
    Paris, die Herrschaft Offenbach’scher Musik verschulde bei den Fran-
    zosen „die Schwierigkeit, Wagner zu verstehen“. Chrysander,
    bekanntlich einer unserer gründlichsten Musikhistoriker und rigorosesten
    Gegner aller oberflächlichen Unterhaltungsmusik, bemerkt hiezu: „Was
    die Offenbach’schen Operetten so eingänglich macht, ist zunächst nicht
    ihre Schlechtigkeit und Flachheit, sondern ihre Kunstfertigkeit; sie sind
    in der Form (natürlich in der leichtesten vorhandenen Form, der des
    Couplets oder der alten Pastourelle) vortrefflich, ja musterhaft abge-
    rundet. Am besten wissen das die Armseligen, welche sich hüben und
    drüben zu ihrer Nachahmung hergeben. Schüttelt man nun dort (und
    anderswo) einmal Offenbach’s Joch ab, so wird man dadurch nicht reifer
    für Wagner werden, sondern ihm nur umsomehr entwachsen. Möge
    Jeder in Wagner’s Kunst finden, was ihm beliebt, nur Eines sollten
    ehrliche Musiker sich nicht gegenseitig aufbinden wollen, nämlich daß
    Tiefe darin sei und daß ein entsprechend tiefes Verständniß zu ihrer
    Würdigung gefordert werden müsse.“