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Neue Freie Presse
Morgenblatt
Nr. 1889. Wien, Mittwoch, den 1. December 1869

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Hofoperntheater.

(GluckʼsArmida“.)


0003Ed. H. Kein größeres Fest für den Kritiker, als wenn
0004er, nach starkem Verbrauch bedingten Lobes und kühler Aner-
0005kennung, wieder einmal eine Leistung trifft, welche, unmittel-
0006bar ergreifend, aufrichtige Bewunderung einflößt. Eine solche
0007Kunstleistung ist die Armida der Frau Dustmann. Seit
0008lange haben wir das große Talent dieser Frau nicht so
0009siegreich sich entfalten gesehen, wie in Gluckʼs „Armida“. Jede
0010Darstellerin dieser Rolle begegnet nach zwei Richtungen großen
0011und eigenthümlichen Schwierigkeiten. Fürs erste gehört Ar-
0012mida zu den schwersten dramatischen Aufgaben, sie durchmißt
0013ein weites Feld heftiger und widerstreitender Gefühle: vom
0014flammenden Haß bis zur hingebendsten, zuerst beglückten,
0015schließlich verrathenen Liebe. Nur ein leidenschaftlich vibri-
0016rendes Naturell vermag jeden dieser einzelnen Affecte mit
0017überzeugender Gewalt darzustellen, nur eine geistvolle psycho-
0018logische Motivirung deren Sprünge und Uebergänge
0019zu erklären. In dieser aufreibenden dramatischen Auf-
0020gabe wird die Sängerin nur dürftig unterstützt durch
0021den musikalischen Reiz ihrer Partie. Darin liegt die zweite
0022Schwierigkeit der Rolle. Wenn wir den kurzen Monolog am
0023Schlusse des dritten Actes ausnehmen (dessen ergreifendste
0024Töne übrigens auch nicht dem Gesange, sondern der Beglei-
0025tung angehören), so finden wir keine Nummer, in welcher
0026Armida durch die unmittelbar musikalische Schönheit des
0027Gedankens, durch die süße Unwiderstehlichkeit der Melodie den
0028Hörer gefangen nehmen könnte, wie in Mozartʼs und Beetho-
0029venʼs Opern. Das verwöhnte Ohr und die gesteigerte Empfin-
0030dung des modernen Hörers vermißt in den Gesängen Armidaʼs
0031den wünschenswerthen Grad von Wärme und Bewegung; da
0032muß die Darstellerin geradezu aus ihrem eigenen Kapitale von
0033Leidenschaft die Composition unterstützen, sie durchglühen und
0034beleben. Man betrachte die E-moll-Arie, in welcher Armida,
0035nachdem ihr der Dolch entfallen, ihre plötzlich erwachende Liebe 
0036für Rinaldo gesteht, oder die G-dur-Arie analogen Inhalts
0037zu Anfang des dritten Actes: wie schwer ist es, in diese lang-
0038sam, wie in weitem Faltenwurfe hinschreitenden Tempi den heftigen
0039Pulsschlag der Leidenschaft zu bringen! Frau Dustmann ist das
0040gelungen. Sie hat die Rolle nicht nur von einem Ende bis
0041zum anderen meisterhaft dargestellt, sondern neue Schönhei-
0042ten derselben enthüllt und die Höhenpunkte der Handlung zu
0043einer Wirkung erhoben, die man früher höchstens als Mög-
0044lichkeit dahinter ahnte. Schon ihre äußere Erscheinung machte
0045den Eindruck des Edlen und Bedeutenden und gewann von
0046allem Anfange die Sympathie des Zuschauers für diesen so
0047seltsam gemischten Charakter. In den stummen Scenen sprach
0048ihr Auge, und selbst in den gewaltsamsten blieb jede Bewe-
0049gung wahr und schön. Die Kritik muß sich oft ungerecht
0050schelten lassen, wenn sie Naturgaben, wie Gesichtsbildung und
0051Temperament, zu Gunsten eines Darstellers gegen andere
0052dankbar hervorhebt. Aber nicht die Kritik, sondern die Natur
0053ist ungerecht, und aus ihren Ungerechtigkeiten windet sich die
0054Kunst ihren blühendsten Kranz. Das halbe Leben der Büh-
0055nenwirkung wurzelt in diesen Ungerechtigkeiten, die andere
0056Hälfte in dem, was sich erlernen läßt. Frau Dustmann ließ
0057auch im Haß und Stolz die großgeartete, liebesbedürftige
0058und liebeglühende Seele Armidens durchleuchten, sie vermied
0059es, aus Armida eine bloße Megäre zu machen und so die
0060Worte des Eingangschors Lügen zu strafen: „Armide est
0061encore plus aimable, quʼelle nʼest redoutable.“ Wie ahnungs-
0062voll, alles Kommende schon blitzartig beleuchtend, klingt ihr
0063Ausruf: „Warʼs nicht Rinaldo?“ im ersten Acte; wie lebens-
0064voll pulsiren Spiel und Vortrag in der großen Scene mit
0065dem schlafenden Rinaldo! Die Scene mit den Furien spielt
0066Frau Dustmann mit viel mäßigerer Action, als ihre Vor-
0067gängerin, dennoch mit unvergleichlich größerer Wirkung. Lange
0068Zeit bleibt sie vor den Dämonen stolz und ruhig stehen, sind
0069es doch dienende Geister, die sie selbst gerufen. Erst als „der
0070Haß“ wirklich Hand an sie legt, sinkt sie erschüttert in die
0071Knie; langsam, nur mit dem Oberkörper, erhebt sie sich aus
0072dieser Stellung nach dem Verschwinden der Furien und singt
0073die Schlußtacte mit einer zwischen Schauder und vorahnender 
0074Seligkeit zitternden Empfindung, deren Wahrheit sich tief in
0075die Seele bohrt. Der Gipfelpunkt ihrer Leistung ist der
0076Schluß des fünften Actes, wo Armida den Fluchtversuch
0077Rinaldoʼs entdeckt und ihn zurückzuhalten sucht. Die
0078erschütterndsten, durch Thränen sich durchkämpfenden Accente
0079verrathener, getäuschter Liebe schlagen hier an unser Ohr,
0080an unser Herz. Mit Einem Wort: die ganze, von Frau
0081Dustmann so schnell übernommene Rolle gestaltete sich zum
0082Meisterstück. Man vergaß vollständig, wie mitunter eine
0083deutlichere Aussprache und imposantere Stimmfülle zu wün-
0084schen blieben, konnte man doch das Eine keinen Augenblick
0085vergessen, daß hier eine echte und große Künstlernatur in
0086einem idealen Kunstwerke begeistert aufging. Diesem Eindruck
0087entsprach vollkommen die Haltung des Publicums, welches
0088Frau Dustmann in enthusiastischer Weise feierte. Von den
0089übrigen Mitwirkenden wurden zunächst Herr Walter und
0090Herr v. Bignio ausgezeichnet.


0091In meinem ersten Berichte über „Armida“ habe ich den Namen
0092des Capellmeisters Esser zu nennen vergessen, welcher die Parti-
0093tur für unsere Bühne vortrefflich eingerichtet, zweckmäßig ge-
0094kürzt und in der Instrumentirung, wo es nothwendig war,
0095verstärkt hat. Die geringste Abänderung einer Gluckʼschen
0096Partitur wird zwar von der Partei der Kunstzeloten
0097ebenso verpönt, wie jegliche Modernisirung der Orchestration
0098von Händel und Bach. Ich halte das Eine wie das Andere
0099für wohlgethan, sobald nur eine weise und maßvolle Künstler-
0100hand es ist, welche den auffrischenden Pinsel über die allzu
0101verblaßten Stellen des Gemäldes führt. Sie scheint uns red-
0102licher für das Interesse des Kunstwerkes thätig, als jene Puri-
0103sten, welche dessen lebendige Wirkung gerne der philologischen
0104Buchstabentreue opfern. Sie möchten ein für uns unzureichend
0105instrumentirtes Tonwerk lieber in der Originalgestalt durch-
0106fallen sehen, als durch bescheidene Nachhilfe zu neuer lebendiger
0107Wirksamkeit erweckt. Berlioz, bekanntlich ein arger Blech-
0108verschwender für seine Person, machte es Spontini zum
0109schweren Vorwurfe, einigen Scenen der „Armida“ Posaunen
0110beigefügt zu haben, und schreckte den eitlen Mann mit der
0111Drohung, die Nachwelt werde einst ebenso mit seinen (Spon[2]-
0112tiniʼs) Partituren umgehen. Das kann man sich gefallen
0113lassen, denn glücklich der Componist, dessen Opern noch in
0114hundert Jahren zu ihrem vollständigen Effecte nichts weiter
0115bedürfen, als einige Posaunen-Accorde! Auch Esser hat die
0116Begleitung des Furienchors im dritten Acte verstärkt, und wer
0117die Scene so gehört, der vermag sich sie kaum mehr
0118zu denken ohne die dröhnende Majestät dieser Po-
0119saunenklänge. Da sind aber die „Kenner“ gleich zur
0120Hand mit ihrer stereotypen Moral, daß Gluck die Posaunen
0121gewiß selbst hingeschrieben hätte, würden sie ihm für die
0122Scene passend erschienen sein; es liege also eine tiefe und
0123weise Absicht des Meisters gerade darin u. s. w. Die Geschichte
0124erklärt uns aber die „weise Absicht“ mit einer sehr prosaischen
0125Thatsache: zur Zeit von Gluckʼs französischem Aufenthalte be-
0126saß nämlich das Pariser Opern-Orchester noch keine Posau-
0127nen. Deßhalb setzte Gluck in seinen für Paris geschriebenen
0128Opern „Armida“ und „Iphigenie in Aulis“ keine Note für
0129die Posaunen, welche doch in seinen Wiener Opern „Orfeo“
0130und „Alceste“ eine wichtige Rolle spielen. Die Posaunen sind
0131erst spät aus den Kirchen, ihrem ursprünglichen Asyl, in die
0132Theater übersiedelt, am spätesten in Frankreich und Italien.
0133Ohne die gleiche historische Bewandtniß bedarf es doch wol
0134ebensowenig einer Entschuldigung, daß Esser der Helden-Arie
0135Rinaldoʼs im zweiten Acte durch Trompeten ein etwas muthi-
0136geres Colorit gab; hat man doch in Paris schon zu
0137Gluckʼs Lebzeiten und ohne ihn zu fragen den Aufruf:
0138„Notre général vous appelle!“ mit Trompetenklän-
0139gen illustrirt, während Gluck die Stelle allzu bescheiden
0140nur für Streich-Instrumente und Pauken gesetzt hatte.


0141Noch eine kleine historische Bemerkung sei uns hier ge-
0142stattet, als ein Beispiel, wie die theoretische Idealisirung eines
0143Meisters oft in Widerspruch geräth mit den geschichtlichen
0144Thatsachen. Während uns nämlich gelehrt wird, Gluck habe
0145die hohe dramatische Wahrheit seiner Musik nur dadurch er-
0146reicht, daß er jede Note genau der bestimmten Situation an-
0147paßte, ja seine Melodie aus dem Tonfall der Verse selbst
0148zog, wissen wir, daß Gluck in die „Armida“ nicht weniger
0149als fünf Musikstücke aus seinen älteren italienischen Opern 
0150herübernahm. Die Ouvertüre zu „Armida“ ist identisch mit
0151jener zu „Telemacco“; aus derselben Oper stammt die Musik
0152zu dem Beschwörungs-Duett Hydraotʼs und Armidaʼs, ferner
0153die Arie des Hasses mit Chor („Amour sors pour jamais“),
0154während der spätere Allegrosatz des „Hasses“ in D-dur der
0155Oper „Paris und Helena“ entnommen ist. Nachdem jene
0156älteren Opern Gluckʼs verschollen sind, ficht uns das wenig
0157an; den Franzosen waren sie zur Zeit der ersten
0158Armida“-Aufführung gänzlich unbekannt, und so
0159konnte Gluck den Vortheil benützen, vergessene Com-
0160positionen, deren Bühnen-Effect bereits erprobt war, in
0161einem größeren Werke wieder zu Ehren zu bringen. Die That-
0162sache schmälert weder das Genie Gluckʼs, noch den Werth der
0163Armida“. Mit Ausnahme der Ouvertüre, die für den „Ar-
0164mida“-Stoff etwas zu kleinlich und unbedeutend ist, passen
0165die erwähnten Musikstücke vortrefflich zu den Scenen in „Ar-
0166mida“, auf welche Gluck sie übertrug. Sie erfüllen die Si-
0167tuation mit bewunderungswürdiger Kraft und Wahrheit, so
0168daß Niemand, dem ihre fremde Herkunft unbekannt ist, die-
0169selbe aus dem Eindrucke des Ganzen vermuthen würde. Und
0170das istʼs allein, worauf es ankommt. Gluck war in Wirk-
0171lichkeit durchaus nicht der idealistische Schwärmer, den die
0172Musik-Historiker gerne aus ihm machen; er war ein sehr
0173praktischer Componist, der sein Publicum kannte, auf den
0174Zeit- und Nationalgeschmack achtete und selbst starke Recla-
0175men nicht verschmähte. Er hat es nicht nöthig, daß man
0176um seinen Lorbeerkranz, auch noch einen Heiligenschein aus-
0177breite.