Neue Freie Presse
Morgenblatt
No. 1606. Wien, Mittwoch den 17. Februar 1869
[1]Hofoperntheater.
(Gastspiel des Herrn Niemann.)
0003Ed. H. Die Rollen, in welchen seit unserem letzten Be-
0004richte Herr Albert Niemann sein Gastspiel fortgesetzt hat,
0005waren Lohengin, Faust und Achilles in Gluckʼs „Auli-
0006scher Iphigenie“. Das Haus war jedesmal zum Erdrücken
0007voll, selbst bei Opern, welche in der gewöhnlichen Besetzung
0008keine Zugkraft mehr übten. Ein Beweis, daß das Publicum,
0009so kühl es sich gegen Niemann benimmt und so eifrig es
0010hierin von einem großen Theile der Journalistik bestärkt wird,
0011sich doch von Niemann wie durch einen geheimen Zauber an-
0012gezogen fühlt. Diesen Zauber habe ich jüngst zu erklären ver-
0013sucht, ohne deßhalb einen einzigen Mangel des Sängers zu
0014verschweigen oder zu beschönigen. Das Schlußurtheil des Hö-
0015rers über Niemann wird stets das Resultat eines individuel-
0016len Abwägungsprocesses sein: ob seine Fehler, ob seine Vor-
0017züge mit entscheidender Schwere überwiegen und man besser
0018thue, die ersteren mitzunehmen oder auf die letzteren rundweg
0019zu verzichten. Da ich mein Urtheil diesfalls in der Minorität
0020glaube, gebe ich ihm nur den ganz individuellen Ausdruck: daß
0021eine mangelhafte Höhe, unsichere Intonation, übertriebene Ton-
0022stärke mein Ohr ebenso unangenehm berühren wie jedes an-
0023dere, daß jedoch diese Mängel (größtentheils am Organe selbst
0024haftend und kaum mehr zu beseitigen) mit den Genuß keines-
0025wegs vernichten, den Niemannʼs bedeutende Persönlichkeit,
0026eminent dramatische Gestaltungskraft und hoher künstlerischer
0027Ernst in jeder Rolle darbieten. Keine seiner Rollen ist Stück-
0028werk, jede ist ein ausgeprägtes organisches Ganzes. Ebenso
0029gewissenhaft als geistvoll in der Auffassung eines Charakteres,
0030hält Niemann sich in der Durchführung streng innerhalb des
0031Kunstwerkes, strebt nie nach persönlichen Glanzeffecten, unter-
0032ordnet sich dem Ensemble und tritt zurück, wo der Charakter zurück-
0033zutreten hat. Die Rolle ist für Niemann nicht zu Ende, wo der
0034Applaus dafür ein Ende hat. Er identificirt sich vollständig
0035mit der sich darzustellenden Person und bleibt ihrem innersten
0036Wesen treu bis in den kleinsten Zug. Nothwendigkeit und
0037Gewöhung haben in Deutschland dazu geführt, an den dra-
0038matischen Geist der Opernsänger (zumal der mit einer Art
0039Minorennitäts-Privilegium ausgestatteten Tenoristen) einen
0040sehr bescheidenen Maßstab anzulegen. Anständige Ausfüllung
0041herkömmlicher Schablonen wird in der Regel schon als „gutes“
0042oder „tüchtiges“ Spiel gelobt. Und doch ist dieser dramatische
0043Geist mit seinen zahllosen untrennbaren Fäden, wie Bildung,
0044Studium, schauspielerisches Talent, declamatorische Beredsam-
0045keit die Eine Lebenshälfte, oder richtiger noch: das halbe Leben
0046einer wahrhaft künstlerischen Opernleistung. Die Vorzüge
0047Niemannʼs haben somit schon den einen großen Vorzug der
0048Seltenheit. Ihm fehlt Vieles, was andere Tenoristen be-
0049sitzen, dafür hat er Vieles, was gar kein anderer besitzt. Ein
0050edler und bedeutender Charakterkopf, in welchem unglücklicher-
0051weise ein Auge kleiner ist als das andere, ist es wol werth,
0052im Profil betrachtet zu werden.
0053Von Niemannʼs neuesten Rollen war Faust, wie vor-
0054aussichtlich, die mindest glückliche. Jugendlicher Schmelz der
0055Stimme, gepaart mit leichter, klangvoller Höhe, sind für den
0056dritten Act, den schönsten der Oper, von entscheidender Wich-
0057tigkeit. Niemann, obendrein indisponirt und einigemal unrein
0058in der Intonation, erzielte als Faust einen sehr geringen Er-
0059folg. Und dennoch hat die Leistung durch einheitliche Auffas-
0060sung und Durchführung durchwegs imponirt, häufig überrascht,
0061gleichgiltig gelassen niemals. Gleich die Scenen in Faustʼs
0062Studirzimmer, von Gounod flach und theatralisch componirt,
0063bekamen unter Niemannʼs Händen eine neue, bedeutsame
0064Physiognomie. Die meisten Darsteller Faustʼs machen im
0065ersten Acte den Eindruck, als hätten sie sich für einen Mas-
0066kenball in das Costüm eines alten Gelehrten geworfen, das
0067sie namenlos genirt und das mit Eclat abzuwerfen sie kaum
0068erwarten können. Niemann hingegen ist Eins mit dem Kleide
0069und mit der ganzen Traumwelt des skeptischen Dulders und
0070Grüblers, der einzige Tenorist, bei dem es möglich wird, an
0071die Gestalt des Goetheʼschen Faust zu denken. Und wie
0072er den Verjüngungstrank hinabgestürzt — da istʼs nur seine
0073Miene, Stimme und Bewegung, welche diese Verjüngung
0074ausdrücken, der schwarze Talar bleibt unverwandelt. Niemann
0075ist unseres Wissens der erste Faust-Darsteller, der auf den
0076kindischen Ballet-Effect verzichtet, mit Einem Zauberschlage
0077in schmuckem Atlaswamms und weißen Tricots da-
0078zustehen. Mit vollem Rechte — denn wo steht denn
0079geschrieben, daß der Trank Einem nicht blos „dreißig
0080Jahre“, sondern auch die alten Hosen vom Leibe schafft? Es
0081gereicht einem Künstler zur Ehre, wenn er auf einen Umklei-
0082dungs-Effect, den er mit seiner richtigen Einsicht nicht zu rei-
0083men vermag, verzichtet. Erst im zweiten Acte erscheint Nie-
0084mann in reicherem, ritterlichem Costüme — aber nicht mehr im
0085dritten und vierten. Der Faust, welcher Gretchen verlassen
0086und nun grambeschwert, unstät die Welt durchschweift, prägt
0087sich auch in seiner Erscheinung aus. In schwarzer Tracht,
0088den dunklen Mantel umgeschlagen, den breitkrämpigen Hut tief
0089im Gesicht, tritt er unter die blendenden Zauberinnen auf dem
0090Brocken, dessen heidnischen Dianasaal die Tenoristen in
0091schmucker Balltoilette zu besteigen pflegen. Das sind lauter
0092Einzelheiten! höre ich ausrufen. Ohne Zweifel. Aber aus vie-
0093len solchen Einzelheiten besteht eine Rolle und Einzelheiten bil-
0094den unser Leben. Ob sie, streng und lebendig ineinanderge-
0095fügt, aus einer künstlerischen Grundanschauung fließen, oder
0096ob sie willkürlich jeden Augenblick vom Charakter abspringen,
0097das begründet den Unterschied zwischen der dramatischen Kunst-
0098leistung und einer Gesangs-Production im Costüme. Das
0099Terzett im vierten Acte ließ Niemann beinahe fallen, dafür
0100fand er in der Kerkerscene ergreifende Accente. Für einen
0101Augenblick wenigstens schaute man in die ganze Tiefe des Ab-
0102grundes, den Goethe mit dem Wort: „Der Menschheit ganzer
0103Jammer faßt mich an“ vor uns aufreißt.
0104Manche Verwandtschaft mit dem Faust hatte der
0105Lohengrin Niemannʼs. Hier wie dort stand der Sänger
0106unter dem doppelten Drucke einer anhaltend hohen Stimmlage
0107der Partie und der unaustilgbaren Erinnerung an Ander,
0108der beide Rollen für Wien geschaffen. Die Brautnacht Lohen-
0109grinʼs, eine Scene, in welcher Anderʼs Zärtlichkeit ihre fein-
0110sten Silberfäden spann und man durch jeden Ton hindurch
0111sein erregtes Nervenleben vibriren sah — sie fand in Nie-
0112mannʼs massiver Stimme nicht das entsprechende Organ und
0113klang überdies etwas nüchtern, wie von Reflexion durchkältet.
0114Imponirend waren die eigentlich heroischen Momente der Par-
0115tie, ein Meisterstück an Rhetorik die Erzählung vom heiligen
0116Gral, endlich von ergreifender Wahrheit der Empfindung
0117der letzte Abschied von Elsa. Die größte Anerkennung verdiente [2]
0118auch hier die bestimmte, einheitliche Durchführung des ganzen
0119Charakters. Sie ist nicht leicht, denn in dem Wesen Lohen-
0120grinʼs liegt eine Amphibolie, ein Doppelleben, das nothwen-
0121dig mit inneren Widersprüchen verbunden ist. Diese Wider-
0122sprüche zwischen der überirdischen Natur Lohengrinʼs und
0123seinen rein menschlichen Trieben und Empfindungen wird
0124nur ein Künstler annähernd lösen, welcher von vornherein
0125sich für eine Grundauffassung entscheidet und ihr in allen
0126zweifelhaften Momenten das letzte Wort einräumt. Niemann
0127hielt mit Recht die seraphische Natur Lohengrinʼs als Grund-
0128lage des Charakters fest und entfaltete sie in ebenso consequen-
0129ten als maßvollen edlen Formen. Am schönsten bewährte er
0130diese Auffassung in dem Finale des zweiten Actes, wo von
0131allen Seiten Anklagen und Verdächtigungen die freche Stirne
0132gegen Lohengrin erheben. Mit ruhiger, nur von tiefer Weh-
0133muth gemilderter Hoheit steht Niemann inmitten dieser hetzen-
0134den und aufgehetzten Parteien, weder die Einen begütigend,
0135noch den Anderen drohend, den Blick still gen Himmel gerich-
0136tet: Sie wissen nicht, was sie thun! Diese heldenhafte, dabei
0137stets milde Glorie wich keinen Augenblick von der Gestalt, sie
0138tilgte jede Erinnerung an kleinliche Empfindsamkeit, Rachsucht,
0139Ueberhebung. Daß sie mit beitrug, die Liebesscenen im dritten
0140Acte abzuschwächen, kann man zugestehen, doch trugen hier in
0141erster Linie die ungenügenden Mittel Schuld, nicht die berech-
0142tigte Auffassung, welche ja beim Abschiede von Elsa dem Sän-
0143ger den vollsten Herzenston gestattete.
0144Zuletzt hörten wir Herrn Niemann in Gluckʼs „Iphi-
0145genie in Aulis“. Er sang den Achilles, an sich die undank-
0146barste Partie, welche ein moderner Tenorist für sein Gastspiel
0147wählen kann. Wer Applaus und nur Applaus sucht, hält sich
0148den Achilles vom Leibe. Es spricht für Niemann, daß er volle
0149künstlerische Befriedigung darin findet, eine classische drama-
0150tische Aufgabe um ihrer selbst und des Ganzen willen zu stu-
0151diren und mit aller ihm zu Gebote stehenden Charakteristik
0152durchzuführen. Ich glaube, daß Niemann in dieser Rolle kei-
0153nen Rivalen hat. In dem ausdrucksvollen, energischen Vor-
0154trag der Recitative, namentlich im zweiten Acte, wird ihn
0155kaum ein zweiter Sänger erreichen, geschweige denn übertref-
0156fen, und die D-dur-Arie im dritten Acte explodirte mit einer
0157Macht, welche, im Publicum unmittelbar zündend, in wieder-
0158holtem Hervorrufen Niemannʼs widerhallte. Die Arie („Calchas,
0159dʼun trait mortel blessé, sera ma première victime“) war
0160für Wien neu, indem der frühere Darsteller des Achilles,
0161Herr Walter, dessen lyrischerem Temperamente solcher Zorn-
0162ausbruch wenig zusagte, sie wegließ. Doppelt interessant wird
0163sie durch ihre historische Berühmtheit: das kriegerische Feuer
0164dieser Arie soll bei der ersten Pariser Aufführung (1774)
0165die anwesenden Officiere dergestalt fortgerissen haben,
0166daß einige darunter unter Hurrahrufen die Säbel zogen.
0167Wer Niemann in irgend einer Rolle gesehen, kann sich
0168leicht ausmalen, wie unvergleichlich seine Heldengestalt für den
0169Achilles paßte! Es war eine Freude, ihn anzusehen. Wider
0170Erwarten fand Herr Niemann auch in dieser ihm so überaus
0171zusagenden Partie bitteren Tadel von Seite einiger Musik-
0172kritiker, die sonst in der Beurtheilung aller einheimischen
0173Mittelmäßigkeiten die Gnade und Allbarmherzigkeit selbst sind.
0174Darüber mit meinen Collegen zu rechten, steht mir nicht zu.
0175Wenn aber gehässige Befangenheit ihre Verdammungsurtheile
0176durch unrichtige Thatsachen motiviren will, dann darf
0177man wol nicht schweigen. So entwirft der Musik-Referent der
0178Wiener Zeitung eine haarsträubende Schilderung von der bar-
0179barischen Eigenmächtigkeit, mit welcher Herr Niemann sich den
0180Gluckʼschen Achilles zum persönlichen Gebrauch zurecht-
0181gestümmelt. Wie er da eine Arie weggelassen, dort eine
0182andere um einen ganzen Ton transponirt, in einer dritten
0183sogar alle hohen Noten wie Mohnköpfe herabgesäbelt habe,
0184und was des Gräuels mehr ist. Hierauf ist einfach zu erinnern,
0185daß (mit und ohne Niemann) in Wien, wie an den meisten deut-
0186schen Bühnen, Gluckʼs „Iphigenie in Aulis“ nach der vorzüglichen
0187Bearbeitung von Richard Wagner gegeben wird, auf dessen
0188lorbeergeschmücktes Haupt somit jener Donnerkeil aus dem Kunst-
0189cabinete im Heinrichshof zurückfällt. Wagner hat sich zuerst
0190zum Vortheile des Werkes, sowie des modernen Publicums
0191die Freiheit genommen, einige der zahlreichen Arien zu strei-
0192chen, worunter die von der Wiener Zeitung so schmerzlich ver-
0193mißte A-moll-Arie des Achilles. Sodann hat Wagner die
0194Rolle des Achilles auf ein für normale Tenorstimmen berech-
0195netes Niveau herabgesetzt, indem er einige Partien derselben
0196um einen ganzen Ton tiefer setzte (fast sämmtliche Recitative
0197und Solostellen Achillesʼ im ersten Acte), in anderen die un-
0198bequemsten hohen Noten durch tiefere punktirte. Letzteres ge-
0199schah z. B. zum großen Gewinn für den Vortrag mit den
0200zwei hohen A, die, rasch in Achtelnoten aufeinander folgend,
0201dem Thema der (von Niemann gesungenen) „Zorn-Arie“
0202einen kleinlich fanfarenartigen Charakter geben. Die Berech-
0203tigung zu diesen von Wagner vorgenommenen Aenderun-
0204gen liegt hauptsächlich in der Thatsache, daß Gluckʼs
0205Achilles, wie die meisten Heldentenor-Partien der älteren
0206französischen Schule von Lully bis Cherubini nicht für nor-
0207male, sondern für künstlich hinaufgetriebene, falsettirende Te-
0208nore geschrieben waren, welche „Haute-contres“ hießen, mit-
0209unter die Höhe einer gewöhnlichen Altstimme erreichten, und
0210deren Partien man der Bequemlichkeit halber auch im Alt-
0211schlüssel notirte. Diese Haute-contres waren auf der Bühne
0212nur in Frankreich heimisch; Gluck, Piccini, Sacchini
0213mußten sich widerwillig ihrer Specialität fügen. Le Gros
0214war der erste Darsteller des Achill, derselbe Haute-
0215contre-Tenorist Le Gros, für welchen Gluck die Rolle des
0216Orfeo (für die schöne Altstimme des Castraten Guadagni
0217componirt) ummodeln mußte. Dafür werden jetzt die kindisch
0218hohen Partien der Haute-contres zu Gunsten deutscher Te-
0219norstimmen umgemodelt. Erst Cherubini in seinen alten
0220Tagen und Spontini haben sich von dieser nunmehr ausge-
0221storbenen Kräh-Specialität emancipirt, doch sind die
0222Männerchöre im „Wasserträger“ und „Cortez“ noch für
0223Haute-contre (im Altschlüssel), Tenor und Baß componirt.
0224Einen solchen Altschlüssel mag auch noch in einer alten Edition
0225Méhulʼs „Joseph von Egypten“ an der Stirne tragen,
0226woraus der Musikkritiker der Wiener Zeitung die revolutio-
0227nirende Entdeckung zog und proclamirte: Méhulʼs „Joseph“
0228sei für eine Altstimme geschrieben! Unser als lyrischer
0229Poet geschätzter College möge sich beruhigen: der erste Dar-
0230steller des Joseph war kein Anderer als der berühmte
0231Tenorist Elleviou, welcher seine Stimme durch emsiges
0232Falsettiren gleichfalls in die vornehmere Haute-contre-Region
0233hinaufgearbeitet hatte. Unsere Leser werden es mit Recht un-
0234passend finden, in einem Feuilleton Musikgeschichte zu dociren,
0235allein wünschenswerther scheint es trotzdem noch immer, daß
0236richtig, als daß falsch docirt werde.