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Neue Freie Presse
Morgenblatt
Nr. 8793. Wien, Freitag, den 15. Februar 1889

[1]

Concerte.

(Joachim. — Die neue Violin-Sonate von Brahms.)


0003Ed. H. Jede Künstlerfahrt Joachim’s bedeutet einen
0004Triumphzug, seine diesjährige zugleich ein Jubiläum. Im
0005März werden es fünfzig Jahre, daß der neunjährige Joachim 
0006in Pest zum erstenmale aufgetreten ist. Er erinnert sich, mit
0007einem Bravourstück von Pechatschek debütirt und damit ganz
0008besonders gefallen zu haben. Nicht immer ist der Tondichter
0009größer und unsterblicher, als der ihn interpretirende Spieler.
0010Seit jenem Pester Concert preist die Welt den Geiger Joachim 
0011und wird nach hundert Jahren noch seinen Namen feiern —
0012wer aber weiß etwas von dem Componisten Franz Pecha-
0013tschek? Nur das Musiklexikon, welches uns belehrt, daß dieser
0014dunkle Ehrenmann (Sohn des gleichnamigen Wiener Theater-
0015Capellmeisters) ein tüchtiger Musiker gewesen und schon mit
0016sechs Jahren vor dem kaiserlichen Hofe gespielt hat. Er hat
0017also vor unserem Joachim drei Jahre Schnellreife voraus,
0018und — dreißig Jahre vorzeitiger Verschollenheit. Fast gleich-
0019zeitig mit Joachim’s fünfzigjährigem Jubiläum feiert Clara
0020Schumann den sechzigsten Jahrestag ihres ersten Concerts.
0021Beide Künstler sehen wir heute in beneidenswerther Kraft
0022und Spielfreudigkeit, in aufrechtem Besitz ihres Könnens
0023und Empfindens, alt an Erfahrung, jung im Gemüthe. Eine
0024so lange ruhmvolle Laufbahn gehört selbst in der Musik zu
0025den Seltenheiten. In jeder andern Kunst ist sie überhaupt
0026unmöglich. Wer hat von einem neunjährigen Dichter oder
0027Maler gehört? Nur die Tonkunst besitzt den fragwürdigen
0028Vorzug, das Gehör und die Finger der Kleinen weit ihrem
0029Verstande vorauszuschicken. Die meisten werden alte Kinder,
0030ohne Wunder und ohne Ruhm; wenige erwachsen zu großen
0031Künstlern und zahlen häufig, wie Mozart und Mendelssohn, die
0032frühe Reife mit einem frühen Tod. Freuen wir uns der schönen
0033Ausnahmen, die, wie Joachim und Clara Schumann, mit den
0034Jahren auch in der Kunst hochgewachsen sind und ihre lange
0035segensreiche Wirksamkeit noch immer weiterzuführen vermögen!


0036An einem so wichtigen Marksteine gedenkt man unwill-
0037kürlich der ersten Anfänge. In Wien spielt Joachim 
0038zum erstenmale in einem Wohlthätigkeits-Concert, 1840, mit 
0039drei anderen kleinen Knaben — den Brüdern Hellmes-
0040berger
und Adolph Simon — das einst beliebte Concert 
0041für vier Violinen von Louis Maurer. Er erregt vorüber-
0042gehendes Aufsehen; gar zu viel Wunderkinder wimmelten da-
0043mals in Wien. Unter der Leitung des trefflichen Joseph
0044Böhm legt Joachim den soliden Grund zu seiner späteren
0045Meisterschaft. Das war der richtige Lehrer, Wien jedoch,
0046das in Walzerlust und Virtuosen-Cultus schwelgende Wien 
0047der Vierziger-Jahre, kaum der rechte Ort für ernsthafte musi-
0048kalische Bildung. Damals behauptete Leipzig durch das Zu-
0049sammenwirken von Mendelssohn, Schumann, David, Haupt-
0050mann, Moscheles den Rang der vornehmsten Musikstadt in
0051Deutschland. Joachim’s guter Stern führte ihn dahin. Dieser
0052Stern war eigentlich eine Tante, Frau Fanny Wittgenstein,
0053die, in Leipzig verheiratet, den kleinen Joseph zu sich berief.
0054Die Musikfreunde Wiens kennen die behende, freundliche
0055Dame, welche trotz ihrer Jahre noch jedes gute Concert be-
0056sucht und jetzt mit stolzer Freude das fünfzigjährige Künstler-
0057Jubiläum ihres Schützlings mitfeiern darf. Ihre sehr zahl-
0058reiche, in allen absteigenden und Seitenlinien musikalische
0059Familie ist sozusagen das Joachimsthal von Wien. In
0060Leipzig wurde Mendelssohn von unschätzbarem Werth
0061und Einfluß für den heranwachsenden Künstler. Er hat
0062diesen nicht blos musikalisch erleuchtet, sondern auch in dem
0063Streben nach allgemeiner, wissenschaftlicher Bildung liebevoll
0064gefördert und geleitet. Er nahm seinen „Posaunen-Engel“ —
0065wie er den vollwangigen, kleinen Joachim scherzhaft zu nen-
0066nen pflegte — mit nach London und setzte es durch, daß
0067dieser in der Philharmonischen Gesellschaft, welche die Mit-
0068wirkung von „Wunderkindern“ principiell ausschloß, trotzdem
0069auftreten durfte. Sein meisterhafter Vortrag des Beethoven’-
0070schen Concertes eroberte dem jungen Künstler die Gunst des
0071englischen Publicums, die ihm bis heute anhänglich treu
0072verblieben ist. Mit dem Concert von Beethoven führte sich
0073Joachim 1861 als gereifter Künstler auch in Wien ein, wo
0074man den 21 Jahre lang Ferngebliebenen, Berühmtgeworde-
0075nen längst mit Spannung erwartet hatte.


0076Und auch jetzt wieder, am 11. Februar, hat Joachim 
0077seinen ersten Abend im großen Musikvereinssaale mit dem-
0078selben Beethoven’schen Concert eingeweiht, das wir Alle un-
0079zähligemal und doch von Joachim niemals zu oft gehört 
0080haben. Joachim’s künstlerische Entwicklung, sein Styl, seine
0081Persönlichkeit sind eng verwachsen gerade mit diesem Werke;
0082man könnte es kurzweg „sein Concert“ nennen. Neben
0083diesem spielt er, spielen alle Geiger am häufigsten das
0084Mendelssohn’sche. Die langjährige Herrschaft dieser
0085beiden Violinconcerte ist heute noch ohne Rivalen, ihre Popu-
0086larität ohne Beispiel. Von allen Violinconcerten aus der
0087Zeit zwischen Beethoven und Mendelssohn wird höchstens
0088hin und wieder ein Spohr’sches noch gespielt; Mendels-
0089sohn’s Zeitgenossen und Nachfolger: Molique, Beriot, Vieux-
0090temps, Lipinsky, Ole Bull, Ernst, David, sind nach
0091kurzer Glanzzeit vergessen. Ferdinand David selbst macht
0092darüber in einem Briefe an Mendelssohn folgende rich-
0093tige Bemerkung: „Von Concerten halten sich nur die
0094Sachen allerersten Rangs. Die Stücke dieser Gattung ent-
0095halten nothwendigerweise das jeder Epoche eigenthümliche
0096Passagenwerk, und dieses unterliegt, in kürzerer oder längerer
0097Frist, einem Veralten, über welches allein der höchste musika-
0098lische Ideengehalt hinweghelfen kann. Weil dem so ist, spielt
0099die jüngere Generation meine Concerte schon jetzt nicht mehr.“
0100Die letzten dreißig Jahre haben als das Bedeutendste in diesem
0101Fach Joachim’s Ungarisches Concert und das Violin-
0102concert von Brahms hervorgebracht. In dem „Ungarischen
0103Concert“ scheint Joachim’s schöpferische Kraft — etwas früh
0104— ihren Gipfelpunkt erreicht zu haben. Es wirkt frischer,
0105unmittelbarer, lebensvoller als das Brahms’sche, dessen
0106großartiges Pathos und erstaunliche Kunst doch zu sehr des
0107sinnlichen Reizes und der einleuchtenden Klarheit entbehrt,
0108um auf die Popularität der beiden Violinconcerte von
0109Beethoven und Mendelssohn hoffen zu dürfen. Joachim,
0110welcher dieses Werk vor zehn Jahren zuerst in die Welt ein-
0111geführt hat, spielte es auch diesmal mit höchster Vollendung
0112und großem Erfolge. Als treuer und mächtiger Apostel der
0113Brahms’schen Muse hat sich Joachim — ähnlich wie Bülow 
0114— ein eigenes großes Verdienst um die Kunst erworben.


0115Auch diesmal sicherte Joachim sich die schöne Aufgabe,
0116uns ein neues, noch ungedrucktes Werk von Brahms vorzu-
0117führen: die dritte Sonate für Violine und Clavier in
0118D-Moll. Sie zählt zu dem Vollkommensten, was dieser Meister
0119im Fache der Kammermusik geschaffen. Auf jedem Tact schaut
0120unverkennbar Brahms’ Charakterkopf, und doch hat diese [2]
0121Violin-Sonate wieder ein ganz anderes Gesicht, als ihre
0122beiden Vorgängerinnen. Sie ist mächtiger, inhaltreicher,
0123größer, auch äußerlich größer, indem sie — verschieden von
0124jenen dreisätzigen — aus vier Sätzen besteht. Das erste
0125Allegro beginnt mit einem leisen, langgezogenen Gesang der
0126Violine, in jener anscheinend gefaßten, beschaulichen Stim-
0127mung, welche die meisten Anfangssätze von Brahms zu
0128charakterisiren pflegt. Aber bald vernehmen wir halb unter-
0129drücktes Schluchzen der Geige und heftiges Aufstürmen des
0130Claviers; die Leidenschaft ist unter der trügerischen Ruhe
0131durchgebrochen und behauptet das Feld. Der zweite Theil
0132(nach dem nicht repetirten ersten) steigt empor aus einem
0133merkwürdigen Orgelpunkt auf A, der sich durch 46 Tacte
0134hinzieht und über welchem sich ein wunderbar reiches Gewebe
0135von Modulationen ausbreitet. Der Schluß des Satzes bringt,
0136gleichsam als Antwort auf jenen Orgelpunkt in A, einen
0137etwas, kürzeren auf dem Grundton D, über welchem
0138chromatische Sextengänge des Claviers und allmälig
0139verhallende Seufzer der Geige sich tief und tiefer
0140herabsenken. Das Adagio (D-dur 3/8-Tact) eröffnet
0141gleichfalls die Violine mit einem getragenen Ge-
0142sang auf der G-Saite, welcher, bis zum Schluß
0143durch keinen Zwischensatz unterbrochen, den Charakter einer
0144edlen, gefaßten Klage einhält. Das Stück ist schön, klar und,
0145im Gegensatz zu den meisten Adagios von Brahms, sehr
0146kurz. Als reizendes Detail wirkt der chromatisch aufsteigende
0147Triller der Violine vor dem Schluß. Eigenthümlicher ist das
0148folgende Presto in Fis-moll, eines der genialsten Stücke von
0149Brahms. Es behauptet den Platz des Scherzo, doch ohne die
0150geringste Lust zum Scherzen. Ein unruhig intermittirendes
0151Pochen pulsirt wie ängstliches Herzklopfen durch das Haupt-
0152motiv und die ganze Stimmung des durchaus einheitlichen
0153Satzes. Dieses Thema ist das originellste, prägnanteste in
0154der Sonate, sein Rhythmus läßt uns nicht los, folgt uns
0155lange in der Erinnerung. Die nervös aufgeregte Bitterkeit
0156des Scherzos schlägt im Finale (D-moll 6/3) zu flammen-
0157der Leidenschaft aus. Der Componist bringt hier zwei 
0158Presto-Sätze nacheinander; die Ueberschriften: „Presto assai
0159e con sentimento“ auf dem Scherzo, und „Presto agitato“
0160auf dem Finale verrathen schon einigermaßen die verschiedene 
0161Stimmung in beiden. Das Hauptthema des Finales frappirt
0162nicht durch Neuheit, es erinnert an Verwandtes bei Brahms.
0163Aber wie das Adagio, von dessen Thema Aehnliches gilt,
0164sich mit jedem Tacte eigenartiger, reicher entwickelt und in
0165streng organischem Zusammenhang doch fortwährend Uner-
0166wartetes producirt, so auch, in noch viel höherem Grade,
0167das Finale. Es ist der längste und am stärksten durch-
0168gearbeitete Satz. Unter dieser, wie heiße Lava hinströmenden
0169Tonfluth wird man beim ersten Hören nur den kleinsten
0170Theil der darin steckenden modulatorischen und contrapunk-
0171tischen Kostbarkeiten wahrnehmen, welche bei näherer Be-
0172trachtung immer fesselnder hervortreten; aber die fast dra-
0173matische Leidenschaftlichkeit des Satzes reißt auch den unvor-
0174bereiteten Hörer mit fort. Bewunderungswürdig ist wieder
0175die einheitliche Stimmung, welche die ganze Sonate 
0176wie in einen goldenen Ring faßt. Jeder der vier
0177Sätze erzählt uns ja etwas Anderes, aber wir
0178empfinden die Vorgänge dennoch als zusammengehörig und
0179als untrennbar von der Persönlichkeit des Erzählers. Daß
0180die neue Violin-Sonate größer, leidenschaftlicher, reichhaltiger
0181ist, als die beiden ersten, wurde bereits gesagt; ich füge
0182hinzu, daß sie die Virtuosität der beiden Spieler mächtiger
0183aufruft, also concertmäßiger, glänzender wirkt. Was das
0184relative Werthverhältniß der drei Sonaten betrifft, so lassen
0185wir uns niemals gerne fragen, welches von drei verschiedenen
0186schönen Dingen das schönste sei? Die in ihrer anspruchs-
0187losen Freundlichkeit so anheimelnde zweite Sonate wird
0188sicherlich überragt von der dritten. Auch die erste in G-dur,
0189die sogenannte Regenlied-Sonate, ist viel einfacher und kürzer
0190als die neue; ob deßhalb geringer? Ich fühle zu parteiisch,
0191um das zu entscheiden. Mir ist die Regenlied-Sonate wie ein
0192lieber bewährter Freund, den ich für keinen Andern hergebe.
0193In ihrer weichen, nachdenklich träumenden Empfindung und
0194ihrer wundersam tröstenden Kraft steht sie ganz für sich allein
0195da. Sie wirkt auf uns ungefähr wie Goethe’s Gedicht „An
0196den Mond“ und ist uns so unvergleichbar und unersetzlich
0197wie die eigene Jugend, die ja wie aus dämmernder Ferne
0198uns daraus anblickt.


0199In Joachim’s erstem Concert erfreute uns auch noch be-
0200sonders ein Adagio von Spohr aus dessen fünftem Concert 
0201in G-dur. Ehedem mit Spohr überfüttert, hören wir seit
0202vielen Jahren beinahe nichts mehr von ihm. Um so trau-
0203licher berührt es uns, wenn jetzt seine warme, weiche Stimme
0204wieder einmal an unser Ohr schlägt. Violin-Virtuosen wie
0205Quartettvereine könnten mit Vortheil manches vergessene
0206schöne Stück von Spohr hervorziehen. Freilich durch eine
0207ungeschickte Wahl erweist man seinem Andenken wenig Ehre
0208und uns wenig Freude — wie z. B. mit dem C-dur-
0209Sextett, dessen redselige Ideenarmuth uns in Rosé’s letzter
0210Soirée ungeduldig machte, so vorzüglich es auch gespielt war.
0211In dem von Joachim gewählten Adagio quillt noch die edle,
0212blühende Sentimentalität des früheren Spohr. Der Vortrag
0213Joachim’s konnte dem besten Sänger zum Vorbild
0214dienen; als Muster, wie ein Recitativ ausdrucks-
0215voll zu phrasiren, eine Melodie schwärmerisch innig
0216und dabei schön und ruhig im Ton zu singen sei.
0217Joachim’s erstes Concert unterstützte blos das Opernorchester
0218unter H. Richter’s Leitung; im zweiten — auch nicht übel
0219— wirkten ausschließlich Joachim und Brahms. So
0220hörten wir denn die beiden Freunde wieder einen ganzen
0221Abend zusammenspielen, in demselben Saal, wo sie vor
022228 Jahren gemeinsam concertirt haben. Brahms spielte mit
0223Joachim die neue D-moll-Sonate, deren Adagio auf stür-
0224misches Begehren wiederholt werden mußte, dann vier der
0225schönsten „Ungarischen Tänze“ aus dem zweiten Heft. Außer-
0226dem gab uns Joachim eine dreisätzige Sonate von Tartini,
0227Beethoven’s F-dur-Romanze und eine fein empfundene
0228Romanze eigener Composition, schließlich noch (ohne Be-
0229gleitung) die „Chaconne“ und zwei Sätze aus der H-moll-
0230Suite von Bach. Und wie er das Alles vorträgt! So
0231klar und plastisch ohne pedantische Steifheit, seelenvoll ohne
0232krankhafte Sentimentalität, energisch ohne Gewaltthätigkeit.
0233Da klingt kein Accent zu schwach oder zu stark, keine Wendung
0234schneller oder langsamer, als der Componist es sich gedacht
0235haben mag. Von Joachim’s erstaunlicher Technik noch eigens
0236zu sprechen, haben wir uns lange entwöhnt. Dies ist mit
0237sein vornehmster und eigenster Ruhm. An Joachim kann
0238man erfahren, von Joachim lernen, was im höchsten Sinn
0239musikalischer Vortrag heißt.