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Neue Freie Presse
Morgenblatt
Nr. 8776. Wien, Dienstag, den 29. Januar 1889

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Concerte.


0002Ed. H. Das „Magnificat“ von Durante hat im
0003letzten Gesellschaftsconcert nicht so stark gewirkt, wie Bach’s 
0004Composition desselben Textes, die wir 1885, gleichfalls unter
0005Hanns Richter’s Leitung, zu hören bekamen. Trotzdem ge-
0006währt es uns eine besondere Genugthuung, daß der Dirigent
0007unseres Singvereins wieder einmal ein Stück aus der großen
0008italienischen Vocal-Periode gewählt hat. Das Wenige, was
0009in Wien an geistlichen Chorwerken geboten wird, beschränkt
0010sich — von Beethoven’s Festmesse abgesehen — eigentlich
0011auf Bach und Händel. Fast haben wir vergessen, daß vor
0012und neben der großen protestantisch-deutschen Schule, die durch
0013Schütz, Bach und Händel repräsentirt wird, eine große Periode
0014italienisch-katholischer Kirchenmusik geblüht hat, deren Spitzen
0015gleichfalls zu den unverlierbaren Schätzen der musikalischen Welt
0016gehören. Diese beiden in sich abgeschlossenen Kreise geistlicher
0017Musik dienen der religiösen Kunst mit gleicher Hingebung, doch
0018in ganz verschiedener Ausdrucksweise. Es ist ein anderes
0019Kunstideal, das jedem von ihnen vorschwebt. Für die pro-
0020testantischen Deutschen des 17. und 18. Jahrhunderts war
0021es vor Allem Tiefe und Innigkeit des Ausdrucks inmitten
0022höchster polyphoner Kunst, eine bis zur Härte gehende
0023Charakteristik und an Spitzfindigkeit grenzende Wortaus-
0024legung; die musikalische Schönheit hatte sich dem unter-
0025zuordnen. Die alten Italiener hingegen empfanden auch den
0026musikalischen Gottesdienst als untrennbar von klangschöner
0027Fülle und klarer Anschaulichkeit; ihnen stand die Charakteristik,
0028die Interpretation des einzelnen Wortes in zweiter Reihe.
0029Hören wir irgend einen Bach’schen Psalm nach einer ana-
0030logen Composition aus der großen italienischen Periode, so
0031wird uns ungefähr zu Muth, als betrachteten wir eine
0032Madonna von Rafael oder Tizian neben einem Marienbild
0033von Dürer oder Cranach. Der Goldglanz der Heiligkeit
0034verklärt sie beide, aber in der verschiedenen Beleuch-
0035tung eines norddeutschen und eines italienischen Himmels.
0036Der nationale, der religiöse, der musikalische Geschmack des 
0037Hörers wird sich mehr zu der einen oder der andern Kunst
0038hingezogen fühlen. Die Palme höchster Meisterschaft ruht un-
0039bestritten in den Händen Bach’s; demungeachtet besitzen die
0040großen italienischen Kirchencomponisten nicht minder leuch-
0041tende Vorzüge, die nur ihrer Nation eignen. Palestrina,
0042die größte Gestalt unter ihnen, berührt uns heute fremd,
0043fast unheimlich in seiner düsteren Majestät. Ungleich ver-
0044wandter fühlen wir uns den Meistern der neapolita-
0045nischen Schule, dem weicheren harmonischen Fluß, der
0046freier entwickelten Melodie ihrer Werke. Was wir Modernen
0047an ihnen vermissen, ist Individualität. Wir tragen unbe-
0048wußt so viel Musik der neapolitanischen Schule im Ohr —
0049Mozart und Haydn sind ja noch ihre Ausläufer — daß
0050Kirchenmusiken von Leo oder Durante, die wir niemals ge-
0051hört, uns trotzdem bekannt anklingen. Eine starke Familien-
0052Aehnlichkeit verknüpft obendrein die unübersehbar zahlreichen
0053Werke der neapolitanischen Schule. Durante’s „Magnificat“
0054gehört eigentlich in die Kirche und bedarf der Kirche zur vollen
0055Wirkung. Doch auch im Concert hat uns der edle Bau,
0056der bei aller Vornehmheit warme Ausdruck, die durchsichtige
0057und klangschöne Polyphonie dieser Tondichtung erfreut und
0058erbaut. Der Styl ist feierlich und glänzend, die Sangbarkeit
0059und zwanglose Führung der Stimmen eine Wohlthat für
0060Sänger und Hörer. Nach dieser erhebenden Tondichtung,
0061welche in der Schönheit der Religion zugleich die Religion
0062der Schönheit feiert, würde man nicht vermuthen, daß Fran-
0063cesco Durante im Leben ein abstoßend sarkastischer, ver-
0064bissener Mensch gewesen. So schildern ihn Zeitgenossen mit
0065dem Beifügen, daß keine der drei Frauen, mit denen er ver-
0066heiratet war, einen höflichen, umgänglichen Mann aus ihm
0067zu machen vermocht habe.


0068Ein anderes classisches Werk, das uns durch Ausgrabung
0069wieder zur Novität geworden, ist Haydn’s C-dur-Sym-
0070phonie mit dem Beinamen „L’ours“. Da Haydn mehr als
0071hundert Symphonien componirt hat, so befindet sich ein
0072Concertdirector derzeit nie in Verlegenheit, aus diesem reich-
0073haltigen Lager ein Stück herauszufinden, das uns neu oder
0074doch längst vergessen ist. Freilich dürften wir auch manche
0075unbekannte Symphonie von Haydn für bekannt grüßen.
0076Zu Haydn’s Zeit dachte man über den Charakter und die 
0077Aufgabe einer Symphonie ganz anders, als heute. In knapper
0078Form und für ein kleines Orchester componirt, gehörte die
0079Symphonie ehedem zur besseren Gesellschaftsmusik; sie
0080sollte unterhalten, erheitern, nur ganz vorübergehend,
0081dem Contraste zulieb, auch zur „Empfindsamkeit“ sprechen.
0082Man arbeitete nicht ein volles Jahr und länger an
0083einer Symphonie, sondern veröffentlichte gleich ein
0084ganzes oder ein halbes Dutzend auf einmal. Weniger
0085als sechs Symphonien pflegte keine Concertgesellschaft, kein
0086musikliebender Cavalier bei dem Meister zu bestellen. Die
0087Bärensymphonie“ gehört zu den sechs von Haydn für das
0088Pariser Concert spirituel im Jahre 1787 componirten. Ihr
0089großer Erfolg veranlaßte den Pariser Verleger Sieber, in
0090rascher Folge nicht weniger als 63 Symphonien von Haydn 
0091herauszugeben! Erzählt uns diese Notiz, diese trockene Ziffer,
0092nicht von einer andern, längst untergegangenen Welt? Die
0093Symphonien selbst sind uns glücklicherweise nicht untergegangen,
0094obwol wir eingestehen müssen, daß unser Zusammenhang
0095mit ihnen sich stark gelockert, unser Bedürfniß danach erheb-
0096lich nachgelassen hat. Ganz darf man diesen Zusammenhang
0097niemals verloren geben; schon die immer anspruchsvoller und
0098gewaltsamer auftretende Musik der Gegenwart und „Zukunft“
0099macht uns ein zeitweiliges Bad in der klaren Fluth Haydn’-
0100scher Symphonien erwünscht. Was die im Gesellschaftsconcert
0101gespielte betrifft, so haben auch wir großen Kinder drei Sätze
0102lang begierig auf das Erscheinen des „Bären“ gewartet, der
0103endlich im vierten Satz sich auf die Hinterbeine zu setzen
0104und uns anzubrummen geruht. Für dergleichen Musikwitze
0105zu schwärmen, dazu fehlt uns doch die genügsame Heiterkeit
0106und unverbrauchte Musikpassion unserer Urgroßeltern. . . .


0107Am selben Tage erlebte auch das Goldmark’sche
0108Violin-Concert, das wir zuerst vor zehn Jahren von Lauter-
0109bach gehört, eine Wiederholung. Herr Rosé hat es glocken-
0110rein, musikalisch schön und durchweg virtuos gespielt. Schade,
0111daß immer und überall ein wenig zur Vollkommenheit fehlt:
0112hier das lebendige und belebende Temperament. In der
0113Cantilene phrasirt Rosé zu wenig — was doch besonders
0114dem verschwommenen Adagio zu wünschen war — in den
0115Passagen fehlt ihm häufig die Energie der Rhythmik. Daß
0116trotzdem Rosé ein Meister seines Instrumentes ist — wer [2]
0117könnte es bezweifeln? Er hat es auch in der ausgezeichneten
0118Ausführung der Solobratsche in Berlioz’ „Childe Harold“
0119neuerdings bewiesen.


0120Ueber den Clavier-Virtuosen d’Albert, der uns mit
0121zwei Abendconcerten erfreut hat, läßt sich kaum etwas Neues
0122sagen. Es ist noch in unser Aller Erinnerung, wie unver-
0123gleichlich klar und plastisch, zugleich aber warm und schwung-
0124voll er vor zwei Jahren das B-dur-Concert von Brahms 
0125gespielt hat. Seine Kunst führte er diesmal wieder in den
0126verschiedensten Aufgaben glänzend ins Feld. d’Albert legt
0127gar nichts auf den Effect an und macht vielleicht eben
0128darum einen so großen. Der Eindruck, den er in seinen
0129beiden Concerten hinterließ, war ein vollauf befriedi-
0130gender, ein befreiender möchten wir sagen, wie ihn eben nur
0131ein ausgereifter, harmonisch abgeschlossener Künstler hervor-
0132bringen kann. Im ersten Concert entfesselte sein Vortrag der
0133H-moll-Sonate von Chopin den stürmischesten Beifall. Am
0134zweiten Abend gab er mit zwei Beethoven’schen Sonaten,
0135dann mit Stücken von Brahms, Chopin, Grieg und Liszt 
0136Leistungen ersten Ranges und fesselte stets von neuem durch
0137seine ernste Kunst, seine unvergleichliche Technik, überdies
0138durch die schöne Bescheidenheit, die ihn als Menschen wie
0139als Künstler auszeichnet.


0140Im fünften Philharmonischen Concert hat Frau
0141Essipoff ein noch ungedrucktes Clavierconcert von Pa-
0142derewski
mit siegreicher Bravour und feinstem Geschmack
0143vorgetragen. Wenn ein junger Componist, wie Herr Pa-
0144derewski, so begünstigt ist, sogar für seine Manuscripte
0145Interpreten vom Range der Essipoff zu finden, so darf man
0146ihm wol gratuliren. Herr Paderewski hat rasch Carrière
0147gemacht, als Virtuose wie als Componist. Letzteres pflegt
0148sonst länger zu währen. In der Regel muß ein junger
0149Claviercomponist seine Sachen lange Zeit hindurch selbst
0150spielen, bevor auch andere Virtuosen davon Notiz nehmen.
0151Compositionen von Paderewski hatten wir aber schon von ver-
0152schiedenen Pianisten gehört, ehe wir den Autor selbst zu
0153Gesicht bekamen. Mehrere seiner Clavierstücke erfreuen sich
0154breits ansehnlicher Verbreitung und Beliebtheit, insbesondere
0155ein Menuett in G-dur, an dem wir nur aussetzen möchten, 
0156daß es mehr Mazurka als Menuett ist. Die Compositionen
0157Paderewski’s, häufig an Chopin, auch an Rubinstein 
0158anklingend, sind vorwiegend pikant und graziös.
0159Paderewski weiß manches unbedeutendere Thema vortheilhaft
0160zu heben durch geschickte Contrapunktirung, gesangvolle Mittel-
0161stimmen und ungewöhnliche, oft nur allzu raffinirte Harmo-
0162nisirung. Das von Frau Essipoff gespielte Concert ist wol
0163ein erster Versuch in größeren symphonischen Formen; es
0164enthält hübsche, originelle Einzelheiten neben vielem Ge-
0165suchten und Bizarren. Unmittelbar nach der Formschönheit
0166und der gemüthvollen, edlen Natürlichkeit von Robert Fuchs’
0167D-dur-Serenade schmeckte das Paderewski’sche Concert dop-
0168pelt verpfeffert und verwürzt. Der erste Satz hat am meisten
0169musikalische Logik und vornehme Haltung. Das Andante be-
0170ginnt stimmungsvoll, ermüdet aber durch den monotonen
0171Sechsachtel-Rhythmus, in welchem das Clavier die Orchester-
0172Melodie accordisch begleitet. Im Finale verläßt den Com-
0173ponisten die polnische Grazie, er überspringt plötzlich ins
0174Wildrussische, wird Tschaikowskisch und büßt von unserer an-
0175fänglichen Theilnahme ein, anstatt sie zu steigern und zu befestigen.
0176Als einen besonderen Vorzug, der sich eigentlich von selbst
0177verstehen sollte, rühmen wir die eminent claviermäßige Be-
0178handlung der Solopartie. Es liegt da Alles so gut in der
0179Hand, daß man sagen möchte, das Concert klinge schwieriger,
0180als es wirklich ist. Jede der Passagen macht Effect, klingt
0181brillant und ungezwungen, im Gegensatze zu machen neueren
0182Concertstücken, deren nicht recht claviermäßige Technik ein weit
0183mühsameres Studium erfordert, ohne sich durch die gleiche
0184Wirkung belohnt zu sehen. Herr Paderewski hat auch bei
0185Bösendorfer ein eigenes Concert gegeben und sich trotz Frau
0186Essipoff als glänzender und geschmackvoller Pianist bewährt. 
0187Er spielte Beethoven, Chopin, Brahms, Liszt und — mit
0188lobenswerther Bescheidenheit — ein einziges Stück von
0189Paderewski.


0190Man hört bekanntlich viel mehr und besser Clavier-
0191spielen als Singen, ist somit gegen virtuose Pianisten gleich-
0192giltiger geworden, als gegen Gesangskünstler, welche eine
0193durchgebildete Technik mit poetischer Auffassung und seelen-
0194vollem Ausdruck verbinden. So fand denn auch der Kammer-
0195sänger Walter am vorigen Samstag ein besonders zahl-
0196reiches Auditorium vor, das mit freudiger Erwartung seinem
0197Vortrage Brahms’scher Lieder entgegensah. Ueber diese neue-
0198sten Gesänge von Brahms (Op. 105, 106, 107), von wel-
0199chen Walter sieben vortrug, haben wir bereits Gesagtes nicht
0200zu wiederholen, ebensowenig über Walter’s Gesang, es
0201wäre denn, daß dieser so künstlerisch abgerundet, so herzlich
0202warm, so poetisch eindringend klang, wie nur je zuvor. Die
0203größte Wirkung erzielte Walter abermals mit den vom vori-
0204gen Winter her bekannten Liedern: „Ständchen“, „Wie Me-
0205lodien“ und „Das Mädchen spricht“, dann mit den zum ersten-
0206male gesungenen: „Auf dem See“ und „Immer leiser wird mein
0207Schlummer“. Am Clavier begleitete diese Gesänge ganz
0208vortrefflich Herr Rottenberg, der auch als Componist
0209zweier feinempfundener Lieder den Dank des Publicums ern-
0210tete. Den schönsten Abschluß dieses so genußreichen Abends
0211machten die vierstimmigen „Zigeunerlieder“ von Brahms,
0212gesungen von Frau Caroline v. Gomperz-Bettel-
0213heim
, Fräulein Minna Walter, den Herren Walter 
0214und Weiglein. Alle Nummern dieses reizvollen, sehr
0215frisch vorgetragenen Cyklus wurden applaudirt, mehrere zur
0216Wiederholung verlangt, Sänger und Componist am Schlusse
0217stürmisch gerufen. Es ist kein lohnendes Unternehmen, die
0218Pausen zwischen Gesangsstücken, welche die ganze Neugierde
0219des Publicums absorbiren, mit Clavierspiel auszufüllen. Fräu-
0220lein Paula Dürnberger hat auch diesmal im Schatten
0221von Brahms und Walter diese Aufgabe ebenso tüchtig wie
0222anspruchslos gelöst. Sie gab uns das B-dur-Impromptu von
0223Schubert, hierauf eine Rubinstein’sche Barcarole, in
0224welcher viel Wasser geräuschvoll verspritzt wird, endlich einen
0225Valse Caprice“ von Liszt. Heinrich Heine würde darin
0226mit seinem wunderbaren „Klangbilder-Talent“ vielleicht eine
0227blasirte Stiftsdame geschaut haben, die eine Katze auf dem
0228Schoß und eine Spieluhr vor sich hat. Die Spieluhr bleibt
0229plötzlich mit ihrem Walzer stecken, worauf die Katze ihre
0230Herrin erst zu streicheln, dann furchtbar zu kratzen beginnt,
0231bis mit einem Ruck wieder der Walzer in der Spieldose
0232losgeht und die Katze ihrerseits Ruhe gibt. Eine recht schöne
0233Unterhaltung.

[3]


0234Symphonie von Mozart in D-dur“ — verkündete das
0235jüngste Programm der Philharmoniker als erste Nummer.
0236Unter den Mozart’schen Symphonien — 49 an der Zahl
0237— stehen aber nicht weniger als dreizehn in D-dur!
0238Wieder ein Ausblick in jene uns fremd, fast unverständlich
0239gewordene Periode musikalischen Schaffens, an die eben zuvor
0240L’ours“ von Haydn uns erinnert hatte. Blos in D-dur
0241dreizehn Mozart’sche Symphonien! Im Philharmonischen
0242Concert war es die oft gehörte dreisätzige aus dem Jahre
02431786 (Nr. 504 in Köchel’s Katalog), eines der reifsten und
0244anmuthigsten Meisterwerke Mozart’s. Im ersten Allegro
0245grüßen uns flüchtig wohlbekannte Motive: Vorausklänge aus
0246den Ouvertüren zu „Don Juan“ und zur „Zauberflöte“.
0247Sie lebten bereits versteckt in Mozart’s Phantasie und kamen,
0248dem Meister unbewußt, in seine Symphonie geschlichen.


0249Als Novität erschien eine Ouvertüre zu Shakespeare’s
0250Was ihr wollt“ von A. C. Mackenzie, demselben englischen
0251Componisten, von dem Hanns Richter uns bereits eine effect-
0252voll colorirte „Schottische Rhapsodie“ und ein gründlich ein-
0253schläferndes Violinconcert vorgeführt hat. In seiner Ouver-
0254türe hält sich Mackenzie fast ausschließlich an die komischen
0255Elemente des Shakespeare’schen Lustspiels: Malvolio und
0256Junker Tobias sind dabei Pathe gestanden. Der eitle, auf-
0257geblasene Haushofmeister erscheint „in gelben Strümpfen und
0258kreuzweis gebundenen Kniegürteln“ gleich anfangs in der
0259langsamen Einleitung: ein gravitätisches Fagottsolo, das, um
0260witzig zu bleiben, weniger lang dauern dürfte. Man könnte
0261davon mit Malvolio sagen: „Es macht einige Stockung im
0262Blute, dies Binden der Kniegürtel.“ Malvolio wäre in
0263dieser Fagott-Parodie leicht zu erkennen, auch ohne die aus-
0264drückliche Erklärung in der Partitur. Andere feinere
0265Beziehungen würde man hingegen kaum aus der Musik
0266herausfinden, gäbe die Partitur nicht gewissenhaft bei vielen
0267Stellen die Scene und das betreffende Stichwort an, welche
0268da illustrirt werden. Das zweite Thema in F-dur kann,
0269als das einzige sentimentale in dem Stücke, freilich nur ein
0270Liebesverhältniß bedeuten. Der Partitur zufolge ist es die
0271Leidenschaft des Herzogs zu Olivia; es könnte ebenso gut die
0272Neigung Olivia’s für Sebastian sein, oder der Viola für 
0273den Herzog — wir wären mit Allem einverstanden, steckte
0274nur in der Melodie selbst mehr Leidenschaft und Süßigkeit.
0275Das Allegro gehört zum größten Theil den beiden komischen
0276Junkern Tobias und Christoph. Wir durften erwarten, daß
0277der Canon „Halt’s Maul, du Schuft!“ den sie in der
0278classischen Trinkscene anstimmen, hier nicht fehlen würde;
0279welch’ herrliche Gelegenheit für den Componisten, einen volks-
0280thümlichen, herzhaft lustigen Ton anzuschlagen! Aber nichts
0281von alledem. Obwol Mackenzie die Stelle ausdrücklich citirt:
0282„Sollen wir die Nachteule mit einem Canon aufstören?“,
0283bringt er keinen solchen; dafür später zu Malvolio’s Worten:
0284„Niemals hat man Jemandem so abscheulich mitgespielt“
0285einen durch vier Stimmen fugirten Satz, welcher viel Gelehr-
0286samkeit, aber keine Spur von Humor verräth. Natürliche
0287Laune und Fröhlichkeit, überhaupt Natur ist’s, was wir am
0288meisten vermissen in dieser Composition. Jede Lortzing’sche
0289Ouvertüre gäbe eine passendere Einleitung zu „Was ihr wollt“,
0290als dieses schwerfällige, verkünstelte und unmäßig gedehnte
0291Orchesterstück. Große Gewandtheit ist Mackenzie ja nicht ab-
0292zusprechen, sowol in contrapunktischer Kunst wie in der Instru-
0293mentirung. Auch die Verletzungen der musikalischen Logik
0294durch häufiges Zerreißen des Zusammenhanges und ganz un-
0295motivirte Einschiebsel deuten mehr auf ein Nichtwollen,
0296als auf ein Nichtkönnen des Componisten. Der Ehrgeiz,
0297genial und großartig zu erscheinen, wo es doch nur
0298gilt, frisch und fröhlich zu sein, dazu der Einfluß von Berlioz 
0299und Wagner (unter welchem allerdings der den englischen
0300Componisten gemeinsame Untergrund, Mendelssohn, durch-
0301schimmert), hemmt Mackenzie auf Schritt und Tritt, eine
0302echte, rechte Lustspiel-Ouvertüre zu schaffen. Nein, das ist
0303nicht das vielgerühmte „Merry old England“, es ist das
0304heutige ernsthafte, gelehrte, maßleidige England, dessen zäher
0305Fleiß und Ehrgeiz sich auf die Musik verschlagen hat. Ueber
0306das Niveau von Mackenzie’s „Was ihr wollt“ scheinen die
0307Resultate dieses Bestrebens bis heute nicht merklich zu reichen.
0308Mackenzie’s Ouvertüre fand eine sehr kühle Aufnahme. Hat
0309ihre Frage an das Wiener Publicum wirklich „Was ihr
0310wollt?“ gelautet, so hieß die Antwort unzweideutig: Etwas
0311Anderes!