Neue Freie Presse
Morgenblatt
Nr. 4791. Wien, Freitag, den 28. December 1877
[1]„Die sieben Todsünden.“
Von Hamerling und Goldschmidt.
(Aufgeführt am 22. December 1877 im Hofoperntheater.)
0004Ed. H. Die christliche Theologie nennt „Todsünden“ (im
0005Gegensatze zu „läßlichen“) diejenigen, welche den geistigen Tod,
0006das heißt den Verlust des Gnadenstandes, nach sich ziehen,
0007und verzeichnet deren bekanntlich sieben: Hochmuth, Geiz,
0008Wollust, Zorn, Völlerei, Neid und Trägheit des Herzens.
0009Die Darstellung dieser Todsünden hat der Dichter Robert
0010Hamerling in Folge Aufforderung des Herrn Adalbert
0011Goldschmidt in Wien zum Gegenstande eines Textbuches
0012gemacht, das von dem Besteller in Oratorienform componirt
0013und von dem Personal des Hofoperntheaters Samstag hier
0014aufgeführt worden ist. Das Werk zerfällt in drei Abthei-
0015lungen. Die erste könnte man als „Prolog in der Hölle“
0016bezeichnen. Der Fürst der Finsterniß hält eine Art Minister-
0017rath, in welchem er von seinen „sieben ersten Dämonen“ sich
0018Bericht erstatten läßt über ihre Thätigkeit auf der Erde. Es
0019rühmen sich nun nacheinander die einzelnen Todsünden des
0020Bösen, das sie unter den Menschen angerichtet haben. Jeder
0021der geehrten Vorredner wird von den anderen sechs (oder,
0022wie der Poet in merkwürdiger Zerstreutheit wiederholt an-
0023führt, von allen sieben Dämonen!) verhöhnt mit dem
0024Refrain: „Was thust du groß? Brüste dich nicht, wir thun
0025noch mehr!“ Die Siebenzahl schwingt sich schließlich zu neuem
0026Wettkampfe im Bösen hinauf zur Erde. Die zweite Abthei-
0027lung schildert in einer Reihe lose aneinandergefädelter Scenen
0028die Leistungen der sieben Todsünden. Zuerst verführt der
0029Dämon der Trägheit eine Schaar müder Pilger, „sich hin-
0030zulagern ins Moos, die Füße, die wunden, behaglich gelagert“.
0031Hier scheint der Dichter zu übersehen, daß die Kirche zwar
0032die „Trägheit des Herzens“ als Todsünde bezeichnet, aber
0033keineswegs die Grausamkeit so weit treibt, ein Ausruhen
0034wegmüder Pilger mit ewigen Höllenstrafen zu belegen.
0035Schlegel nennt einmal die Faulheit das einzige Gut, das
0036uns aus dem Paradiese zurückgeblieben sei. Nach der Träg
0037heit operirt „das Pfauenrad der Hoffart und der Spiegel
0038der Ichsucht“ an einem Jüngling, der zärtlich mit der Ge-
0039liebten lustwandelt. In den Wechselreden des Pärchens heißt es:
0040„Ich fröhnte dem stolzen ichsüchtigen Trieb,
0041Entselbstet nun segn’ ich und preise die Liebe.
0042Dich liebend erkor ich, mir selber ersterb’ ich.“
0043(Ihr Edlen mögt aus diesen Worten lesen, wie Hamer-
0044ling erkennt der Liebe reinstes Wesen!) Mit einer Schnellig-
0045keit ohnegleichen macht die „Hoffart“ den Jüngling seiner
0046Braut abwendig; er verläßt sie schleunigst, denn „fern winkt
0047das Glück“. Nach dem Jüngling nimmt die Hoffart noch
0048einen „Helden“ in die Arbeit, macht ihn zum Kronenräuber
0049und Tyrannen, was ihm eine Revolution zuzieht, aus der er
0050zwar siegreich, aber vorgemerkt für die Höllenstrafen hervor-
0051geht. Es kommt an die Reihe „die Habsucht“, dieser
0052modernste aller Todsündenböcke. Sie lehrt das Volk zuerst
0053„neue Wege des mühelosen, raschen Erwerbs“ und eröffnet
0054hierauf selbst ein Geschäft mit der Devise: „Geld für Alles“.
0055Den vierten Dämon, den Neid, thut der Dichter sehr kurz
0056ab und ohne ihn eigentlich von der „Habsucht“ recht zu
0057unterscheiden. Der Neid treibt bei Hamerling das Volk sofort
0058zur Plünderung der Reichen. Ohne weitere Vermittlung setzt
0059die nächste Scene an: der Dämon der Völlerei über-
0060rumpelt eine Schaar von Festgenossen. Sie ergießen ihren
0061„bacchischen Wonnedrang“ in folgenden überaus lieblichen und
0062geschmackvollen Versen:
0063„O Bauch, o Bauch! Vieledler Theil,
0064Wir mögen gern dich pflegen! . . .
0065Der Kopf ist Arbeit, schwere Noth,
0066Du Bauch, du Bauch sei unser Gott!“
0067(Der echt wienerische Reim „Noth—Gott“ verleiht dem Verse ein ganz
0068apart patriotisches Geschmäckchen.)
0069Sobald die Bauchsänger hinreichend begeistert sind, um „aus
0070dem Stiefel zu saufen“, tritt die „böse Lust“ zu ihnen.
0071Dieser Dämon hat sich bereits im Vorspiel folgenderweise
0072selbst charakterisirt: „Ich mische das Gift, das sickernd die
0073Säfte durchseucht mit Sünde. Ewig unselig, weil nimmer
0074befriedigt, wälzt sich im Wüsten weichlich der Lichtsohn.“
0075O Wagner, der du nicht blos die Componisten, sondern
0076bereits auch die Dichter verführst durch dein Beispiel! Daß
0077selbst eine poetische Kraft wie Hamerling sich in so schauder-
0078hafte Verse verirrt! Der „Lichtsohn“ unterliegt natürlich
0079sofort der Menge „wonniger Weiber verlockender Leiber“;
0080es kann jetzt nur noch der letzte Dämon folgen, Todsünde
0081Nr. 7, der Zorn. Er hetzt die Völker zuerst gegen ihre
0082Fürsten (worin ihm merkwürdigerweise der „Chor der
0083Priester“ beisteht), sodann nationenweise gegen einander.
0084Nun ist Alles der Erde gleich gemacht, und ein Verzweiflungs-
0085Chor, in dem die Menschen ihren Schöpfer und sich selbst
0086verfluchen, schließt diesen zweiten, mit Gräuelthaten sehr frei-
0087gebigen Theil des Oratoriums. Die dritte Abtheilung
0088beginnt wieder höllenmäßig, mit einem Chor der Dämonen,
0089endet jedoch, überraschend genug, mit seliger Versöhnung
0090und Erlösung. Und wer rettet die an Leib und Seele ver-
0091sumpfte Menschheit, nachdem sie durch sieben Todsünden geschleift
0092wurde, deren jede einzelne die ewige Verdammniß nach sich
0093zieht? Ein Sänger mit einer Harfe! Die Theologen dürften
0094mit dieser ebenso wohlfeilen als schmackhaften Medicin kaum
0095einverstanden sein — uns Nichttheologen verwundert wenig-
0096stens die seltsame Logik dieses Ausgangs. Der Harfner singt
0097von Wahrheit, Schönheit, Liebe, sein „verwünschter Klang
0098schafft den Dämonen Weh“, den Menschen aber Wonne;
0099schließlich erscheint persönlich „die Königin der Schaaren des
0100Lichts“, um dem lyrischen Welterlöser „mit dem Kranz-
0101schmucke lohnend das Haupt zu krönen“.
0102Hamerling’s Gedicht ist trotz einiger farbenfrischer
0103Bilder in der zweiten und mancher vornehmerer Gedanken
0104in der dritten Abtheilung ein gar unerfreulicher, philo-
0105sophisch-allegorischer Zwitter ohne Blut und Leben. Zum
0106Glück sitzt der Ruhmeskranz viel zu fest auf dem Haupte
0107des Dichters von „Ahasver“, als daß diese „Todsünden“ ihn
0108ernstlich lockern könnten. Unsere Bedenken gegen die Wahl
0109dieses Stoffes richten sich überdies weit mehr gegen den
0110Musiker, welcher ihn zu componiren unternahm, ja ihn
0111eigens bestellte, als gegen den Dichter. Die Poesie beherrscht
0112ein viel größeres Reich als die Musik und gebietet über un-
0113gleich reichere Mittel, wo es gilt, gerade die Nachtseiten der
0114Menschheit, die Sünde, das Laster, überhaupt das Häßliche
0115und Böse darzustellen. Es ist ein Mangel, ich glaube ein [2]
0116schöner, segensvoller Mangel der Tonkunst, daß sie das nicht
0117kann, oder doch nur andeutungsweise und vorübergehend. Wie die
0118Musik und die Architektur unter allen Künsten am wenigsten be-
0119fähigt sind, komisch zu wirken, so sind sie ihrer ganzen Natur
0120nach auch am beschränktesten in der Darstellung des Bösen
0121und Häßlichen. Wie vermag die Musik den Neid, den Geiz,
0122die Habsucht auszudrücken? Offenbar nur durch musikalisch
0123Häßliches und Verzerrtes — inhaltlos, allgemein, ohne unter-
0124scheidende Charakteristik jeder einzelnen dieser „Todsünden“.
0125Zorn und Wollust werden durch das Plus von leidenschaft-
0126licher Bewegung, das ihnen innewohnt, der Musik leichter
0127zugänglich sein, jedoch immer nur als vereinzelte Schlag-
0128schatten, welche die lichten Partien des Gemäldes in doppelter
0129Reinheit und Schönheit hervorheben. So und nur so haben
0130alle großen Tondichter das moralisch Häßliche behandelt.
0131Eine Oper, zusammengesetzt aus lauter Pizarros, lauter
0132Bertrams, Mephistos und Ortruds, wäre eine die Parodie
0133herausfordernde Verkehrtheit, genau so wie Goldschmidt’s
0134Oratorium, das eine mit Teufeln garnirte Musterkarte
0135menschlicher Laster und Verbrechen darzustellen unternimmt.
0136Denn mit dem Schlusse der zweiten Abtheilung — darüber
0137täuscht sich Niemand — ist dies musikalische Todsünden-
0138Gemälde eigentlich fertig und erschöpft, wie dessen colo-
0139ristisches Vorbild von Makart. Der versöhnende Epilog
0140mit dem gottgesandten Harfenisten erscheint als eine äußer-
0141liche Zuthat, Poesie der Verlegenheit, und könnte ohne weiteren
0142Schaden wegbleiben. Hätte der Componist eine von den
0143verderblichen Sünden zum treibenden Motiv einer Handlung
0144gewählt, den Helden darein verstrickt und daraus errettet
0145(etwa wie Wagner den Tannhäuser), so konnte er die Auf-
0146gabe noch künstlerisch lösen. Selbst wenn er alle sieben Todsünden
0147nacheinander gegen Einen interessanten und bedeutenden Hel-
0148den zum Sturme commandirte, sei es in Folge einer Wette,
0149wie die Mephisto’s mit dem Herrn, sei es durch einen
0150egoistischen Verführer, wie Bertram, oder durch das Wirrsal
0151geselliger Verhältnisse — es ließe sich auch noch hören. Aber
0152die sieben Todsünden als solche, philosophisch-abstract,
0153um ihrer selbst willen zum Gegenstande einer großen Ton-
0154dichtung zu machen, das ist selbst eine Todsünde gegen den
0155heiligen Geist der Musik. Ein Componist, der sich ein solches
0156Textbuch bestellt, wird uns von vornherein verdächtig als eine
0157unmusikalische Natur, als ein Speculant mit falschen
0158Effecten. Im Mittelalter hießen schon diejenigen Mysterien,
0159in denen vier Teufel spielten, „grande diablerie“; welcher
0160Componist dürfte aber heutzutage mit sieben ernsthaften
0161Teufeln anbinden? Wenn’s noch ein Beethoven wäre,
0162dessen Genie selbst in die tiefsten Abgründe sich hinabsenken
0163konnte, ohne daß die Leuchte der Schönheit ihm erlosch!
0164Was Michel Angelo in seinem furchtbaren „Jüngsten Ge-
0165richt“ wagen durfte, das darf der nächstbeste gewandte Di-
0166lettant nicht unternehmen wollen, und wenn wir eine Com-
0167position der „Sieben Todsünden“ als eine titanische Laune
0168Beethoven’s uns gefallen ließen, so acceptiren wir sie
0169darum noch nicht von Herrn Adalbert Goldschmidt.
0170Ueber die Musik des neuen Oratoriums wollen und
0171dürfen wir uns kurz fassen: sie erschien uns durchweg als
0172eine unselbstständige, unschöne und übertriebene Nachahmung
0173Richard Wagner’s. Originalität der Erfindung und
0174gestaltende Kraft vermißten wir durchgehends, ja sogar natür-
0175liche Empfindung und den allereinfachsten Schönheitssinn.
0176Hingegen offenbart die Partitur ein erstaunliches Vertraut-
0177sein, ja Verranntsein in alle Wagner’schen Ausdrucksweisen
0178und Effectmittel. Schiller’s oft citirtes „Wie er sich
0179räuspert etc.“ trifft hier aufs Haar zu. „Aus Tannhäuser!“
0180„Aus den Meistersingern!“ „Aus der Walküre!“ konnte
0181man rechts und links flüstern hören. Aber auch wo keine
0182directen Reminiscenzen auftauchen, hören wir überall
0183Wagner’s Stimme. Solch handgreifliche Nachahmung eines
0184Meisters wirkt immer verstimmend, im vorliegenden Falle ist
0185sie geradezu peinlich. Wagner hat sich seinen Styl ge-
0186schaffen, der — gut oder übel — sein Eigenthum ist, das
0187Eigenthum einer geistvollen, originellen Individualität, aus
0188deren Empfinden er mit subjectiver Nothwendigkeit hervor-
0189quillt. Wer diesen Styl mechanisch nachahmt, ohne Wagner’s
0190Geist und Wagner’s Kunst zu besitzen, wer ihn obendrein in
0191seinen grellsten Effecten nachahmt, gleichsam nur den Schaum
0192abschöpfend, der schafft eine Caricatur. Herr Goldschmidt
0193plündert die ganze musikalische Garderobe seines Meisters,
0194zieht dessen Prunkgewänder alle übereinander an, aber was
0195in diesen Kleidern steckt, ist nimmermehr ein Wagner,
0196sondern höchstens dessen Zerrbild. Wir haben niemals im
0197Laufe eines Abends so viel gräuliche Dissonanzen, so viel
0198widerhaarige, unsangbare Melodien, plumpe Rhythmen und
0199geschmacklose Orchester-Effecte gehört, wie in diesen „Tod-
0200sünden“. Charakteristisch ist die fortwährende Anwendung
0201der Harfe, der Posaunen, der melodieführenden Pistontrom-
0202peten; dazu das wilde Gesäusel der tremolirenden Violini
0203divisi, die vielen Pizzicatos, die tiefsten Lagen der Holzbläser,
0204gar nicht zu reden von der aufdringlichen Thätigkeit der
0205Triangel, Becken, großen Trommel und gestimmten Glöck-
0206chen. Diesen an rechter Stelle so wirksamen Reizmitteln ist
0207nirgends der rechte Platz bereitet und aufgespart, vor lauter
0208Effect macht nichts Effect. Der charakteristische Ausdruck war
0209im Großen und Ganzen nicht fehlzugreifen: Häßliches und
0210Schauerliches wird immer auf irgend ein Laster passen. Mit
0211hunderttausend Tonsünden stellt Herr Goldschmidt seine
0212„Sieben Todsünden“ her. Merkwürdig bleibt dabei sein Fehl-
0213greifen in manchen Einzelheiten. Die Dämonen, die sich
0214schadenfroh ihres Sieges rühmen („Wir haben bekämpft
0215das feindliche Licht etc.“) singen langsam und traurig wie
0216nach einer Niederlage; der Fürst der Finsterniß zerfließt,
0217wenn er den Dämon der Trägheit commandirt, in elegischer
0218Weichheit, und dieser Dämon selbst, anstatt die Pilger ver-
0219führerisch zum Ausruhen zu locken, thut dies mit einem be-
0220ängstigenden Gewinsel. Einen nicht üblen melodiösen Ansatz
0221bringt der „Chor der Festgenossen“, aber er ist in seiner
0222Sentimentalität ganz unpassend für den „feurigen Hymnus“
0223fröhlicher Gäste. Der Chor der Zecher: „O Bauch, Bauch!“
0224klingt bei Herrn Goldschmidt wie Grabgesang. Die ganze
0225Scene der „Völlerei“ sammt der sich anschließenden Schil-
0226derung der „bösen Lust“ gehört poetisch und mehr noch
0227musikalisch zu dem Widerwärtigsten, was wir kennen. Der
0228schwere Irrthum in der Wahl des Stoffes, einer Tragödie
0229der „Sieben Todsünden“, rächt sich hier. Denn die Völlerei,
0230als das Habituellwerden eines auf Genuß gerichteten Triebes,
0231läßt sich in der Kunst nur komisch behandeln. Unfreiwillig
0232komisch wird Herr Goldschmidt dafür an manchen Stellen,
0233sowol durch musikalisches Gesichterschneiden, als durch falsche
0234Text-Auffassung. Den Chor des empörten Volkes: „Rache,
0235Rache!“ würde ohne Einblick ins Textbuch Jeder für ein[3]
0236reuiges Gebet halten. Im Tone mitleidigster Trauer, anstatt
0237mit jubelnder Schadenfreude, melden am Schluß der zweiten
0238Abtheilung die Dämonen, daß nun „zur Stätte des Elends
0239geworden der Erdkreis“ — genau so wie eine Weile darauf
0240der „Chor der Menschen“ seine entgegengesetzte Empfindung
0241über diesen Untergang ausdrückt. Doch wozu sich noch an
0242Einzelheiten stoßen, wo das Ganze so absolut unerquicklich,
0243so einheitlich verfehlt ist? Wir sind sogar in Verlegenheit,
0244ob Herrn Goldschmidt überhaupt Talent zugesprochen wer-
0245den kann — nach seinen „Sieben Todsünden“ jedenfalls nur
0246ein äußerliches Talent des Aneignens und Nachahmens.
0247Was die Aufnahme des Werkes betrifft, so war sie
0248nach der ersten Abtheilung eine lautlos stille. In den beiden
0249folgenden Abtheilungen wurden das Duett zwischen Frau
0250Wilt und Herrn Walter, dann das Solo des Herrn
0251Müller lebhaft applaudirt, was hoffentlich zumeist den
0252trefflichen Leistungen dieser Künstler gelten sollte. Den Com-
0253ponisten selbst rief das ihm sehr wohlwollend gestimmte
0254Publicum nach der zweiten und dritten Abtheilung wieder-
0255holt hervor. Demungeachtet schien schließlich Alles zu Tode
0256erschöpft, die Hörer und noch mehr die Mitwirkenden. Die
0257„Sieben Todsünden“ erreichten trotz zahlreicher Kürzungen
0258eine unerträgliche Länge und sind schwieriger auszuführen,
0259als die complicirtesten Partituren von Liszt, Wagner
0260oder Berlioz. Man hat hier von diesem Werk, das doch
0261Niemand für lebensfähig halten konnte, zahlreichere und an-
0262strengendere Proben gehalten, als zur „Walküre“. Es ist kein
0263Geheimniß, daß unser den höchsten Anforderungen gewach-
0264senes Hofopern-Orchester, den Dirigenten mit einbegriffen,
0265Goldschmidt’s „Todsünden“ nur mit Widerwillen und mit
0266äußerster Anstrengung einstudirte, ja, daß die Orchester-
0267mitglieder trotz ihres bescheidenen Einkommens sogar zu einer
0268Geldentschädigung an den Pensionsfonds sich bereit erklärten,
0269wenn letzterer durch Ablehnung der „Todsünden“ und Sub-
0270stituirung einer anderen Composition eine Einbuße erleiden
0271sollte. Für kein Werk irgend eines großen Meisters haben
0272Chor und Orchester des Hofoperntheaters jemals einer so
0273aufreibenden Arbeit (obendrein ganz unentgeltlich) sich unter-
0274ziehen müssen. Warum und für wen diese Opfer dennoch gebracht
0275werden mußten, ist und bleibt uns ein Räthsel.
0276Nachschrift. Nachdem obiger Aufsatz bereits der
0277Druckerei überantwortet war, erhielten wir von Robert
0278Hamerling in Graz einen Brief, welcher interessante
0279Aufschlüsse über seine Dichtung und deren Verhältniß zu
0280Herrn Goldschmidt’s Composition enthält. Wir beeilen uns,
0281diejenigen Stellen, welche das Urtheil über die Dichtung
0282vielleicht zu modificiren geeignet sind und die wir in der
0283Kritik selbst nicht mehr berücksichtigen konnten, unseren Lesern
0284hier mitzutheilen.
0285„Herr Goldschmidt,“ schreibt R. Hamerling, „hat von
0286meiner Dichtung nur einen Auszug, man kann sagen heraus-
0287gerissen und in einen notdürftigen Zusammenhang gebrachte
0288Verse componirt. Ich weiß sehr wohl, daß mein Gedicht den
0289Maßstab einer höheren, insbesondere der dramatischen Gattung
0290nicht verträgt. Als „Oratorium-Text“, als Allegorie, was
0291sie durchaus ist, konnte diese Schilderei nicht auf lebendig
0292individuelle Gestaltung ausgehen, sondern mußte sich be-
0293gnügen, poetische Anregungen für die Tongemälde zu liefern.
0294Die sehr verschiedene Wesenheit der Todsünden gestattete,
0295die mannichfaltigsten Töne anzuschlagen, und in einer
0296Schilderung, die mit der „Trägheit“ beginnt und mit den
0297großartigsten Bildern des „Zornes“ endet, kann es wol auch
0298an der Steigerung nicht fehlen. Von der Grundidee
0299und den allgemeinen Umrissen der Dichtung abgesehen, die
0300dem Componisten angehören, hat dieser auch die Form
0301insofern beeinflußt, als er dieselbe ausdrücklich der Wagner’-
0302schen Weise, als der bequemsten für den Musiker, angenähert
0303wünschte. Gewisse debere, drastische Züge des Gedichtes sind
0304ebenfalls auf eine ausgesprochene Mahnung des Componisten
0305an den Dichter zurückzuführen, so „realistisch“ als möglich
0306vorzugehen, was mich anfangs veranlaßte — wie ich nun
0307glaube, mit Unrecht — einen musikalischen Höllenbreughel in
0308Herrn Goldschmidt zu vermuthen. Meine Weisung an den
0309Componisten, „Schopenhauer’scher Weltstimmung“
0310in Tönen Ausdruck zu geben, ist wunderlich mißverstanden
0311worden: Stimmungen zu schildern, ist die Musik gar
0312wohl berufen. „Schopenhauer’sche Stimmung“ sollte nichts
0313weiter bedeuten, als den Inbegriff des Grämlichen, Polternd-
0314Verdrießlichen, der verlorenen Freude am Dasein, des Pessi-
0315mismus — insoweit er eben „Stimmung“ ist.