Wörter einzeln suchen

Neue Freie Presse
Morgenblatt
Nr. 1896. Wien, Mittwoch, den 8. December 1869

[1]

Concerte.


0002Ed. H. Wenn in einigen tausend Jahren ein neuer Karl
0003Vogt die Ueberreste und „Küchenabfälle“ unserer Zeit durch-
0004forschen wird, so dürfte er zwar nicht mehr auf entmarkte
0005Menschenknochen, wol aber auf andere Zeichen einer moder-
0006neren Grausamkeit in Gestalt zahlloser verkohlter oder ver-
0007steinerter Papierkarten stoßen, welche die Wissenschaft sofort
0008als „Concertbillette“ bestimmen wird. In der That gewinnen
0009diese, unseren Urahnen noch unbekannten, jetzt desto schwung-
0010hafter fabricirten Bildungsmittel bereits den gefährlichen Cha-
0011rakter von Angriffswaffen.


0012Einige Ausnahmen wohlthätiger Art sind bekannt, dazu
0013gehören vor Allem die „Philharmonischen Concerte“. Sie
0014brachten in ihrer jüngsten Production drei wohlbekannte, stets
0015gern gehörte Orchesterwerke in feiner Ausführung: Schu-
0016mannʼs
Ouvertüre, Scherzo und Finale“, Mendels-
0017sohnʼs
Hebriden“, endlich Mozarts G-moll-Symphonie.
0018Dazwischen machten wir die Bekanntschaft einer neuen Concert-
0019Composition und eines neuen Violinvirtuosen. Der Autor
0020des Concertes ist Max Bruch, der Virtuose Wilhelm
0021Besekirsky
, ein junger Pole, der in norddeutschen Städten
0022sehr gefallen haben soll. Hier, im Philharmonischen Concert,
0023vermochte er nicht den gleichen Erfolg zu erringen. Wir
0024haben Bruchʼs Concert und Besekirskyʼs Spiel beide „un-
0025ter Einem“ zum erstenmal gehört und möchten nicht
0026vorschnell entscheiden, inwieweit etwa eines durch das
0027andere beeinträchtigt worden sei. Musiker, welche das
0028Concert von anerkannten Meistern spielen gehört,
0029rühmen demselben eine weit größere Wirkung nach, als es
0030hier erzielte, während wieder nähere Bekannte Besekirskyʼs ver-
0031sichern, daß sein Spiel in anderen, ihm sympathischeren Auf-
0032gaben sich ungleich vortheilhafter producire. Kein Zweifel,
0033daß Bruchʼs Concert unter den Fingern Joachimʼs (dem es
0034gewidmet ist) bedeutender klingen wird, hat es doch offenbar
0035einen Geiger von großem Ton und glänzender Bravour im
0036Auge. Herr Besekirsky vermochte unter dem Drucke sichtlicher
0037Befangenheit und Unruhe weder der einen, noch der anderen
0038Forderung ganz zu genügen. Herr Besekirsky veranstaltet
0039demnächst ein eigenes Concert, hoffentlich wird er da sein 
0040Spiel mehr in der Gewalt haben und dem ihm vorange-
0041gangenen guten Rufe entsprechen. Bruchʼs G-moll-Concert 
0042besitzt die vornehme Haltung, das geistreiche Detail, die ge-
0043schickte, namentlich in der Instrumentirung vortreffliche Mache,
0044welche alle größeren Werke dieses fruchtbaren Componisten
0045auszeichnen. Unmittelbar ergreifende Gewalt übt es nicht,
0046denn es fehlt die schöpferische Fülle und Ursprünglichkeit, die
0047Genialität. Der Hörer folgt aufmerksam der achtbaren, ge-
0048wandten Composition und bleibt kühl dabei. Am besten gefiel
0049uns das männlich auftretende „Vorspiel“ und das sich unmittel-
0050bar anschließende Es-dur-Adagio. Das Finale hingegen trägt
0051ein banales Thema und sucht durch Häufung virtuoser Schwie-
0052rigkeiten den Mangel an Feuer und innerem Leben zu ver-
0053decken.


0054Ungleich größeren Erfolg als Herr Besekirsky hatte der
0055Violinspieler Herr Ludwig Straus, welcher ein zwar schwach
0056besuchtes, aber von enthusiastischem Beifall gekröntes Concert
0057im Musikvereinssaal gab. Er entfaltete im Vortrage verschie-
0058dener Compositionen von Händel, Bach, Schubert und Molique 
0059eine glänzende, vollständig reine und sichere Technik, die in
0060dem schönsten Triller, den man hören kann, culminirt. Sein
0061verständiger, eleganter Vortrag entbehrt zwar des hinreißen-
0062den Feuers, wie sein wohlklingender Ton der Größe und
0063Majestät, nichtsdestoweniger läßt Herr Straus den Eindruck
0064eines technisch hochhausgebildeten und bewunderungswürdig abge-
0065schliffenen Geigers zurück. Herr Epstein unterstützte ihn vor-
0066trefflich in dem Schubertʼschen H-moll-Rondo.


0067Neben den Productionen dieser zwei Sologeiger rollen
0068sich die Cyklen unserer beiden Quartettvereine erfolgreich ab.
0069Jean Beckerʼs „Florentiner Quartett“ kann mit jeder Pro-
0070duction einen zahlreicheren Besuch und begeisterteren Applaus
0071registriren. Wir müßten längst Gesagtes wiederholen, wollten
0072wir den Beckerʼschen Quartettverein, dieses Ideal musikali-
0073schen Zusammenspieles, neuerdings besprechen. Ein Curio-
0074sum war das Programm der letzten Florentiner Soirée:
0075drei Quartette von Schubert hinter einander: So schön
0076jedes einzelne gedichtet ist und vorgetragen ward, wir finden
0077diese Anhäufung dreier Streichquartette desselben Meisters
0078nicht glücklich, eines Meisters zumal, dessen Quartette unter
0079sich keineswegs jene Welt von Unterschieden und Gegensätzen
0080wie die Beethovenʼschen aufweisen, sondern in viel begrenzte-
0081rem, homogenerem Ideenkreise sich bewegen. Ein besonderer 
0082Gedenktag hätte wenigstens äußerlich diese Schubert-Exclusivi-
0083tät erklärt, aber weder der Tag noch selbst der Monat von
0084Schubertʼs Geburt (31. Januar 1797) oder Tod (19. No-
0085vember 1828) fiel mit der Beckerʼschen Production zusam-
0086men. — Herrn Hellmesberger möchten wir dringend
0087empfehlen, endlich einmal der unbequemen Nachmittags-
0088stunde zu entsagen, welche so vielen Musikfreun-
0089den den Besuch seiner Quartette erschwert oder ver-
0090eitelt. In früheren Jahren, wo kein solcher Zusammenfluß
0091guter Concertmusik wie jetzt herrschte und die Concurrenz
0092mit den Theatern für Concertgeber noch gewagt erschien, war
0093gegen diese Fünf-Uhr-Quartette weniger einzuwenden. Gegen-
0094wärtig aber, wo regelmäßig jeden Sonntag Mittag große
0095Orchester-Concerte so ausgiebige musikalische Nahrung bieten,
0096daß den Quartettbesuchern kaum Zeit bleibt für die leibliche
0097(das Sonntagsconcert der „Sing-Akademie“ währte bis gegen
00983 Uhr), ist es ebenso unbequem als unpraktisch, für Quartette
0099gerade die Sonntag-Nachmittage zu wählen. Wenn es Herrn
0100Concertmeister Grün, welcher im Operntheater dieselben
0101Verpflichtungen hat, gestattet ist, Quartette zur Theaterzeit
0102abzuhalten, so wird es Herrn Hellmesberger gewiß auch nicht
0103verwehrt werden. Die letzten Hellmesbergerʼschen Produc-
0104tionen haben die werthvolle an dem Cellisten Popper ge-
0105machte Acquisition, sowie das schöne Talent des Pianisten
0106Anton Door ins beste Licht gestellt. Herrn Doorʼs Vortrag
0107des Beethovenʼschen >Es-dur-Trios errang stürmischen Beifall.


0108Am Samstag Abend öffnete sich der unter dem Namen
0109„Kleiner Redoutensaal“ bekannte Eiskeller auf dem Josephs-
0110platze, um einer Anzahl abgehärteter Musikfreunde nebst gich-
0111tischen und rheumatischen Ueberraschungen auch ein Clavier-
0112Concert zu credenzen. Fräulein Hermine Stadler war die
0113Concertgeberin. Wir haben die anmuthige junge Pianistin
0114schon vor mehreren Jahren nicht allzu schwere Compositionen
0115recht hübsch vortragen gehört. Leider wählte sie diesmal das
0116Allerschwierigste: Chopinʼs E-moll-Concert. Fräulein Stadler 
0117hatte mit der nothdürftigen Bewältigung der technischen Auf-
0118gabe so vollauf zu thun, daß an eine freie, poetische Besee-
0119lung des Inhaltes gar nicht zu denken war. Auch den
0120Davidsbündler-Tänzen“, von Schumann, zeigte sich Fräulein
0121Stadler weder technisch noch geistig gewachsen. Es gehört gewiß
0122schon eine bedeutende Kraft und Fertigkeit dazu, um
0123solche Stücke überhaupt ohne Anstoß durchzuführen; aber wer [2]
0124in Wien als Concertgeber auftritt, muß auf höhere Anforde-
0125rungen gefaßt sein. Man kann uns nicht zumuthen, diese
0126gerechten Ansprüche herabstimmen zu helfen, so gerne wir den
0127großen Fleiß und das für kleinere Aufgaben ausreichende Ta-
0128lent Fräulein Stadlerʼs anerkennen und aufmuntern. Als
0129Schlußnummer spielte Fräulein Stadler eine „Zweite Concert-
0130Polonaise“ von Herrn Hermann Starcke, den uns der
0131Anschlagzettel als (was?) „von der kaiserlichen Akademie der
0132Musik zu Paris“ vorstellt. Wir wollen über diesen unglück-
0133lichen Compositions-Versuch den Mantel christlicher Barmherzig-
0134keit breiten, ein Kleidungsstück, das freilich Herr Starcke 
0135selbst in seinen scharfrichterlichen Correspondenzen über Wiener
0136Musik und Musikzustände nicht zu kennen scheint.


0137Für das Concert der „Sing-Akademie“ im großen
0138Redoutensaale waren durch geraume Zeit hochgespannte Er-
0139wartungen rege gemacht worden, welchen das Gebotene nicht
0140ganz entsprach. Die Anstrengung, welche die Vorstände der
0141„Sing-Akademie“ aufbieten, um dieses seit mehreren Jahren
0142daniederliegende Institut zu seiner ehemaligen künstlerischen
0143Höhe wieder emporzuheben, verdient aufrichtige Anerkennung.
0144Wir glauben auch, daß Wien Raum und Theilnahme für zwei 
0145ebenbürtige gemischte Chorvereine besitzt und daß neben dem
0146trefflichen „Singverein der Gesellschaft der Musikfreunde“ ein
0147zweites ähnliches Institut noch hinreichende Aufgaben für sein
0148würdiges Streben finden könnte. Aber mit Leistungen, welche
0149so oft den guten Willen für die vollwichtige That anbieten,
0150wie das Sonntagsconcert der „Sing-Akademie“, gewinnt man
0151doch nur ein sehr bedingtes Lob nachsichtiger Hörer. Selbst
0152die leichteste Aufgabe aus dem ganzen Programm, das schlichte
0153Weihnachtslied“ des alten Prätorius, verrieth den großen
0154Abstand zwischen den Leistungen der „Sing-Akademie“ und
0155des Singvereins. Es fehlt der dermaligen „Sing-Akademie“
0156an einer hinreichenden Zahl schöner, jugendlicher Stimmen,
0157wie an der Sauberkeit und feinen Schattirung des Vortrages.
0158Gegen eine starke Orchestrirung wie die Lachnerʼsche (zu
0159Schubertʼs „Mirjam“) erscheint nicht einmal die materielle
0160Tonstärke dieses Chors ausreichend. Stücke wie Händelʼs „Acis und
0161Galathea“ und die „Liebeslieder“ von Brahms soll man gar nicht
0162aufführen, wenn man nur einen Solotenor von so erbar-
0163mungswürdig kranker Stimme besitzt, wie der der „Sing-
0164Akademie“. Die als Gäste beigezogenen Mitglieder des Hof-
0165operntheaters waren allerdings die Perlen der Production, 
0166unglücklicherweise war aber Frau Dustmann (Galathea)
0167schlecht disponirt und sang mit großer Anstrengung, während
0168Herr Emil Kraus als Polyphem zwar eine schöne Stimme,
0169aber mangelhafte Kunst entfaltete. Mit der Direction des
0170Herrn Weinwurm konnte man nicht immer einverstanden
0171sein; es fehlte an der durchsichtigen Klarheit der Chormassen,
0172an Licht und Schatten. In stürmischen Partien, wie das
0173Schlachtbild in Schubertʼs „Mirjam“, hatte man mitunter den
0174Eindruck eines gelinden Durcheinander. Im Tempo war die
0175Einleitungsmusik zu „Galathea“, das Liebesduett „Happy
0176happy“ und Anderes unbegreiflich überstürzt, zum schweren
0177Nachtheil der Deutlichkeit wie des Charakters der Composition.
0178Hingegen wurde Damonʼs Arie in G-dur mit einer Schwer-
0179fälligkeit hingeschleppt, als wollte sie kein Ende nehmen. Dem
0180Programm nach war das Concert durchwegs interes-
0181sant, aber von ermüdend langer Dauer. Die beiden
0182anziehendsten Nummern, eine modernste und eine classische,
0183der Zeit nach 150 Jahre von einander entfernt, waren
0184von Johannes Brahms und von Händel. Brahmsʼ
0185Liebeslieder“ (Op. 52) sind auf dem Titelblatt bezeichnet als
0186„Walzer für das Pianoforte zu vier Händen und Gesang ad
0187libitum“. Dieses „ad libitum“ dürfte mehr den Anschauun-
0188gen des Verlegers als des Componisten entsprungen sein, denn
0189wenn sich auch die Walzerbegleitung ohne den Gesang spielen
0190und recht gut anhören läßt, seinen Reiz und seine Bedeutung
0191gewinnt das Werk erst durch den Hinzutritt der Singstimmen.
0192Es sind achtzehn, meist kurze Liebesgedichte aus Daumerʼs
0193Polydora“, welche vom Soloquartett gesungen und von der
0194Walzerbegleitung getragen werden. Die melodische Erfindung
0195(manchmal an volksthümlich Oesterreichisches anklingend) ist
0196charaktervoll, frisch und anmuthig, einige Sonderbarkeiten in
0197der Harmonie nimmt man von Brahms gerne hin, sie stehen
0198ihm echt und natürlich. In die Anordnung des etwas
0199langen Cyklus (wir hörten von der „Sing-Akademie“ nur
0200die Hälfte der Nummern) wußte der Componist recht
0201viel Wechsel und charakteristische Abstufung zu bringen.
0202Einmal intoniren Tenor und Baß eine Strophe, Sopran
0203und Alt antworten darauf, dann wieder umgekehrt, meistens
0204vereinigen sich alle vier Stimmen, manchmal nur zwei, ein-
0205mal, wo es der Text verlangt, singt der Sopran ein Lied
0206allein. Ueberall geht eine feine Text-Empfindung mit geist-
0207reicher musikalischer Gestaltung Hand in Hand. Die „Liebes-
0208lieder“ von Brahms dürften bald in Sängerkreisen so beliebt
0209werden, wie die ihnen verwandten, 1866 erschienenen reizen-
0210den „Walzer zu vier Händen“. Im großen Redoutensaal (wo-
0211hin die Composition nicht recht paßt) wurden mehrere Num-
0212mern der „Liebeslieder“ zur Wiederholung begehrt. Die „Sing-
0213Akademie“ beschloß ihr Concert mit Händelʼs Schäferspiel
0214Acis und Galathea“. Von Händelʼs weltlichen Compositionen
0215(zunächst zärtlichen Inhalts), welche man im Großen und
0216Ganzen allerdings nicht seinen geistlichen gleichstellen kann, ist
0217Galathea“ eine der schönsten. Sie gehört zu jener Reihe
0218weltlicher Cantaten, welche (wie „Esther“, „Athalia“ „De-
0219borah“, „Herakles“) der Oper näher stehen, als dem Ora-
0220torium. In England hat die Praxis diese Tondichtung sogar
0221vollständig der Bühne vindicirt; sie wurde (zuletzt 1842) von
0222Macready im Drurylane-Theater als Oper aufgeführt, neuer-
0223dings (1869) im Princess-Theater, mit Formes als „Po-
0224lyphem“.


0225Zwei der hervorragendsten Nummern (die Arie Poly-
0226phemʼs: „O ruddier than the cherry“ und Galatheaʼs soge-
0227nannte „Tauben-Arie“) sind bereits in unserem Concert-Re-
0228pertoire eingebürgert. Andere Musikstücke aus dem Schäfer-
0229spiel stehen an echt Händelʼscher Kraft und Frische den ge-
0230nannten nicht nach. Es steckt in der ganzen Composition ein
0231unverwüstlicher Kern gesunder Musik, über welchem wir die
0232mitunter veraltete Schale (die stereotype Arienform, die Ge-
0233sang-Solfeggien, die langen Orchester-Ritornells) leicht vergessen.
0234An diesem tüchtigen musikalischen Kern wird sich Jedermann
0235laben, der ihn unbefangen genießt; enttäuscht kann sich höch-
0236stens fühlen, wer sich durch die Lectüre von Gervinusʼ
0237Händel-Vergötterung vorbereitet hat und nun in der Figur
0238des verliebten Schäfers Acis das einzig ebenbürtige musika-
0239lische Seitenstück zu ShakspeareʼsRomeo“ zu finden
0240erwartet.