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Neue Freie Presse
Morgenblatt
Nr. 4444. Wien, Mittwoch, den 10. Januar 1877

[1]

Musik.


0002Ed. H. Eine neue Gesangskönigin, die Nilsson, eine
0003neue Operette von Strauß und eine neue Orchester-
0004Composition von Herbeck waren die drei musikalischen Er-
0005eignisse der letzten Woche. Dem Gaste gebührt der Vortritt.
0006Christine Nilsson, gegenwärtig zum erstenmale in
0007Wien, ist seit einem Decennium diesseits wie jenseits des
0008Oceans als ebenbürtige Rivalin der Patti gefeiert. Sie hat
0009diese Höhe nicht so leicht, nicht so rasch erstiegen, wie ihre
0010italienische Nebenbuhlerin. Die kleine Adelina, aus einer
0011Künstlerfamilie stammend, ist unter Opernmelodien und
0012Theatercostümen aufgewachsen und sang schon als vierzehn-
0013jähriges Mädchen in Newyork öffentlich mit größtem Erfolg.
0014Anders unsere schwedische Sängerin. Christine Nilsson ist
0015als das achte Kind eines Bauern am 3. August 1843 in dem
0016Dorfe Hussaby, Provinz Smaland, geboren. Der Vater, der
0017mit Hilfe seiner Familie den Boden bebaute, machte Sonn-
0018tags auch den Vorsänger in der lutherischen Kirche und
0019lehrte Christine die Noten. Lesen und Schreiben lernte das
0020Kind in der Dorfschule; größer geworden, wurde sie bei der
0021Feldarbeit und in der Hauswirthschaft beschäftigt. Ihr
0022Bruder Karl, ein passionirter Geiger, entdeckte zuerst die
0023schöne Stimme der Schwester und nahm sie bald mit, wenn
0024er als Musikant auf Märkte und Hochzeiten zog. Dort
0025sang sie an seiner Seite schwedische Volkslieder. Auf solch
0026einem Jahrmarkte (zu Ljungby) führte der glückliche
0027Zufall einen angesehenen Kunstfreund aus der Hauptstadt,
0028Herrn v. Thornechjelm, herbei. Entzückt von ihrer Stimme,
0029ihrem Ausdruck, ihrem offenen, kindlichen Wesen, erbat er
0030sich von Vater Nilsson die Erlaubniß, für die Ausbildung
0031des Mädchens sorgen zu dürfen. Zwei Jahre verweilte nun
0032Christine in einem Pensionat zu Gothenburg, erhielt die
0033ersten Gesanglectionen bei Fräulein Valerius, dann weiteren
0034Unterricht im Gesang und Clavier bei Franz Berwald in
0035Stockholm, dem auch in Wien bekannten originellen Kauz
0036und alten Freund der Jenny Lind. Da bot sich Christinen
0037die Gelegenheit, mit der Malerin Valerius, der Schwester
0038ihrer Gesanglehrerin, nach Paris zu reisen. Hier quartierte
0039sich Christine bei einer englischen Familie ein und trieb drei
0040Jahre lang mit rastlosem Eifer Gesangstudien unter der
0041Leitung von François Wartel und Victor Massé. Durch
0042Wartel bei dem Director des Théâtre Lyrique, Mr. Car-
0043valho
, eingeführt, wurde sie sofort für diese Bühne auf
0044drei Jahre engagirt. Ihr erstes Debut bestand sie am
004527. October 1864 als Violetta („Traviata“), ihr zweites
0046als Königin der Nacht in der „Zauberflöte“. Die Bravour
0047und Reinheit, mit welcher die Debutantin die hohen Staccato-
0048stellen und Passagen dieser Rollen bewältigte, wirkten wie
0049ein Blendwerk. Es folgten als nächste Rollen Martha und
0050Elvira im „Don Juan“. Für anstrengende hochdramatische
0051Partien schien damals die Stimme der Nilsson noch zu klein.
0052Erst 1868 wurde sie in der Großen Oper engagirt, um
0053die Ophelia in „Hamlet“, der neuen Oper von Ambroise
0054Thomas, zu singen. Der Componist wollte seine Oper
0055lieber im Pulte zurückbehalten, als die Ophelia irgend einer
0056andern Sängerin anvertraut sehen. Von da an datirt der
0057europäische Ruf der Nilsson. Nach einem glänzenden Gast-
0058spiel in London besuchte sie ihre Heimat, wo sie ihrem Vater
0059die Pachtung und das Haus kaufte, in dem sie geboren war.
0060Im Jahre 1870 feierte sie Triumphe in Amerika, 1872 in
0061Rußland. Vor der Abreise nach Rußland heiratete sie Herrn
0062August Rouzaud, einen intelligenten, wohlhabenden Ge-
0063schäftsmann in Paris, mit dem sie in glücklichster Ehe lebt.
0064Diese kurzen authentischen Daten dürften wenigstens zur
0065Richtigstellung vielfach verbreiteter Irrthümer und Märchen
0066dienen.


0067Christine Nilsson eröffnete ihr Gastspiel im Hof-
0068operntheater als Ophelia in A. Thomas’ „Hamlet“. Ein
0069gedrängt volles Haus harrte mit sichtlicher Spannung ihres
0070Auftretens. Und gleich ihr Erscheinen wirkte einnehmend wie
0071die glücklichste Vorbedeutung. Hohe ebenmäßige Gestalt, ein
0072edles, feingeschnittenes Antlitz, aus dem zwei große hellblaue
0073Augen bald rührend blicken, bald leidenschaftlich aufleuchten,
0074die Haltung aufrecht, ruhig, alle Bewegungen harmonisch.
0075Jetzt öffnet sie den Mund mit seinen perlengleichen Zähnen
0076und flüstert die ersten Töne des Duetts mit Hamlet. Es
0077gibt kaum in einer Oper ein so unscheinbares Entrée der
0078Primadonna, als das Opheliens im „Hamlet“; ja, streng
0079genommen bilden für sie die ganzen drei ersten Acte nur
0080Ein unscheinbares und undankbares Entrée zum vierten Auf-
0081zuge, der zuerst ihrer musikalischen und dramatischen Kunst
0082volle Entfaltung gestattet. Allein schon jenes kleine Eingangs-
0083duett verrieth die bedeutende, echt künstlerische Individualität
0084der Nilsson. Man kann es nicht anspruchsloser und schlichter
0085vortragen, aber auch nicht überzeugender, inniger. Ihre
0086Stimme, ein hoher Sopran von hellem, offenem Klange und
0087wunderbarer Ausgeglichenheit, besitzt keine imponirende Ge-
0088walt, nicht einmal die volle erste Jugendfrische, schmeichelt
0089sich aber mit weichen, reinen Flötentönen unwiderstehlich in
0090Ohr und Herz. Ein leichter Schleier ruht über den mittleren
0091Tönen, ähnlich wie bei Jenny Lind, mit welcher die Nilsson
0092nicht blos die Landsmannschaft, sondern den Grundzug ihres
0093musikalischen Charakters gemein hat. Wir lieben diesen zarten,
0094matten Duft, der meistens auf jenen Organen liegt, die eine
0095empfindungsreiche Innerlichkeit im Gesange auszuströmen be-
0096rufen sind. Im zweiten Act hat Ophelia nur Eine Nummer;
0097die Nilsson hielt die beiden Strophen derselben, die erste
0098vor Hamlet’s Eintritt, die zweite nach demselben, mit geist-
0099reicher Feinheit auseinander und fand dann für den Schmerz
0100über Hamlet’s Entweichen den einfachsten und rührendsten
0101Ausdruck. Der einfachste und rührendste Ausdruck — das
0102ist der Talisman, durch welchen die Nilsson uns immer
0103und überall gefangen nimmt, auch wo der Componist ihr
0104durch keinen Effect zu Hilfe kommt. Ihre Action beschränkt
0105sich auf das Nothwendige, aber dieses ist mit genialem
0106Instinct erfaßt und vollständig wiedergegeben. Ueberraschend
0107schön und wahr, dabei ihr allein angehörend, ist die Auf-
0108fassung des Terzetts im dritten Act. Durch die vernichtende
0109Mahnung Hamlet’s: „Geh’ in ein Kloster!“, wird Ophelia
0110zuerst gegen den Abgrund des Wahnsinns gedrängt; hier
0111schon deutet die Nilsson das Herandämmern der Geistesnacht [2]
0112an, welche Ophelien im vierten Acte umfangen hält. In der
0113großen Scene des vierten Actes entfesselte Christine Nilsson
0114die schönste Art von Virtuosität, die wir in so tragischer
0115Situation uns denken können: eine Virtuosität, die man nicht
0116merkt, eine Bravour, auf die man vergißt ob der tiefen
0117Empfindung, worein jede Note getaucht ist. Wer nach manchen
0118Berichten nur eine große Virtuosin erwartet hatte, fand jetzt
0119— eine große Künstlerin. Die einzelnen, anscheinend blos der
0120Bravour gewidmeten Coloratursätze und Sätzchen wußte sie
0121durch bezeichnendste Mimik, Action und Tonfärbung drama-
0122tisch zu motiviren — sie quollen aus Ophelia’s Seele, nicht
0123blos aus der Kehle. Ophelia entspricht völlig der ganzen
0124Erscheinung und Gesangsmanier der Nilsson; eben deßhalb
0125wäre es gefährlich, gerade nach dieser Einen Rolle ein ab-
0126schließendes Urtheil über sie zu wagen. Wie weit die drama-
0127tische Verwandlungskunst der Nilsson reicht, ob es ihr ebenso
0128gut gelingen werde, ihre zarte, träumerisch sanfte Individua-
0129lität auch in andere Charaktere umzugießen, müssen wir ab-
0130warten. So viel ist uns gewiß, daß wir niemals eine voll-
0131kommenere poetische Verkörperung der Ophelia erlebt haben
0132und kaum wieder erleben werden. Den nächsten Darstellungen
0133der Nilsson sehen wir mit einer frohen Erwartung entgegen,
0134wie sie uns der Opernbühne gegenüber lange nicht beseelt hat.


0135Die Vorstellung des „Hamlet“ ist in ihren übrigen
0136Theilen bekannt. Herr Beck sang und spielte die weit mehr
0137schwierige als lohnende Rolle des Hamlet mit gewohntem
0138Feuer und dramatischem Ausdruck. Nichts verrieth das kaum
0139behobene Unwohlsein dieses Künstlers, als die Weglassung
0140des Trinkliedes im zweiten Act, um das wir uns nicht sonder-
0141lich grämen können. Außer Herrn Beck trug wesentlich noch
0142Frau Dillner durch ihre würdevolle und sympathische
0143Darstellung der Königin zu dem Erfolge des Abends bei.


0144Die neue Operette von Johann Strauß, deren
0145glänzenden Erfolg im Carl-Theater diese Blätter jüngst ge-
0146meldet haben, betitelt sich: „Prinz Methusalem“.
0147Mit diesem, gemeiniglich dem Uralter reservirten Namen ist
0148hier ein blutjunger Prinz, der sentimentale Liebhaber des
0149Stückes, belegt, welches damit die erste Täuschung begeht.
0150Erwartet man doch unter einem „Prinz Methusalem“ eine
0151besonders komische Charakterfigur, während das gerade Ge-
0152gentheil stattfindet. Gleich ihrem Titel, so täuscht uns die
0153ganze „komische Operette“, deren hilflose, müde Austren-
0154gung, komisch zu sein, nirgends ans Ziel gelangt. Lauter
0155witzlose veraltete Caricaturen und verbrauchte Situationen,
0156wenn man nicht das Accompagnement von verpuffenden Knall-
0157erbsen für einen neuen Knalleffect gelten lassen will. „Wer
0158wird es mit einem Operettentexte so genau nehmen?“ — hören
0159wir einwenden — „genug, wenn man nur lachen kann.“ Ja,
0160wenn man nur lachen könnte! Das ist eben das Mißge-
0161schick der französischen Textdichter, daß ihr „Methusalem“ zu
0162dem von ihrem großen Landsmann einzig verpönten „genre
0163ennuyeux“ gehört. Wo wir herzlich lachen hörten, da
0164floß die komische Wirkung einzig aus den Gesichts-
0165muskeln Knaack’s und den Fisteltönen Matras’.
0166Die Erfindung der Textdichter ist unschuldig daran,
0167wie sie unschuldig ist an dem großen Erfolge der
0168Novität. In das Verdienst dieses Erfolges theilen sich die emi-
0169nente Aufführung im Carl-Theater und die graziöse, lebens-
0170volle Musik von Strauß. Strauß’ erste Operette „Indigo“
0171(nach der Summe der darauf verwendeten reizenden Walzer-
0172themen die reichhaltigste von allen) verrieth noch große Un-
0173geübtheit in der Form, namentlich der Ensemble-Nummern;
0174auch liefen Text und Musik nur so beiläufig nebeneinander.
0175Jede der folgenden Arbeiten von Strauß verrieth einen
0176Fortschritt in der Operntechnik — es sind nicht mehr die
0177Walzer- und Polkathemen allein, welche darin Beifall finden
0178und verdienen. Das Entscheidendste, Eigenthümlichste und Beste
0179bleiben sie allerdings, diese Tanzmelodien, in allen Strauß’-
0180schen Operetten. Sobald ein Walzer-Rhythmus sich regt,
0181offen oder verschämt, geräth das Publicum in eine entzückte
0182Bewegung, da erkennt und begrüßt es seinen Strauß, den
0183unwiderstehlichen „Rattenfänger“ von Wien. Darum wird
0184für Strauß stets jener Operntext der geeignetste sein, der
0185durch seine Situationen die Verwendung von Tanzmelodien
0186am besten motivirt, am natürlichsten hervorruft. Das ist der
0187Fall in der „Fledermaus“, welche wir deßhalb als Ganzes
0188unbedenklich für die wirksamste Operette von Strauß halten.
0189Ganz auf realem Boden spielend, in einer Atmosphäre bür-
0190gerlicher Heiterkeit und harmlosen Spasses, lockt dieses
0191Libretto ungezwungen die lustigen Walzer- und Polka-
0192geister herbei, welche Strauß im Finale des zweiten
0193Actes zu einem hinreißend lustigen Bacchanale vereinigt.
0194Das Textbuch zu „Cagliostro“ bot dem Componisten
0195wenigstens Eine solche Scene, wo die Tanzmelodie gefordert
0196ist, das berühmte Walzerduett, welches hauptsächlich den Er-
0197folg des „Cagliostro“ begründete. In diesem wichtigen Punkt
0198bleibt das neue Libretto „Methusalem“ dem Componisten,
0199diesem Componisten, so gut wie Alles schuldig. Das Stück
0200wäre um seine zündendsten Momente ärmer, um die speci-
0201fisch „Strauß’schen“, ließe nicht zur rechten Zeit der Com-
0202ponist, gleichsam hinter dem Rücken des Librettisten, zum
0203Tanze aufspielen. Strauß hat als brillantesten Abschluß der
0204Operette dem Liebespaar einen Walzer in den Mund gelegt,
0205welcher zu seinen hinreißendsten Einfällen gehört und den im
0206nächsten Frühjahre ohne Zweifel die Lerchen in der Luft
0207nachsingen werden. „Methusalem“ dürfte, gut aufgeführt,
0208überall bedeutenden Erfolg erringen, am meisten vielleicht in
0209Paris, denn offenbar hat Strauß bei dieser Arbeit den
0210französischen Geschmack im Auge gehabt. Einige der hübsche-
0211sten Musikstücke, wie die ersten Couplets Ausim’s: „Der
0212Schelm ist todt“, das effectvolle Quintett des Trombonius
0213mit den vier Räubern u. A., nähern sich mit Glück dem
0214Style der französischen Opéra comique, von manchen feine-
0215ren Zügen in der musikalischen Conversation ganz zu schwei-
0216gen. Daß auch Unbedeutendes und bekannt Klingendes unter-
0217läuft, versteht sich bei solcher rasch hingeworfenen Unterhal-
0218tungs-Musik von selbst. Lobenswerth ist die richtige Einsicht
0219mit der Strauß den Ton harmloser Fröhlichkeit festhält,
0220also im Style bleibt und nicht, wie manche seiner Wiener
0221Collegen, jeden Augenblick in das brausende Meer Verdi’s
0222oder Meyerbeer’s hineinpurzelt. Strauß, der schon von [3]
0223Haus aus als Walzer-Componist sich durch Sorgfalt und
0224Geschmack in der Instrumentirung hervorthat, hat auch im
0225Methusalem“ diese Erwartung nicht getäuscht: das Orchester
0226blinkt und glitzert von feinen Klangeffecten, die um so an-
0227genehmer wirken, als sie anspruchslos auftreten.


0228Das „Philharmonische Concert“ vom letzten
0229Sonntag begann mit dem „Römischen Carneval“ von H.
0230Berlioz. Glänzend componirt und glänzend gespielt,
0231machte dieses geistreiche Tonstück seine gewohnte Wirkung.
0232Wir hätten die ursprünglich annoncirte Ouvertüre zu „König
0233Lear“ von Berlioz vorgezogen, eine nicht so populäre, aber
0234gewaltigere, tiefsinnigere Composition, überdies in Wien sehr
0235lange nicht gehört. Es folgte Schumann’s unverwelklich
0236schönes Clavier-Concert in A-moll, das von keinem späteren
0237Werke dieser Gattung auch annähernd erreicht ist. Herr
0238Louis Brassin, Professor am Conservatorium zu Brüssel,
0239spielte das Concert, wie ein echter Künstler spielt. Mit keiner
0240Passage, mit keiner Note suchte er den Virtuosen geltend zu
0241machen und aus dem Rahmen der Tondichtung heraus-
0242zutreten. Mit vollkommener Beherrschung der Technik wollte
0243er doch nur die Composition treu wiedergeben, und es ge-
0244lang dies seinem durchaus ernsten, männlichen Vortrag voll-
0245kommen. Der ungewöhnlich lebhafte und anhaltende Beifall,
0246der nach Herrn Brassin’s Leistung losbrach, ehrt nicht min-
0247der das Publicum als den Künstler. Director Her-
0248beck
löste hierauf Herrn Hanns Richter am Pulte ab und
0249dirigirte seine neueste Orchester-Composition: „Künstlerfahrt“.
0250Diese fünfsätzige Tondichtung läßt sich nicht genau unter
0251eine der gebräuchlichen Kunstformen einschieben; am leichtesten
0252fügt sie sich dem Begriff der älteren „Serenade“ oder auch
0253der Lachnerisch modernisirten „Suite“. Eine Symphonie ist
0254sie am wenigsten, will es auch gar nicht sein. Gleich der erste
0255Satz spricht dies deutlich aus, mit seinem, ohne jedes Vor-
0256spiel anhebenden Ländlerthema und seiner Menuetform,
0257welche nach einem Trio als Mittelsatz den ersten Theil, nur
0258wenig gesteigert, wiederholt. Die Sonder-Ueberschriften der
0259einzelnen Sätze deuten blos auf das poetische Band, welches
0260dieselben zu einer „Künstlerfahrt“ verbindet; von eigentlicher
0261Programm-Musik oder Tonmalerei keine Spur. Wir durch-
0262leben mit einer fröhlichen Gesellschaft von Künstlern einen
0263heiteren Sommertag; die Grundstimmung, ein gemüthliches
0264Behagen an der Natur, steigert sich bald zur Lustigkeit, bald
0265dämpft sie sich zu sanfter sorgloser Melancholie. Kein lei-
0266denschaftliches Ringen, kein tiefsinniges Nachdenken, kein
0267enthusiastischer Aufschwung unterbricht das wohlige Gleichmaß
0268des Tages — ein klein wenig von alledem hätte vielleicht
0269nicht geschadet. Das Ganze erinnert an gewisse anmuthige
0270Bildnisse, deren weiches, rosiges Fleisch nur ein stärkeres
0271Knochengerüste wünschen läßt. Von reizender Frische ist der
0272erste Satz B-dur 3/4 „Wanderer im Walde“, mit seinem
0273zarten Mittelsatz in Des-dur. Dem zweiten Satz („Auf
0274grünem Plan“), gleichfalls im Dreiviertel-Tact, hätten wir
0275ein bedeutenderes Thema oder wenigstens eine andere
0276Stellung gewünscht; er contrastirt mit seinem Mazurka-
0277Rhythmus zu wenig von dem ländlerartigen ersten Satz. Ein
0278Adagio in D-moll, „Im Bergschloß“ überschrieben, schlägt
0279die elegische Saite stimmungsvoll an, unterbricht aber zu
0280häufig diese Grundstimmung durch Zwischensätze, denen ent-
0281weder eine uns unverständliche poetische Beziehung oder die
0282Freude des Componisten an dem bloßen Wohlklang einzel-
0283ner Instrumental-Effecte zu Grunde liegt. Das Adagio hinter-
0284läßt keinen tieferen Eindruck und scheint uns für die Quali-
0285tät seines musikalischen Inhalts zu lang ausgesponnen. Desto
0286siegreicher dringt das folgende „Intermezzo“ in das Gemüth
0287des Zuhörers: ein an Schumann’s Weise mahnender Zwie-
0288gesang, anfangs zwischen Flöten und Clarinett, dann zwischen
0289den Geigen und Cellos. Der Satz ist duftig und blühend.
0290Die „Heimkehr“ der Sänger (letzter Satz, B-dur) erfolgt in
0291geschlossenen Reihen, Marschtempo „maestoso“. Der Satz
0292wirkt nicht durch bedeutende Themen, aber durch energische
0293Rhythmik und ist weislich kurz gehalten. Posaunen und Lärm-
0294instrumente, bishin pausirend, erst ganz am Schlusse des
0295Finales eintreten zu lassen, war ein glücklicher Einfall des
0296Componisten. Herbeck’s „Künstlerfahrt“ athmet lauter Blüthen-
0297duft und Sonnenschein und nimmt dadurch die Hörerschaft
0298rasch gefangen. Die Erfindung ist nicht überall bedeutend
0299oder originell, ihre saubere, ja geistreiche Ausführung jedoch
0300in dem feinsten Instrumental-Colorit fesselt durchwegs. Schade,
0301daß zwischen den einzelnen Sätzen nicht mehr Steigerung und
0302Contrast stattfindet und die ganze „Künstlerfahrt“ in keinem
0303derselben einen eigentlichen Gipfelpunkt erreicht. In Einem der
0304fünf Sätze, dachten wir, dürften doch die Künstler aus voller
0305Brust aufjauchzen und müßte der Becher überschäumen. Da-
0306für war die rechte Stelle entweder das Finale oder, wenn
0307dieses der Marschform vorbehalten bleiben sollte, der (das
0308Scherzo vertretende) zweite Satz. Da lagert die Gesellschaft
0309„auf grünem Plan“ und dürfte schon etwas begeisterter sin-
0310gen von Liebe und Freiheit. In anmuthig frischen Bildern
0311wie die „Künstlerfahrt“ scheint Herbeck’s echt österreichisches,
0312an Schubert anklingendes Naturell sich besonders heimisch
0313zu fühlen. Es ist selten, daß heutzutage ein die Orchester-
0314Technik souverän beherrschender moderner Componist ein großes
0315symphonisches Werk auf den einfachsten Grundformen: Lied,
0316Tanz, Marsch, aufbaut und die selbstständige, streng sym-
0317metrisch gegliederte Melodie durchwegs vorherrschen läßt. Die
0318Künstlerfahrt“ schließt sich nahe verwandt an Herbeck’s
0319Tanzmomente“ und „Orchester-Variationen“ *) an. In
0324letzteren hat sich ohne Frage der Musiker bedeutender hervor-
0325gethan; dem großen Publicum, das gerne den Poeten vor-
0326zieht, dürfte vielleicht die „Künstlerfahrt“ noch mehr zusagen.
0327Mit Ausnahme des Adagios, das durch einige Kürzungen ge-
0328winnen würde, hat jeder Satz der „Künstlerfahrt“ im Phil-
0329harmonischen Concert vollständig eingeschlagen. Besonders leb-
0330haft wurden der erste Satz und das Intermezzo (die beiden
0331weitaus besten Theile) applaudirt, am meisten wol der Com-
0332ponist selbst, der auf den Ruf des Publicums wiederholt er-
0333scheinen mußte.

Fußnoten
  • *)Wir machen das musikalische Publicum aufmerksam, daß die
    im vorigen Jahre von uns ausführlich gewürdigten Orchester-Varia-
    tionen von Herbeck jetzt in Partitur und vierhändigem Arrangement
    bei Fr. Schreiber in Wien schön ausgestattet erschienen sind.