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Neue Freie Presse
Morgenblatt
Nr 1903. Wien, Mittwoch, den 15. December 1869

[1]

Musik.

(Concerte. — „Figaroʼs Hochzeit.“ — „Der Prophet.“ — Ein Wort an Herrn Chrysander.)


0004Ed. H. Es ist wol ein seltsames Vorkommniß, wenn
0005man nach mehr als 20jährigem Aufenthalt in Wien eine
0006Beethovenʼsche Composition zum erstenmale zu hören bekommt,
0007eine sehr interessante obendrein: die Serenade op. 8 für Vio-
0008line, Viola und Cello. Sie gehört zu jener anspruchslosen
0009Gattung, welche, erblüht aus dem gemüthvollen Grunde
0010eines früheren Kunst- und Gesellschaftslebens, von Haydn und
0011Mozart so fleißig cultivirt wurde. Die Serenade, 1797 
0012erschienen, datirt wol in ihrer ersten Conception noch weiter
0013zurück. Denn von Beethovenʼs eigenem Seelenleben, das
0014seine späteren Compositionen so überzeugend durchströmt, er-
0015zählt uns diese gefällig spielende Musik so gut wie nichts.
0016Mehrere von den sechs Sätzen sind von geringem Gehalt und
0017veralteter Ausdrucksweise, das erste Allegro „alla marcia“
0018geradezu haarbeutelig. Allerliebst ist dafür die Polonaise, ein
0019ehemals überaus beliebtes und für die verschiedensten Instru-
0020mente arrangirtes Stück. Ferner das Adagio in D-moll,
0021welches man sogar durch Unterlegung von Liedertexten sing-
0022bar gemacht hat. Von besonderem Interesse ist, wie der
0023directe Zusammenhang, ja das Herauswachsen Beethovenʼs
0024aus Haydn sich in dieser Serenade manifestirt und die stufen-
0025weise, organische Entwicklung dieser später so eigenartig sich
0026gestaltenden, gigantischen Individualität nachweist. Sodann
0027fällt die vollkommene Formbeherrschung und technische Mei-
0028sterschaft auf, über welche der junge Beethoven bereits in
0029seinen ersten Compositionen verfügte. Sein Opus 1 ist schon
0030das Werk eines Mannes, von Jugendwerken im gewöhnlichen
0031Sinne kann man bei Beethoven gar nicht sprechen. Beetho-
0032ven schrieb noch eine zweite Serenade ähnlichen Styls (op. 25 
0033für Flöte, Violine und Bratsche); zum vollgiltigen Meister-
0034stück hat er die Form der Serenaden oder Cassationen in
0035seinem köstlichen Septett gestaltet. Soll ein theilweise ver-
0036altetes, dem Namen seines Autors wenig entsprechendes Stück,
0037wie Beethovenʼs D-dur-Serenade, heutzutage noch besonderen
0038Erfolg haben, so muß es so unvergleichlich gespielt werden,
0039wie von Jean Beckerʼs „Florentiner Verein“. Hier paßt
0040wahrhaftig das Goethe-Citat: „Der Vortrag macht des
0041Redners Glück.“


0042Ein schrofferer Gegensatz zu dem sonnenklaren, behagli-
0043chen Trio von Beethoven läßt sich kaum denken, als das
0044darauf gespielte F-moll-Quartett von Rob. Volkmann.
0045Wir haben allen Respect und auch einiges Vergnügen an
0046den geistreichen Einfällen und Combinationen des Scherzo
0047und Adagio, allein das Ganze ist denn doch zu steril und
0048unerquicklich. Der erste Satz zumal, eine Uebertragung von
0049Schopenhauerʼs Pessimismus ins Musikalische, befremdet durch
0050seine gesuchte Unklarheit und wilden Wolfsschlucht-Scenen
0051für vier Geigen. „Sie müssen sich ganzes Orchester dazu
0052denken!“ meinte ein Musikfreund von der äußersten Linken.
0053Das hat wahrscheinlich auch der geschätzte Componist sich
0054dazu gedacht, aber nicht dazu geschrieben. Wir plaidiren jedoch
0055für die vollkommene Freiheit, nur dasjenige zu denken, was
0056man uns wirklich zu hören gibt. Das E-moll-Quartett von
0057Mendelssohn beschloß den Abend. Geistreicher und tiefer
0058als das Beethovenʼsche Ständchen, klarer und melodiöser
0059als Volkmannʼs Quartett (auch eine Nachtmusik in anderem
0060Sinne), erschien uns Mendelssohnʼs Tondichtung wie die rechte
0061goldene Mittelstraße zwischen beiden.


0062Noch einmal in dieser Woche trat uns die ehrwürdige
0063Gestalt der alten sechssätzigen Serenade entgegen, diesmal in
0064modern vertiefter Auffassung und reichem Gewande:
0065Brahmsʼ D-dur-Serenade für Orchester. Diese bereits vor 
0066einigen Jahren aufgeführte und damals ausführlich bespro-
0067chene Composition wurde Sonntags im „Philharmonischen
0068Concert“ mit musterhafter Feinheit vorgetragen. Das Publi-
0069cum begrüßte beifällig den Componisten (welcher selbst diri-
0070girte) und applaudirte auf das lebhafteste den Menuet.
0071Diese Nummer war uns stets die liebste, ein kleines Cabi-
0072netsstück, in welchem süße Melodie, klare Anordnung und
0073geistvolles, nirgends überwucherndes Detail sich zu dem rei-
0074zendsten Stimmungsbild einer Garten-Serenade verbinden.
0075Diesem Satze zunächst, welcher so rund, so vollständig aus-
0076spricht, was er will, steht uns das Adagio. Ein bischen lang
0077spricht der Componist darin, aber nichts Alltägliches oder
0078Unbedeutendes. Einen so langen Athem der Erfindung im
0079Adagio hat von den lebenden Componisten kaum ein zweiter.
0080Durch diese Eigenschaft erinnert das Stück an Beethoven,
0081was freilich auch im Verlaufe der Serenade mitunter durch
0082allzu directe Anklänge geschieht. Die übrigen vier Sätze ent-
0083halten gleichfalls viel des Schönen und Eigenthümlichen, doch
0084kommen sie nicht zur reinen, vollen Wirkung; es steckt etwas
0085von der Hamlet-Natur darin, die vor dem letzten entscheidenden
0086Schritte grübelnd zurückweicht.


0087Der Violin-Virtuose Herr Besekirsky gab ein Con-
0088cert, das ihm reichlichen Beifall eintrug, insbesondere nach
0089dem brillant ausgeführten „Teufelstriller“ von Tartini. Kraft
0090und Fülle können wir seinem Spiel nicht nachrühmen, und
0091was noch schlimmer ist, auch nicht Reinheit der Intonation.
0092Herr Besekirsky verfügt über eine nicht gewöhnliche Geläufig-
0093keit; dem Hörer nützt aber auch das geläufigst Vorgetragene
0094wenig, wenn es nicht zugleich rein vorgetragen ist. Wir wissen
0095recht gut, daß an Concertbesuchern zunächst die Hände ge-
0096schätzt werden, zahlende und klatschende — aber so ganz igno-
0097riren darf man die Ohren doch auch nicht. Das dreisätzige
0098Concerto“ von Herrn Besekirskyʼs Composition verräth eine ge-
0099schickte Hand, bei geringer Erfindungskraft. Während die beiden [2]
0100ersten Sätze in Mendelssohnʼschem Fahrwasser treiben,
0101geht das Finale mit seinem brillanten Salonthema und seinen
0102mehr kühnen als geschmackvollen Akrobatensprüngen zu fran-
0103zösischen Mustern über.


0104Herr Ignaz Brüll spielte in Besekirskyʼs Concert die
0105Symphonischen Etuden“, eine der genialsten Clavier-Com-
0106positionen Schumannʼs und eine der allerschwierigsten dazu.
0107Der Vortrag zeugte von großer, nur allzu subjectiver Hin-
0108gebung; das Meiste klang unklar und verworren, obendrein
0109nachhaltend durch unausgesetzten Pedalgebrauch. Mit sehr viel
0110Klarheit und sehr wenig Pedal hörten wir dagegen Schu-
0111mannʼsche Clavierstücke am folgenden Abend spielen, von nie-
0112mand Geringerem als Clara Schumann selbst. Das
0113erste Concert der in Wien so aufrichtig und unwandelbar ver-
0114ehrten Künstlerin versammelte eine zahlreiche dankbare Hörer-
0115schaft. Neues oder selten Vernommenes hat uns Frau Schu-
0116mann diesmal nicht vorgeführt, aber wer hörte in so treff-
0117licher Ausführung nicht immer wieder mit Freude Schumannʼs
0118F-dur-Trio und „Waldscenen“, Beethovenʼs 32 Variationen,
0119Chopinʼs Andante und Mendelssohnʼs E-moll-Scherzo? Zwei
0120Hamburger Sängerinnen, Fräulein Thoma und Meta Börs
0121beginnen in unseren Concertsälen etwas allzu häufig zu werden;
0122unbedeutende, reizlose Stimmen, ganz unverständliche Aussprache
0123und ein übermäßig gefühlvoller Vortrag charakterisiren den
0124Gesang der beiden Blondinen.


0125Erwähnen wir noch der Abendunterhaltung des tüchtig
0126geschulten Geigers Herrn Wilhelm Junck und des zweiten,
0127beifällig aufgenommenen Concertes der Pianistin Fräulein
0128Jeannette Stern, welche von einem hoffnungsvollen jungen
0129Violinspieler, Mosco dʼIsraeli, unterstützt wurde, so dürfte
0130der Concert-Einlauf der letzten Woche erledigt sein.


0131Inzwischen haben das alte wie das neue Opernhaus
0132durch eine interessante Vorstellung zahlreiche Hörer angelockt.
0133Im alten Theater erlebte Mozartʼs „Hochzeit des Figaro“ 
0134eine vorstreffliche Aufführung, auf die Herr Hofcapellmeister
0135Herbeck viel Sorgfalt verwendet hatte. Fürs erste reinigte er
0136den Vortrag von allen nicht in der Partitur stehenden Ca-
0137denzen, Trillern und Verzierungen, deren größter Theil sich
0138durch langjährige Tradition geradezu festgenistet hatte, wie
0139z. B. in der Pagen-Romanze, dem Dictir-Duett und Anderem.
0140Damit hat Herbeck nicht blos „Figaroʼs Hochzeit“ einen
0141wahren Dienst erwiesen, sondern einen hoffentlich folgen-
0142reichen Vorgang für ähnliche Fälle geschaffen. Wie oft schon
0143fragten wir vergebens, ob es denn durchaus nicht in der
0144Macht des Capellmeisters liege, den Sängern willkürliche
0145Verzierungen oder Verunzierungen zu untersagen? Die Frage
0146ist durch Herbeck vorläufig gelöst, und er hat nicht blos Recht
0147geübt für Mozart, sondern auch Recht behalten beim Publi-
0148cum, welches seine Lieblingsstücke in ihrer Originalgestalt jetzt
0149ebenso lebhaft applaudirt, wie früher in ihrem ungebührlichen
0150Aufputz. Ferner wußte Herr Herbeck auch durch positive Be-
0151reicherungen der Oper neues Interesse zu verleihen. Drei
0152seit Menschengedenken gestrichene Musikstücke wurden nämlich
0153wieder aufgenommen: die Arie Bartoloʼs: „La vendetta“,
0154das kleine Duett Nr. 14 in G-dur zwischen Susanne und
0155Cherubin, endlich Basilioʼs Buffo-Arie von der Eselshaut.
0156Das Orchester accompagnirte mit rühmenswerther Feinheit
0157und Discretion; von den Tempi schienen uns einige, wie
0158aus absichtlicher Opposition gegen das Gewohnte, allzu lang-
0159sam genommen. Die Leistungen von Fräulein Ehnn (Page),
0160Frau Dustmann (Susanne), Herrn Beck (Almaviva) und
0161Herrn Mayerhofer (Figaro) sind längst nach Gebühr an-
0162erkannt. Die Gräfin wurde von einer die Bühne zum ersten-
0163mal betretenden jungen Sängerin, Fräulein Anna Bosse,
0164dargestellt. Anfangs höchst beklommen, regungslos wie unter
0165einem Damoklesschwert, fand Fräulein Bosse erst allmälig die
0166nöthige Fassung und führte die Rolle mit steigendem Erfolg
0167zu Ende. Ihre Stimme, ein schöner, weicher Mezzo-Sopran
0168von seltener Fülle und Egalität, gewann bald die Sympathien
0169des Publicums; der schlichte, nirgends auf kokette Pointen
0170abzielende Vortrag erfreute uns nicht minder. Die Aussprache
0171ist deutlich im Gesang, correct in der Prosa; ein so langes,
0172wohlverbundenes Portamento endlich gehört fast schon zu den
0173Seltenheiten. Hin und wieder glaubten wir an Fräulein
0174Bosse einige Neigung zum Phlegma und ein nicht hinreichend
0175scharfes rhythmisches Gefühl zu bemerken — die Zukunft muß
0176lehren, ob wir uns getäuscht haben. Jedenfalls war die
0177Leistung für ein erstes Debut überraschend gelungen, und
0178Fräulein Bosse kann unter aufmerksamer Anleitung eine
0179Zierde unserer Bühne werden.


0180Kein so günstiger Stern leuchtete dem „Propheten
0181von Meyerbeer bei seinem Einzuge ins neue Opernhaus. Eine
0182Verbesserung der Vorstellung fanden wir nur in den von
0183Gaul mit eminenter historischer Treue gezeichneten Costümen,
0184in der trefflichen Gruppenanordnung des vierten und fünften
0185Finales, endlich in dem wirksameren Eingreifen der Chöre.
0186Die Decorationen des Herrn Grünfeld kann man nicht an-
0187ders als mittelmäßig nennen, sein Dom insbesondere ist von
0188abschreckend prosaischer Kahlheit. Von den Hauptdarstellern
0189erschienen uns Herr Schmid als Oberthal und Fräulein
0190Rabatinsky als Bertha besonders lobenswerth. Die Uebri-
0191gen leisteten, was in ihren Kräften liegt, aber diese Kräfte
0192waren der Aufgabe nicht immer gewachsen. Herrn Adamsʼ
0193Johann von Leyden ist als eine Figur von edler Haltung
0194und sorgfältigster, geschmackvoller Ausführung bekannt; die
0195Ausbrüche heroischer Kraft, überhaupt alle packenden Effecte
0196versagen ihm leider. Einige Stufen tiefer steht die Fides
0197des Fräulein Gindele. Den exorbitanten Anforderungen der
0198Rolle vermag diese Sängerin weder in der höchsten, noch in
0199der tiefsten Stimmregion zu genügen, überdies fehlt ihrem
0200verständigen, gewandten Spiel die innere Erregung und damit
0201die überzeugende Kraft. Fräulein Gindele ist ganz vortreff[3]-
0202lich in kleineren Rollen von heiterer Färbung (Nancy, Lady
0203Kockburn etc.) — aber welche Sängerin hält nicht das hoch-
0204tragische Fach für ihren eigentlichen Beruf! Fräulein Gin-
0205dele und Herr Adams wurden übrigens allein und mit Fräu-
0206lein Rabatinsky gerufen. Die ganze Oper ging unter Herrn
0207Dessoffʼs Leitung präciser zusammen, als unter ihrem früh-
0208heren Dirigenten.


0209Zum Schlusse gestatte mir der geneigte Leser noch ein
0210Wort in eigener Angelegenheit, und zwar gegen den Heraus-
0211geber der Leipziger Allgemeinen Musikzeitung, Friedrich Chry-
0212sander
. Dieser Herr unterhält sich in jüngster Zeit damit,
0213bei jedem oder auch ohne jeden Anlaß seinen Witz an mir
0214zu üben. Ich selbst habe Herrn Chrysander nie mit einem
0215Worte beleidigt und hege für seine gründlichen Händel-Forschun-
0216gen die größte Achtung, allerdings bei sehr mäßigem Vertrauen
0217in sein musikalisch-ästhetisches Urtheil. In der letzten Num-
0218mer seiner Musikzeitung wüthet Herr Chrysander gegen eine
0219Stelle meines „Armida“-Referates, worin die Bemühung
0220Esserʼs um die zweckmäßige Kürzung und instrumentale Ver-
0221stärkung der Partitur ein Verdienst genannt wird, im Gegen-
0222satze zu jener Partei von Kunstzeloten, welche jegliche Moder-
0223nisirung einer classischen Partitur verpönen. Beispielsweise
0224erwähnte ich Berliozʼ Tadel gegen Spontini. Nun fährt
0225Herr Chrysander, von welchem in dem ganzen Aufsatze nicht
0226die Rede war, entrüstet auf und versichert, daß er keineswegs
0227zu jenen Pedanten gehöre! Nach Art kleinstädtisch eingebilde-
0228ter Leute, welche glauben, es werde überall nur an sie ge-
0229dacht und von ihnen gesprochen, setzt sich Herr Chrysander in
0230Positur und erzählt ausführlich, wie er bei der Direc-
0231tion Händelʼscher und Bachʼscher Oratorien vorgehe, wor-
0232aus man wenigstens den bisher unbekannt gebliebe-
0233nen Ruhm Herrn Chrysanderʼs als Concert-Dirigent
0234erfährt. Er versichert ferner, daß meine Schilderung von
0235Kunstzeloten und Puristen weder auf ihn, noch auf irgend
0236einen seiner Bekannten passe, ja daß es „gänzlich unmöglich 
0237sei, zu errathen, wo in der Welt denn wol eine ganze Partei
0238davon stecken möge“. Trotzdem zeiht er mich einige Zeilen spä-
0239ter der „Verleumdung“ und „Unbesonnenheit“ (ich adressire
0240hiemit beides an ihn zurück), weil ich gegen die Engherzigkeit
0241solcher Leute mich aussprach. Wenn es aber nach Herrn
0242Chrysanderʼs Ueberzeugung in Wirklichkeit gar keine „Kunst-
0243zeloten“, also kein Object der Verleumdung gibt, worin be-
0244steht dann die Verleumdung? Wenn Herr Chrysander sich
0245gegen die Pedanterie „philosophischer Buchstabentreue“ er-
0246klärt, wie ich, so ist er ja im Wesentlichen mit mir einver-
0247standen und hat keinen Grund, eine mit höhnischen Ausfällen
0248auf „officielle Vertreter der Musikwissenschaft“ und „weise,
0249maßvolle Hofcapellmeister“ gewürzte Strafpredigt von unar-
0250tigstem Ton loszulassen. Ich würde auf einen so unmotivirt
0251gehässigen Angriff gar nicht antworten, wenn er ein erster
0252oder vereinzelter wäre. Aber Herr Chrysander glaubt die
0253Stellung eines musikalischen General-Profoßen für Deutsch-
0254land einzunehmen und von der Höhe seines Hamburger Landsitzes
0255vor Allem die Wiener Musikverhältnisse und Institute
0256„abstrafen“ zu müssen. In jenem Tone hochmüthiger Un-
0257fehlbarkeit, an welchem man Herrn Chrysander unter tausend
0258Schriftstellern herauskennt, macht er sich nach einander über
0259Herrn Herbeck, die verschiedenen Musik-Institute Wiens, die
0260Musik-Kritiker des „Fremdenblatt“ und der „Neuen Freien Presse“
0261her, um schließlich unser ganzes Wiener Musikwesen mit dem
0262geschmackvollen Citate zu entlassen: „O Hund, o Hund, du
0263bist nicht gesund!“ Hofcapellmeister Herbeck hat sich be-
0264reits in einer geharnischten „Entgegnung“ gegen Herrn Chry-
0265sander gewehrt und demselben verleumderische Entstellungen
0266nachgewiesen; Herr Schelle ist mit einer wohlverdienten
0267derben Lection für Herrn Chrysander nachgefolgt. Wenn ich
0268selbst bis heute mir Schweigen auferlegte, so geschah es aus
0269literarischem Anstandsgefühl, weil jene ersten Angriffe gegen
0270unser gesammtes Musikwesen einen Bestandtheil der Chry-
0271sanderʼschen Kritik über meine „Geschichte des Concertwesens 
0272in Wien“ bildeten, ich somit zugleich in eigener Sache, für
0273mein Buch, hätte auftreten müssen. Ich möchte aber um
0274keinen Preis zu jener Classe von Kritikern gezählt werden,
0275welche, streng gegen fremde Leistungen, keinen Tadel ihrer
0276eigenen vertragen. Darum schwieg, ich über die mitunter
0277leicht zu widerlegenden Ausstellungen eines Mannes, der von
0278den Wiener Musikzuständen so wenig weiß, daß er noch im
0279Jahre 1867 in einer „Statistik der Gesangvereine und Con-
0280cert-Institute Deutschlands“ (Jahrbücher für Musikwissenschaft 
0281von Chrysander, Band II, S. 370) die Wiener Gesang-
0282vereine und Concert-Institute auf netto drei Stück reducirt:
0283die Gesellschaft der Musikfreunde, die Sing-Akademie und
0284Zellner’s historische Concerte! Herr Chrysander weiß also
0285nichts von der berühmten, seit 1771 hier bestehenden Ton-
0286künstler-Societät
, unserem ersten stabilen Concert-Insti-
0287tute; er weiß nichts von den Philharmonischen Con-
0288certen
, nichts von dem seit 25 Jahren blühenden Wie-
0289ner Männergesang-Vereine
, dem Akademischen
0290Gesangvereine u. s. w. Er hätte sonst, wenn ihm
0291nähere Details fehlten, doch wenigstens die Namen dieser
0292Institute in seiner „Statistik“ anführen müssen! Ich habe
0293dies artige Pröbchen gegen meinen gestrengen Kritiker niemals
0294geltend gemacht, weil ich Herrn Chrysanderʼs Geschmack nicht
0295theile, überall zu hofmeistern und Krakehl zu suchen. Von
0296seinem principiellen Hasse gegen Alles, was in Wien musika-
0297 lisch geleistet und erstrebt wird, vermag wol ich am wenig-
0298sten Herrn Chrysander zu heilen. Ob es ihm aber nicht
0299vielleicht möglich wäre, zur Abwechslung auch einmal vor
0300eigener Thür zu kehren, das darf man einen Mann von so
0301beneidenswerthem Selbstbewußtsein nicht fragen. Sollten die
0302Chrysander-Anfälle chronisch werden, unter denen ich gleich Her-
0303beck jetzt leide, so bleibt mir nichts übrig, als die Zuflucht
0304zu dem Herbeckʼschen Recepte: sich um Herrn Chrysander nicht
0305weiter zu kümmern.